Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4C.103/2002
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4C.103/2002 /rnd

Urteil vom 16. Juli 2002

I. Zivilabteilung

Bundesrichterin und Bundesrichter Walter, Präsident,
Rottenberg Liatowitsch, Nyffeler
Gerichtsschreiberin Schoder.

X. ________ AG,
Beklagte und Berufungsklägerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Daniel
Fässler, Unterer Graben 1, 9001 St. Gallen,

gegen

A.________,
Kläger und Berufungsbeklagten, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Toni Fischer,
Dorfstrasse 94, 8706 Meilen.

Haftung des Werkeigentümers; Genugtuung,

Berufung gegen das Urteil des Obergerichts von Appenzell A.Rh., 2. Abteilung,
vom 25. September 2001.

Sachverhalt:

A.
A. ________  erlitt am 20. Oktober 1993 einen Unfall, als er auf dem Dach
eines Neubaus in Y.________  Schreiner-Montagearbeiten ausführte. Als er sich
vom Dachvorsprung auf ein Brett des ca. 90cm darunter liegenden obersten
Gerüstgangs begab, brach das Brett unter seinem Gewicht ein. A.________
stürzte ca. 4m in die Tiefe und brach sich einen Lendenwirbel. Seither leidet
er an einer kompletten Paraplegie sub Th 12 und einer neurogenen Blasen-,
Darm- und Sexualfunktionsstörung. Die Diagnose lautet auf primäre Paraplegie
bei Berstungsfraktur Th 12 mit massiver Einengung des Spinalkanals.
A.________  wurde vom 20. - 27. Oktober 1993 in der Klinik für Orthopädische
Chirurgie und anschliessend bis zum 31. März 1994 im Paraplegikerzentrum
Nottwil behandelt. A.________  ist seither an den Rollstuhl gebunden.

Vom 1. Mai 1996 bis zum 30. April 1998 wurde A.________  in der Firma
Z.________ AG, zum technischen Sachbearbeiter im Bereich Arbeitsvorbereitung,
Verkaufsinnendienst und Verkaufsunterstützung umgeschult. Seit dem 1. Mai
1998 arbeitet er in dieser Funktion zu 50% bei einem monatlichen Bruttolohn
von Fr. 2'250.--.

Ein von der EMPA erstelltes Gutachten ergab, dass das eingebrochene
Gerüstbrett den Qualitätsvorschriften nicht entsprach.

B.
A.________  klagte im Februar 1999 gegen die X.________ AG auf Bezahlung von
Genugtuung im Betrag von Fr. 120'000.-- nebst Zins zu 5% seit dem 21. Oktober
1993. Das Kantonsgericht von Appenzell A.Rh. schützte die Klage mit Urteil
vom 23. Oktober 2000. Gleich entschied das Obergericht des Kantons Appenzell
A.Rh. am 25. September 2001.

C.
Die Beklagte hat das Urteil des Obergerichts sowohl mit staatsrechtlicher
Beschwerde als auch mit Berufung beim Bundesgericht angefochten. Mit Berufung
beantragt sie die Aufhebung des Urteils des Obergerichts und die
vollumfängliche Abweisung der Klage, eventuell die Festsetzung der
Genugtuungsforderung auf maximal Fr. 50'000.--. Subeventuell sei die Sache
zur Beweisergänzung und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Der Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung und Bestätigung des
angefochtenen Urteils.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach Art. 55 Abs. 1 lit. c OG ist in der Berufungsschrift kurz darzulegen,
welche Bundesrechtssätze der angefochtene Entscheid verletzt und inwiefern er
gegen sie verstösst. Eine rechtsgenügliche Begründung setzt zwar nicht
voraus, dass die einzelnen Gesetzesartikel, die der Entscheid verletzt haben
soll, ausdrücklich genannt werden. Unerlässlich ist aber, dass sich der
Berufungskläger mit den Erwägungen der Vorinstanz auseinander setzt und
dartut, worin eine Verletzung von Bundesrecht liegen soll (BGE 121 III 397 E.
2a S. 400, mit Hinweisen).

Unzulässig sind Rügen, die sich gegen die tatsächlichen Feststellungen und
gegen die Beweiswürdigung der Vorinstanz richten (BGE 126 III 59 E. 2a S. 65,
mit Hinweisen), es sei denn, es werde der Vorinstanz zugleich ein
offensichtliches Versehen, eine Verletzung bundesrechtlicher
Beweisvorschriften (Art. 63 Abs. 2 OG) oder eine unvollständige Ermittlung
des Sachverhalts vorgeworfen (Art. 64 OG). Wer sich auf solche Ausnahmen von
der Bindung des Bundesgerichts an die tatsächlichen Feststellungen der
letzten kantonalen Instanz beruft und den Sachverhalt gestützt darauf
berichtigt oder ergänzt wissen will, hat darüber genaue Angaben mit
Aktenhinweisen zu machen (Art. 55 Abs. 1 lit. d OG; BGE 115 II 484 E. 2a S.
485).

2.
Die Beklagte bringt vor, sie sei mit den tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz nicht einverstanden. In der Berufungsschrift schildert sie den
Sachverhalt, indem sie den Inhalt ihrer kantonalen Rechtsschriften
wiederholt. Die Berufungsschrift stimmt überdies weitgehend wörtlich mit der
Beschwerdeschrift überein. Substanziierte Rügen im Sinne von Art. 63 Abs 2 OG
oder Art. 64 OG trägt die Beklagte nicht vor. Auf die Sachverhaltsrügen ist
somit nicht einzutreten.

3.
Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz hat sich der Kläger
vorsichtig auf das Gerüstbrett hinuntergleiten lassen; dieses hat jedoch der
bestimmungsgemässen Verwendung nicht standgehalten. Die Vorinstanz geht somit
von einem positiven Beweisergebnis aus. Die tatsächlichen Behauptungen der
Beklagten gelten als widerlegt und die Rüge, die Vorinstanz habe der
Beklagten in Verletzung von Art. 8 ZGB die Beweislast für das behauptete
unsorgfältige Hinabsteigen des Klägers auf das Gerüstbrett auferlegt, ist
gegenstandslos (BGE 119 II 114 E. 4c S. 117, mit Hinweisen). Auf die Rüge ist
daher nicht einzutreten.

Selbst wenn die Vorinstanz in der Frage, wie der Kläger auf das Gerüstbrett
gelangt war, von Beweislosigkeit ausgehen würde, wäre die Rüge der falschen
Beweislastverteilung unbegründet. Die Vorinstanz durfte gestützt auf das
EMPA-Gutachten die Mangelhaftigkeit des Gerüstbretts annehmen. Als
anspruchshindernde Tatsache wäre die bestimmungswidrige Benützung des
Gerüstbretts alsdann vom Haftpflichtigen zu beweisen gewesen. Der Beklagte
hätte deshalb rechtsgenüglich dartun müssen, dass sich der Unfall nicht wegen
des Mangels, sondern wegen des bestimmungswidrigen Gebrauchs ereignete. Von
einer Verletzung der Beweislastverteilung (Art. 8 ZGB) kann deshalb nicht die
Rede sein.

Auch wäre entgegen der Auffassung der Klägerin der aus Art. 8 ZGB fliessende
Beweisführungsanspruch nicht verletzt. Diese Bestimmung räumt der
beweispflichtigen Partei das Recht ein, mit form- und fristgerecht
angetragenen Beweisen zur Beweisführung zugelassen zu werden. Zulässig ist
eine Beweisverweigerung hingegen für rechtsunerhebliche Sachvorbringen (BGE
114 II 289 E. 2 S. 291). Im Rahmen ihres Gutachterauftrags wurde der EMPA die
Frage vorgelegt, ob auf ein Selbstverschulden des Klägers geschlossen werden
könne, weil dieser allenfalls auf das Gerüstbrett gesprungen sei. Die EMPA
verneinte diese Frage. Angesichts dieses Befundes erscheint die beantragte
Zusatzfrage der Beklagten, ob das Gerüstbrett selbst bei vorsichtigem Abstieg
des Klägers gebrochen wäre, als rechtsunerheblich.

Schliesslich legt die Beklagte in der Berufungsschrift nicht dar, welche
prozesskonform offerierten Beweismittel zur Behauptung, der Kläger könne
wieder Motorrad- und Skifahren, nicht abgenommen worden sind, weshalb ein
Urteil über deren Tauglichkeit nicht möglich ist. Die Rüge ist diesbezüglich
unzureichend begründet und daher ist nicht darauf einzutreten.

4.
In der Berufungsschrift wiederholt die Beklagte ihre vor Obergericht
vertretenen Rechtsstandpunkte. Danach sei das Baugerüst mit dem Boden fest
verbunden gewesen und dessen Bestandteil geworden. Deshalb sei nicht sie,
sondern die Grundeigentümerin für den Werkmangel haftbar. Ausserdem sei dem
geborstenen Brett keine Werkqualität zugekommen.

Die Beklagte geht jedoch mit keinem Wort auf die Erwägungen der Vorinstanz
ein. Da die Beklagte ihrer Begründungsobliegenheit nicht nachkommt, ist auf
die Berufung in diesem Punkt nicht einzutreten.

Im Übrigen hält das angefochtene Urteil vor Bundesrecht stand. Gemäss Art. 58
Abs. 1 OR hat der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werks den
Schaden zu ersetzen, der infolge fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder
mangelhafter Unterhaltung des Werks entsteht. Da das Werk begriffsmässig mit
dem Boden fest verbunden sein muss, haftet nach dem Wortlaut des Art. 58 Abs.
1 OR in der Regel der Eigentümer des Grundstücks, auf dem es steht. Der
haftende Werkeigentümer braucht aber nicht identisch zu sein mit dem
Grundeigentümer. Ausnahmen können sich aus sachenrechtlichen Bestimmungen,
insbesondere aus Art. 674-677 ZGB ergeben (BGE 106 II 201 E. 2a S. 203f., mit
Hinweisen). Ein solches Werk mit selbständigem Eigentum wurde für ein
Baugerüst bejaht, das zur Erstellung eines Bauwerks vorübergehend aufgestellt
worden war (BGE 96 II 355 E. 1 S. 359). Zum Werk im Sinne von Art. 58 Abs. 1
OR gehören auch seine Bestandteile und die mit ihm fest verbundene Zugehör
(BGE 106 II 201 E. 2a S. 203).

Nach dem Gesagten ist die Beklagte Eigentümerin des Baugerüsts geblieben. Das
mangelhafte Gerüstbrett ist zweifelsohne Bestandteil des Baugerüsts, da es
für dessen Benützung unabdingbar ist. Die Beklagte kann deshalb grundsätzlich
aus Werkeigentümerhaftpflicht in Anspruch genommen werden.

5.
Die Vorinstanz vertritt die Auffassung, die Genugtuungssumme von
Fr. 120'000.-- sei angesichts der schweren Beeinträchtigungen der
Lebensqualität, die der Kläger infolge des Unfalls habe hinnehmen müssen,
angemessen. Die Vorinstanz stützt sich auf die Erwägungen des
Kantonsgerichts. Nach dem Urteil des Kantonsgerichts erlitt der Kläger eine
senso-motorische posttraumatische Querschnittlähmung. Seither leide er unter
Schwierigkeiten der Blasen- und Darmentleerung, unter wiederkehrenden
Harnweginfekten und unter einem Dekubitus (Wundliegen). Die Sexualfunktion
könne nur medikamentös erreicht werden. Dieser Zustand rechtfertigt nach
Auffassung des Kantonsgerichts als Ausgangspunkt eine Genugtuung von Fr.
100'000.--.

Erhöhend berücksichtigte das Kantonsgericht, dass sich der Kläger zweimal
habe operieren lassen und einem fünfmonatigen Rehabilitationsaufenthalt im
Paraplegikerzentrum Nottwil unterziehen müssen. Der Kläger erwache nächtlich
mehrmals wegen Muskelzuckungen in den Beinen. Wegen ständiger Rückenschmerzen
müsse er sich auch tagsüber oft hinlegen. Weiter habe der Kläger  seine
Tätigkeit als selbständiger Schreinermonteur aufgeben müssen und sei nun mit
einem halbem Pensum als technischer Sachbearbeiter in einer Fensterfabrik
tätig. Diese Beschäftigung befriedige ihn nicht gleichermassen wie jene als
selbständiger Unternehmer. Der Unfall habe auch massiv in sein Privatleben
eingegriffen. Seine Schwierigkeiten im Intimbereich hätten zum Bruch mit
seiner Lebensgefährtin geführt und seine zukünftigen Heiratschancen
vermindert. Ausserdem sei er in seiner alltäglichen Bewegungsfreiheit massiv
eingeschränkt. Im Haushalt sei er auf Mithilfe angewiesen. Spontane Ausflüge
und längere Reisen allein seien nicht mehr möglich. Auch auf seine früheren
Hobbys, Skifahren und Motorradfahren, müsse er verzichten. Aus all diesen
Gründen hielten die kantonalen Gerichte für den im Zeitpunkt des Unfalls
neunundzwanzig Jahre alten Kläger die eingeklagte Genugtuungssumme von Fr.
120'000.-- für angemessen.

Die Beklagte setzt sich mit den Erwägungen der Vorinstanz nicht im Einzelnen
auseinander. Sie bringt lediglich vor, bei den vom Kantonsgericht genannten
Präjudizien zur Höhe der Genugtuung handle es sich um Urteile, die sich auf
ein Verbrechen oder Vergehen oder auf einen Unfall beziehen, der zu
Tetraplegie geführt hat.

Diese pauschalen Vorwürfe genügen den Anforderungen an eine rechtsgenügende
Begründung nicht. Die Beklagte zeigt nicht auf, inwiefern die Vorinstanz die
in Lehre und Rechtsprechung entwickelten Bemessungsgrundsätze missachtet
haben soll. Auf die Rüge ist daher nicht einzutreten.

6.
Da die Beklagte es unterlässt, sich mit dem angefochtenen Urteil auseinander
zu setzen und im Wesentlichen wiederholt, was sie im kantonalen Verfahren
vorgetragen hat, ist auf die Berufung insgesamt nicht einzutreten. Bei diesem
Verfahrensausgang wird die Beklagte kosten- und entschädigungspflichtig.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die Berufung wird nicht eingetreten.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 5'000.-- wird der Beklagten auferlegt.

3.
Die Beklagte hat die Klägerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr.
6'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht von Appenzell A.Rh.,
2. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Juli 2002

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: