Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4C.189/2002
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4C.189/2002 /rnd

Urteil vom 27. September 2002

I. Zivilabteilung

Bundesrichterinnen und Bundesrichter Walter, Präsident,
Klett, Rottenberg Liatowitsch,
Gerichtsschreiberin Charif Feller.

X. ________ AG,
Beklagte und Berufungsklägerin, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Jörg Wälti,
Hertensteinstrasse 12, Postfach 6408,
6000 Luzern 6,

gegen

A.________,
Kläger und Berufungsbeklagten, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno
Häfliger, Postfach, 6000 Luzern 5.

Arbeitsvertrag; Kündigung; culpa in contrahendo,

Berufung gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern, I. Kammer, vom
15. April 2002.

Sachverhalt:

A.
A. ________ (Kläger) arbeitete seit dem 4. Februar 1999 auf Grund eines
mündlichen Arbeitsvertrages als Küchenchef bei der X.________ AG (Beklagte).
Mit Schreiben vom 29. April 1999 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis
auf den 31. Mai 1999. Der Kläger war vom 3. Mai bis 14. Juni 1999 zu 100%,
vom 14. Juni bis 1. September 1999 zu 50% und seit dem 1. September 1999 zu
100% arbeitsunfähig. Wegen der vor Ablauf der Kündigungsfrist eingetretenen
krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Beklagten verlängerte sich das
Arbeitsverhältnis bis zum 30. Juni 1999. Mit Schreiben vom 12. Juni 1999 und
vom 22. Juni 1999 stellte der Kläger der Beklagten seine Arbeitskraft zur
Verfügung; diese verzichtete darauf. Am 29. Oktober 1999 wurde dem Kläger der
Verdacht auf Morbus Alzheimer mitgeteilt und am 17. April 2000 wurde ihm eine
ganze IV-Rente zugesprochen.

B.
Mit Klage vom 22. August 2000 beim Amtsgericht Luzern-Land beantragte der
Kläger, die Beklagte sei zu verpflichten, ihm Fr. 79'984.50, nebst Zins, zu
bezahlen. Sie habe es unterlassen, für ihn eine Krankentaggeldversicherung
abzuschliessen, und müsse die dafür im Landes-Gesamtarbeitsvertrag des
Gastgewerbes (L-GAV 98) vorgeschriebenen Leistungen erbringen.

Mit Urteil vom 11. Mai 2001 hiess das Amtsgericht Luzern-Land die Klage im
Umfang von Fr. 79'570.40, nebst Zins, gut.

Die Beklagte appellierte an das Obergericht des Kantons Luzern, welches am
15. April 2002 das erstinstanzliche Urteil bestätigte.

C.
Die Beklagte hat gegen das kantonale Urteil Berufung eingelegt. Sie beantragt
dem Bundesgericht, es seien das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die
Klage abzuweisen.

Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung und Bestätigung des
angefochtenen Urteils.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Beklagte behauptet, der Kläger sei im Zeitpunkt des
Vertragsabschlusses schon längst mehrfach und umfassend über seine
gesundheitliche Situation orientiert worden. Er habe schon vor dem
Vertragsabschluss gewusst, dass seine Gesundheitsstörung schwerwiegend
gewesen sei. Der Kläger habe gegen Treu und Glauben verstossen, indem er
gegenüber seiner (künftigen) Arbeitgeberin die ihm obliegende Aufklärungs-
und Informationspflicht über seinen Gesundheitszustand absichtlich oder
zumindest fahrlässig verletzt habe. Dadurch sei es zum Abschluss des
Arbeitsvertrages gekommen. Es liege eine culpa in contrahendo vor. Aus dem
treuwidrig erlangten Arbeitsvertrag stünden dem Kläger keine Ansprüche zu.
Die Vorinstanz habe zu Unrecht das Verschweigen des Klägers als nicht
schuldhaft betrachtet und damit eine Tatsache unrichtig gewürdigt, was als
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 43 Abs. 4 OR anzusehen sei.

1.2 Die Vorinstanz hielt fest, objektiv betrachtet sei der Kläger im
Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht mehr in der Lage gewesen, den Betrieb
einer Küche zu leiten und damit als Küchenchef zu arbeiten. Hingegen sei es
nicht genügend erwiesen, dass der Kläger damals subjektiv die Schwere seiner
Krankheit und insbesondere seine Unfähigkeit, als Küchenchef zu arbeiten,
realisiert habe oder habe realisieren müssen. Zwar habe er eingestanden,
bereits gewisse gesundheitliche Anstände bemerkt zu haben. Zudem sei das in
den Jahren 1997 und 1998 von seinem Arzt unterbreitete Angebot, ihm zur
Erlangung einer IV-Rente eine volle Arbeitsunfähigkeit zu bescheinigen, ein
klarer Hinweis auf eine schwerwiegende Gesundheitsstörung gewesen. Anderseits
habe der Arzt den Kläger nicht für jegliche Arbeit in einer Küche für unfähig
erachtet und mit ihm gewisse Strategien zur Leistungsverbesserung besprochen,
was der Kläger als Ermunterung zu weiterer Arbeitstätigkeit in seiner
bisherigen Funktion habe empfinden können. Es sei für ihn nicht beurteilbar
gewesen, in welchem Mass die - gerade in der ersten Hälfte des Jahres 1999
erheblichen und akuten - körperlichen Beschwerden und die
Hirnfunktionsstörungen seine Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen könnten. Der
Verdacht, dass er unter Morbus Alzheimer leide, sei ihm erst am 29. Oktober
1999 mitgeteilt worden. Die Auswirkungen dieser Krankheit seien auch
medizinischen Laien weitgehend bekannt, was beim Oberbegriff
"Hirnfunktionsstörungen" nicht der Fall sei; die Erkrankung an Morbus
Alzheimer werde daher als gravierender eingestuft als "blosse"
Hirnfunktionsstörungen. Menschen mit derartigen Störungen seien je nach deren
Grad nicht oder nur beschränkt in der Lage, ihre gesundheitliche Situation
richtig zu beurteilen. Es lasse sich daher nicht mit genügender
Wahrscheinlichkeit annehmen, der Kläger habe im Februar 1999 seine
Unfähigkeit, die Arbeit als Küchenchef zu leisten, gekannt oder kennen
müssen.

1.3 Die Haftung aus culpa in contrahendo beruht auf der Überlegung, dass die
Parteien sich während der Vertragsverhandlungen nach Treu und Glauben zu
verhalten haben. Mit dem Eintreten in Verhandlungen ergeben sich zwangsläufig
gegenseitige Verpflichtungen (BGE 121 III 350 E. 6c S. 354 mit Hinweisen).
Dazu gehört insbesondere, dass die Parteien einander in gewissem Masse über
Tatsachen unterrichten, die den Entscheid der Gegenpartei über den
Vertragsschluss oder dessen Bedingungen beeinflussen können (BGE 105 II 75 E.
2a    S. 79).

Auch die Treuepflicht gebietet dem Arbeitnehmer, die berechtigten Interessen
des Arbeitgebers zu wahren (Art. 321a Abs. 1 OR). Daraus ergeben sich bereits
für die Vertragsverhandlungen gewisse Mitteilungspflichten des Arbeitnehmers,
da der Arbeitgeber an möglichst umfassender Information über den Bewerber
interessiert ist. Der Grad der Mitteilungspflicht richtet sich namentlich
nach der vorgesehenen Stellung im Betrieb; je verantwortungsvoller die
Stellung ist, desto umfassender ist die Mitteilungspflicht. Unabhängig von
der zu besetzenden Stelle gilt, dass der Arbeitnehmer alles von sich aus
offenbaren muss, was ihn zur Übernahme der Stelle als ungeeignet erscheinen
lässt. So besteht eine Mitteilungspflicht etwa dann, wenn der Arbeitnehmer
die fragliche Arbeitsleistung mangels entsprechender Fähigkeiten überhaupt
nicht erbringen kann (fehlende Ausbildung oder Berufspraxis), wenn er zur
Arbeitsleistung infolge chronischer Leiden, schwerer oder ansteckender
Krankheit nicht imstande ist oder wenn feststeht, dass er bei Dienstantritt
aller Voraussicht nach krank oder zur Kur sein wird (Rehbinder, Berner
Kommentar, N. 32 zu Art. 320 OR; Streiff/von Kaenel, Leitfaden zum
Arbeitsvertragsrecht, 5. Aufl., Zürich 1992, N. 10 zu Art. 320 OR;
Brunner/Bühler/Waeber, Kommentar zum Arbeitsvertrag, N. 8 zu Art. 320 OR).
Ein Arbeitnehmer hat  jedoch selbst eine Schwerbehinderteneigenschaft nur
dann von sich aus mitzuteilen, wenn die Arbeitsleistung wegen der Behinderung
unmöglich ist (Rehbinder, a.a.O., N. 32 zu Art. 320 OR).

1.4 Feststellungen über den Wissensstand einer Person bei Vertragsabschluss,
beispielsweise über ihr Befinden, sind tatsächlicher Natur (BGE 128 III 212
E. 2c S. 216), und das Bundesgericht ist im Berufungsverfahren daran gebunden
(Art. 63 Abs. 2 OG). Die Vorinstanz hat festgestellt, es sei nicht genügend
erwiesen, dass der Kläger bei seiner Anstellung im Februar 1999 subjektiv die
Schwere seiner Krankheit und insbesondere seine Unfähigkeit, als Küchenchef
zu arbeiten, realisiert hatte oder hätte realisieren müssen. Dieser Schluss
beruht einerseits auf Beweiswürdigung, andererseits auf der Annahme, die
Auswirkungen von Morbus Alzheimer seien medizinischen Laien weitgehend
bekannt, sodass diese Erkrankung gravierender eingestuft werde als
Hirnfunktionsstörungen, welche ihrerseits den Betroffenen nicht oder nur
beschränkt ermöglichen würden, ihren Gesundheitszustand richtig
einzuschätzen. Diese - nicht bestrittene - hypothetische Annahme der
Vorinstanz ist Teil der Beweiswürdigung (vgl. BGE 123 III 241 E. 3a; 122 III
61 E. 2c/bb S. 65; 117 II 256 E. 2b S. 258, je mit Hinweisen).

Soweit die Beklagte  eine andere Wertung der von der Vorinstanz gewürdigten
Beweise fordert, dabei zum gegenteiligen Schluss gelangt und von einer auch
für den Kläger subjektiv erkennbaren vollständigen Arbeitsunfähigkeit im
Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ausgeht, übt sie unzulässig Kritik an der
Beweiswürdigung. Dies gilt auch hinsichtlich der Ausführungen der Vorinstanz
zum Umstand, dass der Kläger nach Erhalt der Kündigung voll arbeitsunfähig
geschrieben wurde. Folglich hat der Kläger seine Mitteilungspflicht in Bezug
auf seine - bei der Anstellung noch nicht diagnostizierte - schwerwiegende
Krankheit nicht verletzt.

Was die "blossen" Hirnfunktionsstörungen betrifft, billigte die Vorinstanz
dem Kläger zu, dass er diese nicht richtig habe deuten können. Dafür spricht,
dass er der Meinung war, er könne noch voll arbeiten, und dass er vorwiegend
unter Rückenbeschwerden und Arthrose litt. Der Arzt erachtete ihn ausserdem
nicht für jegliche Arbeit in einer Küche unfähig und besprach mit ihm gewisse
Strategien zur Leistungsverbesserung.

Unter diesen Umständen liegt weder eine absichtliche noch eine fahrlässige
(vgl. BGE 105 II 75 E. 2a S. 80) Unterlassung einer Aufklärungspflicht vor.

1.5 Im Übrigen hat die Vorinstanz zu Recht darauf hingewiesen, dass der
Kläger ohne weitere Prüfungen und Erkundigungen eingestellt worden war, was
zur Folge hatte, dass der Beklagten die häufigen Stellenwechsel bzw. die
Arbeitslosigkeit des Klägers in den vergangenen Jahren nicht aufgefallen
sind. In der Tat verpflichtet der Grundsatz von Treu und Glauben eine Partei
nicht, bei Vertragsverhandlungen auf Umstände aufmerksam zu machen, von denen
die Gegenpartei sich selber Kenntnis verschaffen kann (Urteil des
Bundesgerichts P 1314/81 vom 6. Oktober 1981, E. 3b mit Hinweisen, JAR 1983
S. 77; vgl. BGE 102 II 81 E. 2 S. 84).

2.
Aus der vorstehenden Erwägung ergibt sich, dass der Kläger den Arbeitsvertrag
nicht - wie von der Beklagten behauptet - treuwidrig erlangt hat. Somit steht
ihm die sich auf Art. 23 Abs. 4 L-GAV 98 stützende Leistung zu, die weder im
Grundsatz noch im Betrag (inklusive Zinsen) von der Beklagten beanstandet
wird.

3.
Die Berufung erweist sich als unbegründet. Das Urteil des Obergerichts des
Kantons Luzern wird bestätigt. Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist die
Gerichtsgebühr der Beklagten aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG), die den
Kläger für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen hat (Art. 159
Abs. 1 und 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons
Luzern, I. Kammer, vom 15. April 2002 bestätigt.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'500.-- wird der Beklagten auferlegt.

3.
Die Beklagte hat den Kläger für das bundesgerichtliche Verfahren mit

Fr. 4'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern,
I. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. September 2002

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: