Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2A.69/2002
Zurück zum Index II. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2002
Retour à l'indice II. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2002


2A.69/2002 /bmt

Urteil vom 9. August 2002
II. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Wurzburger, Präsident,
Bundesrichter Hungerbühler, Bundesrichter Müller,
Bundesrichterin Yersin, Ersatzrichter Camenzind,
Gerichtsschreiber Wyssmann.

A. ________ AG, Bekleidungen, Beschwerdeführer, vertreten durch Dres. Franz
J. Meng und Johannes Säuberli, Rechtsanwälte, Nordstrasse 19, 8006 Zürich,

gegen

Eidgenössische Steuerverwaltung, Hauptabteilung Mehrwertsteuer,
Schwarztorstrasse 50, 3003 Bern,
Eidgenössische Steuerrekurskommission, Avenue Tissot 8, 1006 Lausanne.

Mehrwertsteuer 1. Quartal 1995 (Lagerentsteuerung),

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der Eidgenössischen
Steuerrekurskommission vom 7. Januar 2002
Sachverhalt:

A.
Die A.________ AG mit Sitz in X.________ bezweckt gemäss
Handesregistereintrag den Betrieb eines Handels- und Versandunternehmens,
insbesondere im Bereich der Damen-, Herren- und Kinderkonfektion. Sie kann
sich an anderen Unternehmungen beteiligen. Die Gesellschaft liess sich
gestützt auf die Verordnung vom 22. Juni 1994 über die Mehrwertsteuer (MWSTV;
SR 641.201) bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung auf den 1. Januar 1995
in das Register für Mehrwertsteuerpflichtige eintragen, wobei sie die
Besteuerung als Gruppe zusammen mit anderen Gruppengesellschaften beantragte.
Diesem Antrag wurde mit Datum vom 18. November 1994 entsprochen und als
Gruppenträgerin die Firma A.________ AG bestätigt. Diese beanspruchte in der
Mehrwertsteuerabrechnung für das 1. Quartal 1995 die Entsteuerung des Lagers
im Umfange von Fr. -.--.

Die Eidgenössische Steuerverwaltung führte im Jahre 1996 und 1997 bei der
A.________ AG eine Kontrolle im Sinne von Art. 35 des Bundesratsbeschlusses
über die Warenumsatzsteuer (WUStB, SR 641.20) durch. Dabei stellte sie fest,
dass die A.________ AG die im Schreiben der Verwaltung vom 4. Oktober 1990
aufgeführten Voraussetzungen für die Löschung im Register der
Warenumsatzsteuerpflichtigen nicht erfülle. Sie habe weiterhin
Herstellungsumsätze getätigt, die nach Meinung der ESTV die Steuerpflicht als
Herstellerin im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. b WUStB begründeten. Die
Gesellschaft wurde deshalb rückwirkend auf den 1. Januar 1992 erneut als
Hersteller-Grossistin ins Register der Warenumsatzsteuerpflichtigen
eingetragen. (Die damit verbundenen Fragen der Warenumsatzsteuer sind
Gegenstand des Verfahrens 2A.75/2002.)

Die Eidgenössische Steuerverwaltung war zudem der Auffassung, dass unter
diesen Umständen die Voraussetzungen für die Lagerentsteuerung nicht mehr
gegeben seien. Mit Entscheid vom 30. Januar 1998 und Ergänzungsabrechnung Nr.
19277 stornierte die Eidgenössische Steuerverwaltung daher die in der
Abrechnung für das 1. Quartal 1995 geltend gemachte Steueranrechnung und
belastete die A.________ AG mit einer Mehrwertsteuerforderung von Fr. -.--
zuzüglich Verzugszins. Eine Einsprache wies die Eidgenössische
Steuerverwaltung am 16. Mai 2000 ab.

B.
Die A.________ AG führte Beschwerde bei der Eidgenössischen
Steuerrekurskommission. Diese wies das Rechtsmittel mit Urteil vom 7. Januar
2002 ab.

C.
Die A.________ AG führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht. Sie
beantragt, der Entscheid der Eidgenössischen Steuerrekurskommission vom 7.
Januar 2002 sei ersatzlos aufzuheben.

Die Eidgenössische Steuerverwaltung beantragt, die Beschwerde kostenfällig
abzuweisen. Die Eidgenössische Steuerrekurskommission verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gegen Entscheide der Eidgenössischen Steuerrekurskommission ist gemäss
Art. 97 ff. OG und Art. 54 MWSTV beim Schweizerischen Bundesgericht die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig. Die Beschwerdeführerin ist durch das
angefochtene Urteil berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an dessen
Aufhebung oder Abänderung. Sie ist damit nach Art. 103 lit. a OG zur
Beschwerde legitimiert. Auf die form- und fristgerecht eingereichte
Beschwerde ist einzutreten.

1.2 Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nach Art. 104 lit. a OG die
Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch
des Ermessens, gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Bundesrecht bei
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde von Amtes wegen an, ohne an die Begründung
der Parteibegehren gebunden zu sein (vgl. Art. 114 Abs. 1 OG). An die
Sachverhaltsfeststellung ist das Bundesgericht gebunden, wenn - wie hier -
eine richterliche Behörde als Vorinstanz entschieden und den Sachverhalt
nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung
wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt hat (Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Die Beschwerdeführerin beantragt, dass die von der Eidgenössischen
Steuerverwaltung rückgängig gemachte Lagerentsteuerung gemäss Art. 85 MWSTV
zugelassen werde.

2.1 Art. 85 MWSTV sieht vor, dass die Warenumsatzsteuer, die bei Beginn der
Mehrwertsteuerpflicht auf den Vorräten von Handelswaren und auf Werkstoffen
lastet, von der Mehrwertsteuer abgezogen werden kann. Mit dieser Bestimmung
wird erreicht, dass sowohl die Steuerpflichtigen, die erstmals
umsatzsteuerpflichtig werden, wie auch die ehemaligen Grossisten im Sinne des
Warenumsatzsteuerbeschlusses die Warenumsatzsteuer für Wiederverkaufswaren,
nicht aber für Anlagen und Investitionsgüter, wie Vorsteuern nach Art. 30
MWSTV abziehen können, sofern die in Art. 85 Abs. 1, Buchstaben a bis c,
genannten Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind (Kommentar des
Eidgenössischen Finanzdepartementes zur Verordnung über die Mehrwertsteuer
vom 22. Juni 1994, ad Art. 85 Abs. 1 MWSTV, S. 67; s. auch das Urteil vom 15.
Mai 1997, ASA 66, 649 E. 8a)
Diese Vorschrift war erforderlich, weil ohne die im Gesetz vorgesehene
Steuerentlastung (Lagerentsteuerung) eine steuerliche Doppelbelastung
entstehen würde, da der Warenverkauf der Mehrwertsteuer unterliegt und die
Waren schon warenumsatzsteuerbelastet sind. Grossisten haben die Warenvorräte
in der Regel gegen Abgabe einer Grossistenerklärung (GE) steuerfrei bezogen,
weshalb eine Steuerentlastung in diesem Fall ausser Betracht fällt (vgl.
Kommentar des Eidgenössischen Finanzdepartements, a.a.O., S. 67; zit. Urteil,
a.a.O.).

Voraussetzung für die Steuerentlastung nach Art. 85 Abs. 1 lit. a - c ist, a)
dass es sich um Wiederverkaufswaren oder um Werkstoffe für die gewerbsmässige
Herstellung von Waren oder Bauwerken handelt, b) der Steuerpflichtige über
diese Waren bei Beginn der Steuerpflicht die Verfügungsmacht hatte und c) er
für diese Waren nicht als Grossist die Steueranrechnung nach Art. 23 WUStB
beansprucht hat.

2.2 Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde macht die
Beschwerdeführerin geltend, dass sie nicht Grossistin im Sinne von Art. 9 ff.
WUStB gewesen sei, weil der rückwirkende Wiedereintrag per 1. Januar 1992
unzulässig und die Entlassung aus der Steuerpflicht rechtskräftig sei.
Demzufolge habe die Ware nicht steuerfrei bezogen werden können, weshalb die
gestützt darauf geltend gemachte Lagerentsteuerung gemäss Art. 85 MWSTV
rechtmässig sei.

Diese Argumente sind unzutreffend. Das Verfahren hinsichtlich der
rückwirkenden Eintragung der Beschwerdeführerin in das Register der
Warenumsatzsteuerpflichtigen per 1. Januar 1992 war ebenfalls Gegenstand
einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Mit Urteil 2A.75/2002 vom 9. August 2002
stellte das Bundesgericht fest, dass die Beschwerdeführerin ab 1. Januar 1992
warenumsatzsteuerpflichtig und von der Eidgenössischen Steuerverwaltung zu
Recht in das Register für Warenumsatzsteuerpflichtige eingetragen worden sei.
Die Voraussetzungen zur Geltendmachung der Lagerentsteuerung gemäss Art. 85
MWSTV sind daher nicht erfüllt. Die Eidgenössische Steuerverwaltung hat die
von der Beschwerdeführerin den steuerpflichtigen Lieferanten entrichtete
Warenumsatzsteuer in der Ergänzungsabrechnung berücksichtigt. Die Beschwerde
erweist sich als unbegründet, was zu deren Abweisung führt.

3.
Die Beschwerdeführerin hatte im Verfahren vor der Eidgenössischen
Steuerrekurskommission den prozessualen Antrag gestellt, das vorliegende
Verfahren sei mit dem Verfahren betreffend Warenumsatzsteuer zu vereinigen.
Begründet wurde der Antrag damit, dass die Frage des Wiedereintrags im
Register der Warenumsatzsteuerpflichtigen Vorfrage im vorliegenden Verfahren
sei. Die Vorinstanz sei im angefochtenen Entscheid mit keinem Wort auf diesen
Antrag eingegangen, was eine formelle Rechtsverweigerung darstelle. Sie
verzichte darauf, vor Bundesgericht die formelle Rechtsverweigerung zu rügen,
doch sei die Unterlassung bei der Kostenfrage zu berücksichtigen.
Eine formelle Rechtsverweigerung liegt dann vor, wenn eine Behörde es
ausdrücklich ablehnt oder stillschweigend unterlässt, eine Entscheidung zu
treffen, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre (BGE 107 Ib 160 E. 3b S.
164). Die Vorinstanz nahm zum gestellten Prozessantrag auf
Verfahrensvereinigung in ihrem Urteil nicht Stellung, sie befand aber
insofern darüber, als sie die beiden Parallelfälle nebeneinander mit den
Urteilen vom 7. Januar 2002 entschied und gleichzeitig eröffnete. Der
Beschwerdeführerin sind daraus keine Nachteile entstanden. Ein Anspruch auf
Verfahrensvereinigung besteht zudem nicht. Es handelt sind klarerweise um
verschiedene Steuern, die in getrennten Verfahren behandelt werden durften,
auch wenn es sich um die gleichen Parteien handelt und der Entscheid im einen
Fall von demjenigen im anderen Fall abhängt.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die gesamten Kosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 153
und 153a OG). Eine Parteientschädigung ist nicht zuzusprechen (Art. 159 Abs.
1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 10'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Eidgenössischen
Steuerverwaltung, Hauptabteilung Mehrwertsteuer, sowie der Eidgenössischen
Steuerrekurskommission schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 9. August 2002

Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: