Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2A.468/2002
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2A.468/2002/sch

Urteil vom 16. Januar 2003
II. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Wurzburger, Präsident,
Bundesrichter Müller, Bundesrichterin Yersin,
Gerichtsschreiberin Müller.

A.X.________, geb. 1971,
B.X.________, geb. 1979,
C.X.________, geb. 2000,
Beschwerdeführer,
alle drei vertreten durch Fürsprecher Werner Spirig, Maulbeerstrasse 14, 3011
Bern,

gegen

Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern,
Kramgasse 20, 3011 Bern,
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung,
Speichergasse 12, 3011 Bern.

Ausweisung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 14. August 2002.

Sachverhalt:

A.
Der aus Algerien stammende, 1971 geborene A.X.________ reiste am 25. Oktober
1997 in die Schweiz ein und ersuchte unter falschem Namen um Asyl. Mit
Verfügung vom 22. Juli 1998 lehnte das Bundesamt für Flüchtlinge das
Asylgesuch ab und wies A.X.________ aus dem Gebiet der Schweiz weg. Am 26.
Mai 1999 reiste A.X.________ wieder in die Schweiz ein, verheiratete sich
tags darauf mit B.X.________ und erhielt aufgrund dieser Heirat eine
Aufenthaltsbewilligung.

B.
Am 23. Februar 1999 verurteilte der Gerichtspräsident 15 des Gerichtskreises
VIII Bern-Laupen A.X.________ wegen Diebstahls, versuchten Diebstahls und
Sachbeschädigung zu einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten unter Gewährung
des bedingten Strafvollzugs sowie zu einer unbedingten Landesverweisung von
drei Jahren. Am 3. November 1999 verurteilte ihn die Gerichtspräsidentin 17
des Gerichtskreises VIII Bern-Laupen wegen einfacher Körperverletzung mit
gefährlichem Gegenstand, Diebstahls sowie illegaler Einreise und illegalen
Aufenthalts zu einer Gefängnisstrafe von 40 Tagen unter Gewährung des
bedingten Strafvollzugs. Nachdem A.X.________ am 7. März 2000 einen Bekannten
am Hals verletzt hatte, wurde er in Untersuchungshaft genommen. Am 1.
November 2000 wechselte er in den vorzeitigen Strafvollzug. Am 23. Mai 2001
verurteilte das Kreisgericht VIII Bern-Laupen A.X.________ wegen
vorsätzlicher schwerer Körperverletzung zu 40 Monaten Gefängnis sowie zu
einer bedingten Landesverweisung von fünf Jahren.

C.
Mit Verfügung vom 21. Juni 2001 wies der Migrationsdienst des Kantons Bern
A.X.________ für eine unbestimmte Dauer aus der Schweiz aus und setzte die
Ausreisefrist auf den Tag der Haftentlassung an. Dagegen erhoben A.X.________
und B.X.________ sowie ihr Sohn C.X.________ Beschwerde bei der Polizei- und
Militärdirektion des Kantons Bern. Diese wies die Beschwerde mit Entscheid
vom 4. März 2002 ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 14. August 2002 ab.

D.
Dagegen hat haben A.X.________, B.X.________ und C.X.________ beim
Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Sie beantragen, das
Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben, und ersuchen zudem um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Die Polizei- und Militärdirektion und das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
sowie das Bundesamt für Ausländerfragen schliessen übereinstimmend auf
Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gegen die sich auf Art. 10 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über
Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) stützende
Ausweisungsverfügung ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig (Art. 100
Abs. 1 lit. b Ziff. 4 OG e contrario; BGE 114 Ib E. 1a S. 2).

1.2 Im Fremdenpolizeirecht stellt das Bundesgericht auf die aktuellen
tatsächlichen und rechtlichen Umstände ab, ausser wenn eine richterliche
Behörde als Vorinstanz entschieden hat. Diesfalls gilt die Regelung von Art.
105 Abs. 2 OG, wonach das Bundesgericht an die Feststellung des Sachverhalts
gebunden ist, wenn die richterliche Vorinstanz diesen nicht offensichtlich
unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensgarantien erhoben hat (BGE 124 II 361 E. 2a S. 365; 122 II 385 E. 2
S. 390). Da im vorliegenden Fall der angefochtene Entscheid durch ein Gericht
erging, gelangt Art. 105 Abs. 2 OG zur Anwendung.

1.3 Wegen der grundsätzlichen Bindung des Bundesgerichts an den vom
Verwaltungsgericht festgestellten Sachverhalt ist die Möglichkeit, vor
Bundesgericht neue Tatsachen vorzubringen und neue Beweismittel einzureichen,
weitgehend ausgeschlossen. Das Bundesgericht lässt nur solche neuen Tatsachen
und Beweismittel zu, welche die Vorinstanz von Amtes wegen hätte
berücksichtigen müssen und deren Nichtbeachtung eine Verletzung wesentlicher
Verfahrensvorschriften darstellt (BGE 121 II 97 E. 1c S. 99 f.).
Nachträgliche Veränderungen des Sachverhalts (so genannte "echte Noven")
können in der Regel nicht mehr berücksichtigt werden, denn einer Behörde kann
nicht vorgeworfen werden, sie habe den Sachverhalt im Sinne von Art. 105 Abs.
2 OG fehlerhaft dargestellt, wenn sich dieser nach ihrem Entscheid verändert
hat (BGE 125 II 217 E. 3a S. 221).

Die im Verfahren vor Bundesgericht beigelegte Arbeitsbestätigung, der
Lohnausweis sowie die beiden Arztzeugnisse können daher im vorliegenden
Verfahren nicht berücksichtigt werden; ebenso wenig die neue Behauptung, die
Beschwerdeführerin habe einen gesundheitlichen Rückfall erlitten.

1.4 Das Bundesgericht wendet das Bundesrecht bei der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde von Amtes wegen an, ohne an die Begründung der
Parteibegehren gebunden zu sein (Art. 114 Abs. 1 in fine OG). Es kann die
Beschwerde daher aus andern als den geltend gemachten Gründen gutheissen oder
den Entscheid mit einer Begründung bestätigen, die von jener der Vorinstanz
abweicht (BGE 121 II 473 E. Ib S. 477; 117 Ib 114 E. 4a S. 117, mit Hinweis).

2.
Gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG kann ein Ausländer aus der Schweiz
ausgewiesen werden, wenn er wegen eines Verbrechens oder Vergehens
gerichtlich bestraft wurde. Die Ausweisung soll jedoch nur ausgesprochen
werden, wenn sie nach den gesamten Umständen angemessen erscheint (Art. 11
Abs. 3 ANAG). Hierbei sind vor allem die Schwere des Verschuldens des
Ausländers, die Dauer seiner Anwesenheit in der Schweiz und die ihm und
seiner Familie drohenden Nachteile zu berücksichtigen (Art. 16 Abs. 3 der
Vollziehungsverordnung vom 1. März 1949 zum Bundesgesetz über Aufenthalt und
Niederlassung der Ausländer, ANAV; SR 142.201). Die Frage, ob eine Ausweisung
im Sinne der Art. 11 Abs. 3 ANAG und Art. 16 Abs. 3 ANAV "angemessen", d.h.
verhältnismässig sei, ist eine Rechtsfrage, die vom Bundesgericht im
Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde frei überprüft wird (Art. 104
lit. a OG). Dem Bundesgericht ist es jedoch verwehrt, sein eigenes Ermessen -
im Sinne einer Überprüfung der Zweckmässigkeit (Opportunität; vgl. BGE 116 Ib
353 E. 2b) der Ausweisung - an die Stelle desjenigen der zuständigen
kantonalen Behörde zu setzen (BGE 125 II 105 E. 2a S. 107, mit Hinweisen).

3.
3.1 Der Beschwerdeführer ist insgesamt zu 47 Monaten und 40 Tagen Gefängnis
verurteilt worden; damit ist der Ausweisungsgrund von Art. 10 Abs. 1 lit. a
ANAG erfüllt.

3.2 Ins Gewicht fällt insbesondere, dass der Beschwerdeführer gewalttätig
geworden war. Schon die Verurteilung zu 40 Tagen Gefängnis bedingt erfolgte
unter anderem wegen einfacher Körperverletzung mit gefährlichem Gegenstand.
Besonders schwer wiegt aber die Tat, die zur letzten Verurteilung geführt
hat: Der Beschwerdeführer verletzte einen Bekannten mit einem Messer am Hals;
es ist sehr wahrscheinlich nur einem operativen Eingriff zu verdanken, dass
der Verletzte nicht verblutete; es bestand unmittelbare Lebensgefahr.
Angesichts der Schwere dieser Tat besteht ein gewichtiges öffentliches
Interesse an der Fernhaltung des Beschwerdeführers aus der Schweiz.

3.3 Für die schweizerische Ehefrau ist eine Ausreise nach Algerien, ein Land
mit völlig unterschiedlichem kulturellen Hintergrund, kaum zumutbar;
erschwerend kommt ihre angeschlagene Gesundheit dazu. Ein Aufrechterhalten
der Beziehung durch Besuche von Ehefrau und Kind in Algerien wird durch die
grosse geographische Distanz zwar nicht verunmöglicht, sicher aber
schwieriger zu realisieren sein. Dieses - an sich gewichtige - private
Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in der Schweiz vermag
jedoch das entgegenstehende öffentliche Interesse an seiner Fernhaltung nicht
zu überwiegen:
Nebst den begangenen Straftaten ist von Bedeutung, dass der Beschwerdeführer
erst im Herbst 1997 erstmals als Asylbewerber in die Schweiz eingereist ist;
nach seiner Heirat Ende Mai 1999 lebte er nur gerade zehn Monate mit seiner
Frau zusammen, bevor er am 8. März 2000 in Untersuchungshaft genommen wurde
und am 1. November 2000 in den vorzeitigen Strafvollzug wechselte. Die
bedingte Entlassung erfolgte auf den 16. Juni 2002. Es kann daher keine Rede
davon sein, dass er in der Schweiz besonders verwurzelt wäre.

3.4 Der Beschwerdeführer kann auch aus dem in Art. 8 Ziff. 1 EMRK
garantierten Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens nichts zu
seinen Gunsten ableiten: Zwar hat er aufgrund der gelebten Beziehung zu Frau
und Kind gestützt auf Art. 8 Ziff. 1 EMKR grundsätzlich einen Anspruch auf
Aufenthalt in der Schweiz; im vorliegenden Fall ist aber ein Eingriff in das
Recht auf Achtung des Familienlebens gestützt auf Art. 8 Ziff. 2 EMRK
gerechtfertigt.

Diese Schlussfolgerung steht nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Die Beschwerdeführer
können insbesondere weder aus dem Urteil i.S. Mehemi gegen Frankreich vom 26.
September 1997 (Rec. 1997-VI S. 1959 ff.) noch aus dem Urteil i.S. Boultif
gegen die Schweiz vom 2. August 2001 (VPB 65 Nr. 138) etwas zu ihren Gunsten
ableiten. Im Fall Mehemi handelte es sich um einen Algerier, der in
Frankreich geboren war und über dreissig Jahre in diesem Land gewohnt hatte.
Im Fall Boultif ging es um einen Algerier, der im Zeitpunkt des Urteils des
Bundesgerichts schon knapp sieben Jahre in der Schweiz gelebt hatte; er war
ferner zu einer Zuchthausstrafe von gerade zwei Jahren verurteilt worden, ein
Strafmass, das doch deutlich unter dem Gesamtstrafmass des Beschwerdeführers
von 47 Monaten und 40 Tagen liegt, womit denn auch die Interessenabwägung
anders ausfallen muss.

4.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers
weder Bundesrecht noch Konventionsrecht verletzt; die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher abzuweisen. Angesichts der im
angefochtenen Entscheid korrekt wiedergegebenen Rechtsprechung des
Bundesgerichts muss die vorliegende Beschwerde als von vornherein
aussichtslos bezeichnet werden, womit das Gesuch um unentgeltliche
Rechtsprechung und Verbeiständung abzuweisen ist (vgl. Art. 152 OG). Bei
diesem Ausgang sind die Gerichtskosten den Beschwerdeführern unter
solidarischer Haftbarkeit aufzuerlegen (Art. 153 und Art. 153a in Verbindung
mit Art. 156 Abs. 1 und 7 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird den Beschwerdeführern unter
solidarischer Haftbarkeit auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern, der Polizei- und Militärdirektion
und dem Verwaltungsgericht, Verwaltungsrechtliche Abteilung, des Kantons Bern
sowie dem Bundesamt für Ausländerfragen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Januar 2003

Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: