Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2A.524/2002
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2A.524/2002 /leb

Urteil vom 4. November 2002
II. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Wurzburger, Präsident,
Bundesrichter Hungerbühler, Merkli,
Gerichtsschreiber Feller.

B. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Marc Wollmann, Spitalstrasse
12, Postfach, 2501 Biel/Bienne,

gegen

Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern,
Kramgasse 20, 3011 Bern,
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung,
Speichergasse 12,
3011 Bern.

Ausweisung; Wiedererwägung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 16. September 2002.

Sachverhalt:

A.
Der italienische Staatsangehörige B.________ reiste Ende 1980 als fast
Neunjähriger im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz ein; in der Folge
wurde ihm eine Niederlassungsbewilligung erteilt.

Im Laufe der 90er Jahre wurde B.________ wegen verschiedener Verstösse gegen
das Betäubungsmittelgesetz strafrechtlich verurteilt. Am 14. April 2000 wurde
er unter anderem wegen (gewerbsmässigen) Diebstahls und Verstosses gegen das
Betäubungsmittelgesetz zu einer weiteren Freiheitsstrafe von 20 Monaten
verurteilt, wobei das Strafgericht den Vollzug der Strafe im Hinblick auf
eine Drogentherapie im Foyer X.________ in Y.________ aufschob. Mit Verfügung
der Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug (Amt für Freiheitsentzug und
Betreuung) der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern vom 12. April
2002 ist B.________ mit sofortiger Wirkung bedingt aus dem Massnahmenvollzug
entlassen worden, bei einer Probezeit von zwei Jahren.

Die Fremdenpolizei (heute: Migrationsdienst) des Kantons Bern verfügte am 23.
August 2000 gestützt auf Art. 10 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und
Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) die Ausweisung von B.________
aus der Schweiz für eine unbestimmte Dauer, unter Ansetzung einer
Ausreisefrist auf den 31. Oktober 2000. Gegen die Ausweisung als solche wurde
kein Rechtsmittel ergriffen; B.________ beschwerte sich indessen gegen die
Festsetzung der Ausreisefrist, und mit Verfügung vom 31. August 2000 änderte
die Fremdenpolizei die Ausweisungsverfügung insofern ab, als sie den Beginn
der Ausreisefrist auf den Tag der Entlassung aus der Massnahme festsetzte.

Am 20. April 2001 ersuchte B.________ den Migrationsdienst des Kantons Bern
darum, ihre Ausweisungsverfügung vom 23./31. August 2000 in Wiedererwägung zu
ziehen. Der Migrationsdienst lehnte das Gesuch am 30. Mai 2001 ab, und eine
gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde an die Polizei- und
Militärdirektion des Kantons Bern blieb erfolglos. Mit Urteil vom 16.
September 2002 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die gegen den
Beschwerdeentscheid der Polizei- und Militärdirektion erhobene Beschwerde ab.

B.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 25. Oktober 2002 stellt B.________ das
Rechtsbegehren, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 16.
September 2002 und die Ausweisungsverfügung der kantonalen Fremdenpolizei vom
23. bzw. 31. August 2002 seien aufzuheben, eventuell sei die Sache zur
Neubeurteilung an die kantonale Instanz zurückzuweisen.

Es ist weder ein Schriftenwechsel angeordnet, noch sind die kantonalen Akten
eingeholt worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer erhebt ausdrücklich Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition Art und
Zulässigkeit eines Rechtsmittels (BGE 127 II 198 E. 2 S. 201; 127 III 41 E.
2a S. 42; 126 I 257 E. 1a S. 258).

Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist gemäss Art. 97 Abs. 1 OG nur zulässig
gegen Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwVG, also gegen behördliche
Anordnungen, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen.
Ausgangspunkt der vorliegenden Streitigkeit ist eine ausländerrechtliche
Ausweisung, die gestützt auf Bundesrecht (Art. 10 ANAG) verfügt wurde. Da
keiner der Ausschluss-Tatbestände von Art. 100 Abs. 1 lit. b OG gegeben ist,
kann gegen einen letztinstanzlichen kantonalen Ausweisungsentscheid
grundsätzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben werden.

Gegenstand des angefochtenen Urteils bildet jedoch nicht der - in Rechtskraft
erwachsene - Ausweisungsentscheid, sondern allein der Entscheid über die
Frage, ob die Fremdenpolizei auf ihre ursprüngliche Verfügung hätte
zurückkommen und diese hätte in Wiedererwägung ziehen müssen. Massgeblich
dafür ist ausschliesslich kantonales (Prozess-)Recht. Das Urteil stützt sich
nicht auf öffentliches Recht des Bundes. Das Verwaltungsgericht wie der
Beschwerdeführer gehen aber davon aus, dass durch die Weigerung, eine in
bundesrechtlicher Materie erlassene Verfügung in Wiedererwägung zu ziehen,
die richtige Anwendung des Bundesrechts vereitelt werden könnte, weshalb die
Rüge, das kantonale Verfahrensrecht sei in bundesverfassungswidriger oder
bundesrechtswidriger Weise angewendet worden, mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht werden könne, unabhängig davon, ob
eine Verletzung von materiellem Bundesverwaltungsrecht behauptet werde. Dies
entspricht der Rechtsprechung zur Anfechtung von kantonalen
Nichteintretensentscheiden (BGE 127 II 264 E. 1a 267 mit Hinweisen). Es
rechtfertigt sich, diese Rechtsprechung analog anzuwenden, wenn ein Entscheid
angefochten wird, mit welchem die Wiedererwägung einer auf Bundesrecht
gestützten Verfügung abgelehnt worden ist (s. Urteil 2A.383/2001 vom 23.
November 2001, E. 1 b/bb). Auch im Verfahren der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist jedoch, gleich wie im Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde, bloss zu prüfen, ob die kantonalrechtlichen
Verfahrensbestimmungen in einer gegen Bundes(verfassungs)recht verstossenden
Weise gehandhabt worden sind.

Die mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobene Rüge, die Ausweisungsverfügung
hätte in Wiedererwägung gezogen werden müssen, ist nachfolgend zu prüfen.

2.
Eine kantonale Behörde muss sich mit einem Wiedererwägungsgesuch dann
förmlich befassen und allenfalls auf eine rechtskräftige Verfügung
zurückkommen, wenn das kantonale Recht dies vorsieht und die entsprechenden
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind; darüber hinaus sind die
unmittelbar aus der Bundesverfassung abgeleiteten Grundsätze massgebend.
Hiefür ist die zu Art. 4 aBV entwickelte Rechtsprechung massgeblich, die
unter Art. 29 Abs. 1 und 2 BV ihre Gültigkeit behält (vgl. BGE 127 I 133 E. 6
S. 137).

2.1 Gemäss Art. 56 Abs. 1 des bernischen Gesetzes vom 23. Mai 1989 über die
Verwaltungsrechtspflege (VRPG) ist ein rechtskräftig erledigtes Verfahren auf
Gesuch hin oder von Amtes wegen durch die Verwaltungsbehörde
wiederaufzunehmen, wenn durch ein Verbrechen oder Vergehen zum Nachteil einer
Partei auf die Verfügung eingewirkt wurde (lit. a), wenn die Partei
nachträglich erhebliche Tatsachen erfährt oder entscheidende Beweismittel
auffindet, die sie im früheren Verfahren nicht anrufen konnte, unter
Ausschluss derjenigen, die nach der fraglichen Verfügung entstanden sind
(lit. b), oder wenn zwingende öffentliche Interessen es rechtfertigen (lit.
c). Zugunsten des Verfügungsadressaten kann die Behörde das Verfahren
jederzeit wiederaufnehmen.

Das Verwaltungsgericht hat festgehalten, dass keiner dieser gesetzlichen
Wiedererwägungstatbestände, welche im Wesentlichen (insbesondere Art. 56 Abs.
1 lit. a und VRPG) - im Sinne klassischer Revisionsgründe - auf die
nachträgliche Abänderung ursprünglich fehlerhafter Verfügungen zugeschnitten
sind, erfüllt sei; der Beschwerdeführer macht vor Bundesgericht denn auch
nicht (mehr) geltend, dass einer der vom Gesetz ausdrücklich genannten
Wiedererwägungsgründe vorliege.

2.2 Unabhängig vom Bestehen einer entsprechenden kantonalrechtlichen
Vorschrift besteht nun aber unmittelbar von Bundesverfassungs wegen (Art. 29
Abs. 1 BV) ein Anspruch darauf, dass die erstinstanzliche Behörde neu
entscheidet, wenn sich die tatsächlichen Umstände seit dem - ursprünglich
fehlerfreien - früheren Entscheid wesentlich geändert haben (BGE 124 II 1 E.
3a S. 6; 120 Ib 42 E. 2b S. 46; 113 Ia 146 E. 3a S. 151 f.; 109 Ib 246 E. 4a
S. 251).

Der Beschwerdeführer macht geltend, in seinem Fall lägen neue wesentlich
veränderte Umstände vor; eine Gegenüberstellung der öffentlichen Interessen
an der Ausweisung und der privaten Interessen des Beschwerdeführers am
Verbleiben in der Schweiz würde heute zu einem anderen Ergebnis führen als im
Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung im August 2000. Er erwähnt, dass er die
Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und sich in den normalen Alltag
integriert habe, seit April 2002 ununterbrochen arbeite, eine stabile
partnerschaftliche Beziehung führe und zudem eine Psychotherapie absolviere.

Das Verwaltungsgericht hat dazu festgehalten, dass bereits zum Zeitpunkt des
Erlasses der Ausweisungsverfügung die Tatsache bekannt gewesen sei, dass der
Beschwerdeführer eine - längerfristige - Drogentherapie absolviere; diese im
Massnahmenvollzug erfolgte Therapie habe, ebenso wie die angetretene
Psychotherapie und das Antreten von Arbeitsstellen, gerade zum Ziel, den
Beschwerdeführer auf längere Frist in die Gesellschaft zu integrieren;
aufgrund der der Fremdenpolizei zum Verfügungszeitpunkt bekannten
Therapiebemühungen habe erkennbar die Aussicht bestanden, dass die
persönliche Situation des Beschwerdeführers sich mit Hilfe einer guten
Betreuung stabilisieren könnte; eine wesentliche Veränderung seit der ersten
Verfügung liege nicht vor. Diese Einschätzung der Lage ist unter
bundesverfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden. Aufgrund
der tatsächlichen Verhältnisse bestand keine Verpflichtung der
Fremdenpolizeibehörde, auf ihre Ausweisungsverfügung zurückzukommen.

2.3 Der Beschwerdeführer geht davon aus, dass sich ein Anspruch auf
Wiedererwägung auch aufgrund der Änderung der Rechtslage ergeben könnte. Das
Verwaltungsgericht pflichtet dem Beschwerdeführer darin bei, hat aber
zutreffend erkannt, dass die entsprechenden Voraussetzungen im vorliegenden
Fall nicht erfüllt sind.

Wohl gibt das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren
Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen,
FZA; SR 0.142.112.681, AS 2002 1529) den Angehörigen von Mitgliedstaaten der
Europäischen Gemeinschaft und mithin dem Beschwerdeführer als italienischem
Staatsangehörigen einen Anspruch darauf, sich im Hoheitsgebiet der Schweiz
aufzuhalten und eine Erwerbstätigkeit auszuüben bzw. Arbeit zu suchen (Art. 2
Abs. 1 und 2 des Anhangs I zum FZA); unter bestimmten Bedingungen hat er auch
Anspruch auf erwerbsfreien Aufenthalt (Art. 2 Abs. 3 des Anhangs I zum FZA).
Der Beschwerdeführer hatte, bevor er ausgewiesen wurde, eine
Niederlassungsbewilligung, und die vom Freizügigkeitsabkommen eingeräumten
Rechte bezüglich Aufenthalt und Erwerbstätigkeit standen ihm schon auf Grund
des inländischen Rechts zu. Mit der Ausweisung wurde diese Rechtsstellung
widerrufen. Art. 5 Abs. 1 des Anhangs I zum FZA ermächtigt die
Vertragsparteien, auch die auf Grund des Abkommens eingeräumten Rechte (nur)
durch Massnahmen einzuschränken, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung,
Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Das Abkommen erlaubt es somit
der Schweiz, einen Ausländer zumindest gestützt auf Art. 10 Abs. 1 lit. a und
b ANAG, nach Vornahme einer genügend umfassenden Güterabwägung (wozu Art. 11
Abs. 3 ANAG die zuständige Behörde verpflichtet), auszuweisen (Walter Kälin,
Die Bedeutung des Freizügigkeitsabkommens für das Ausländerrecht, in: Die
sektoriellen Abkommen Schweiz-EG, Ausgewählte Fragen zur Rezeption und
Umsetzung der Verträge vom 21. Juni 1999 im schweizerischen Recht, Berner
Tage für die juristische Praxis, Bern 2002, S. 19 ff.). Das Inkrafttreten des
Freizügigkeitsabkommens auf den 1. Juni 2002 hat somit zu keiner derart
umfassenden Änderung der Rechtslage geführt, dass eine Pflicht zur
Wiedererwägung des Ausweisungsentscheids bestehen würde.

2.4 Indem das Verwaltungsgericht bestätigt hat, dass der Migrationsdienst
nicht verpflichtet war, auf die Ausweisungsverfügung vom 23./31. August 2000
zurückzukommen, hat es Bundes(verfassungs)recht nicht verletzt. Die
Beschwerde ist offensichtlich unbegründet und - im vereinfachten Verfahren
(Art. 36a OG) - abzuweisen.

3.
Mit dem vorliegenden Urteil wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung
gegenstandslos.

4.
Entsprechend dem Verfahrensausgang sind die bundesgerichtlichen Kosten dem
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 in Verbindung mit Art. 153 und 153a
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Polizei- und Militärdirektion
und dem Verwaltungsgericht, Verwaltungsrechtliche Abteilung, des Kantons Bern
sowie dem Bundesamt für Ausländerfragen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 4. November 2002

Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: