Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2A.419/2002
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2A.419/2002/leb

Urteil vom 7. Oktober 2002
II. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Wurzburger, Präsident,
Bundesrichter Hungerbühler, Müller,
Gerichtsschreiber Fux.

Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, Generalsekretariat, 3003
Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

A.________,
Beschwerdegegner,
Amt für Polizeiwesen Graubünden, Asyl und Massnahmevollzug, Karlihof 4, 7000
Chur,
Bezirksgerichtspräsidium Plessur, Poststrasse 14, 7000 Chur.

Verlängerung der Ausschaffungshaft,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des
Bezirksgerichtspräsidiums Plessur vom 28. Juni 2002.

Sachverhalt:

A.
A. ________, geboren am **. ** 1974, von Jugoslawien, verfügte in der Zeit
vom 1. März 1990 bis 23. April 1996 über eine Jahresaufenthaltsbewilligung
für den Kanton St. Gallen. Er wurde mehrfach straffällig und tauchte in der
Folge unter. Am 10. Februar 1997 wurde er vom Kreisgericht Klosters in
Abwesenheit wegen verschiedener Straftaten zu acht Monaten Gefängnis
unbedingt sowie zu einer Landesverweisung von fünf Jahren verurteilt. Am 4.
Dezember 2001 wurde A.________ von der Kantonspolizei St. Gallen in Buchs
angehalten, und am 19. Dezember 2001 wurde er dem Kanton Graubünden zum
Strafvollzug zugeführt.

B.
Im Anschluss an den Strafvollzug, der am 2. Mai 2002 endete, ordnete das Amt
für Polizeiwesen Graubünden gegen A.________ die Ausschaffungshaft an. Diese
wurde vom Haftrichter des Bezirksgerichtspräsidiums Plessur am 3. Mai 2002
überprüft und bis längstens 2. Juli 2002 bestätigt.

Am 26. Juni 2002 ersuchte das Amt für Polizeiwesen Graubünden um Verlängerung
der Ausschaffungshaft bis am 15. September 2002. Der Haftrichter wies das
Gesuch mit Entscheid vom 28. Juni 2002 ab und ordnete die sofortige
Freilassung von A.________ an.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 28. August 2002 beantragt das
Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement dem Bundesgericht, die
Verfügung des Haftrichters des Bezirksgerichtspräsidiums Plessur vom 28. Juni
2002 aufzuheben.

Das Amt für Polizeiwesen Graubünden beantragt sinngemäss die Gutheissung der
Beschwerde, indem es unter Hinweis auf sein Gesuch vom 26. Juni 2002 erklärt,
die Anträge des beschwerdeführenden Departements vollumfänglich zu
unterstützen. Das Bezirksgericht Plessur hat auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement ist als das in der Sache
zuständige Departement berechtigt, namens des Bundes die Verfügung des
Haftrichters, der als letzte kantonale Instanz entschieden hat, mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht anzufechten (Art. 103 lit. b
OG).

Das Beschwerderecht der Bundesbehörden soll den richtigen und rechtsgleichen
Vollzug des Bundesverwaltungsrechts sicherstellen. Dabei muss grundsätzlich
kein spezifisches öffentliches Interesse an der Anfechtung der Verfügung
nachgewiesen werden. Erforderlich ist nur, dass es der beschwerdeführenden
Verwaltungseinheit nicht um die Behandlung abstrakter Fragen des objektiven
Rechts, sondern um konkrete Rechtsfragen eines tatsächlich bestehenden
Einzelfalles geht (BGE 128 II 193 E. 1 S. 195 mit Hinweisen).

Vorliegend macht das beschwerdeführende Departement geltend, der angefochtene
Entscheid verletze die gefestigte bundesgerichtliche Rechtsprechung zur
Haftbeendigung gemäss Art. 13c Abs. 5 lit. a des Bundesgesetzes vom 26. März
1931 (Fassung vom 18. März 1994) über Aufenthalt und Niederlassung der
Ausländer (ANAG; SR 142.20). Umstritten ist somit die Auslegung der erwähnten
Bestimmung bzw. deren Anwendung im konkreten Fall. An der Klärung dieser
Rechtsfrage hat das beschwerdeführende Departement im Hinblick auf zukünftige
ähnliche Fälle ein hinreichendes Interesse. Dass der Beschwerdegegner
unmittelbar nach Eröffnung des Haftrichterentscheids aus der Haft entlassen
wurde und sein Aufenthaltsort nicht bekannt ist, ist unter dem Gesichtspunkt
der Legitimationsfrage unerheblich (BGE 128 II 193 E. 1 S. 195 mit
Hinweisen).

2.
In der Sache erweist sich die Beschwerde als begründet.

2.1 In seinem Entscheid vom 3. Mai 2002, der unangefochten in Rechtskraft
erwachsen ist, hat der Haftrichter erkannt, die gesetzlichen Voraussetzungen
der Ausschaffungshaft seien erfüllt. Der Haftrichter hat namentlich
zutreffend festgestellt, dass mit der vom Kreisgericht Klosters am 10.
Februar 1997 unbedingt ausgesprochenen (strafrechtlichen) Landesverweisung
eine genügende Grundlage für die Ausschaffungshaft besteht (vgl. dazu BGE 128
II 103 ff.; Art. 13b Abs. 1 erster Satz ANAG). Ferner hat er implizit, durch
Verweisung auf die Akten und das Verhalten des Beschwerdegegners, den
Haftgrund der Untertauchensgefahr zu Recht bejaht (vgl. BGE 125 II 369 E.
3b/aa S. 375 mit Hinweisen; Art. 13b Abs. 1 lit. c ANAG).

Es wird von keiner Seite geltend gemacht und es bestehen auch keine
Anhaltspunkte dafür, dass die Haftvoraussetzungen im Zeitpunkt des
Haftverlängerungsgesuchs nicht mehr erfüllt gewesen wären. Trotzdem hat der
Haftrichter eine Verlängerung der Haft um zweieinhalb Monate abgelehnt und
die unverzügliche Freilassung des Beschwerdegegners verfügt. Im angefochtenen
Entscheid wird zur Begründung ausgeführt, der Beschwerdegegner habe glaubhaft
dargestellt, dass ihm die Haft psychische und physische Probleme bereite und
dass er nach Jugoslawien zurückkehren und bei der Beschaffung der Papiere
kollaborieren wolle. Zudem scheine eine "eher zögerliche" Umsetzung des
Rückführungsabkommens durch die jugoslawischen Behörden zu erfolgen, was der
Inhaftierte nicht zu vertreten habe. Aufgrund der gesamten Umstände sei die
Ausschaffungshaft nicht mehr verhältnismässig.

Diese Begründung lässt sich mit dem einschlägigen Bundesrecht und der
entsprechenden Bundesgerichtspraxis nicht vereinbaren.

2.2 Im angefochtenen Entscheid wird sinngemäss auf Art. 13c Abs. 5 lit. a
ANAG Bezug genommen. Danach wird die Haft beendet, wenn der Haftgrund
entfällt oder sich erweist, dass der Vollzug der Weg- oder Ausweisung aus
rechtlichen oder tatsächlichen Gründen undurchführbar ist. Nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Haft gestützt auf diese Bestimmung
nur dann nicht mehr verhältnismässig und deshalb aufzuheben, wenn für die
Undurchführbarkeit des Vollzugs der Entfernungsmassnahme triftige Gründe
sprechen oder praktisch feststeht, dass sich die Ausschaffung innert der
gesetzlichen Frist kaum wird realisieren lassen. Dies ist in der Regel nur
der Fall, wenn die Ausschaffung auch bei gesicherter Kenntnis der Identität
oder der Nationalität des Betroffenen bzw. trotz seines Mitwirkens bei der
Papierbeschaffung mit grosser Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen erscheint. Zu
denken ist etwa an eine längerdauernde Transportunfähigkeit aus
gesundheitlichen Gründen bzw. an eine ausdrückliche oder zumindest klar
erkennbare und konsequent gehandhabte Weigerung eines Staates, gewisse
Staatsangehörige zurückzunehmen (zum Ganzen BGE 125 II 217 E. 2 S. 220 mit
Hinweisen). Derartige Gründe lagen hier keine vor, als der Haftrichter über
die Verlängerung der Haft zu befinden hatte. Namentlich kann nicht gesagt
werden, aufgrund der im Haftrichterentscheid angeführten Umstände wäre die
Ausschaffung mit grosser Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen gewesen:

Dass die Haft dem Beschwerdegegner physische und psychische Probleme
bereitete, mag zutreffen, hätte aber seine Ausschaffung grundsätzlich nicht
gehindert. Es wird denn auch nicht geltend gemacht, der Beschwerdegegner sei
aus gesundheitlichen Gründen nicht transportfähig gewesen. Andernfalls hätte
dies wohl auch für die zugesicherte freiwillige Rückkehr nach Jugoslawien
gelten müssen, die vom Haftrichter gerade als entscheidrelevanter Umstand für
die Haftentlassung mit berücksichtigt wurde. Im Übrigen sind die angeblichen
gesundheitlichen Probleme des Beschwerdegegners nicht näher spezifiziert und
überhaupt nicht belegt. Anlässlich der Haftüberprüfung hatte der Haftrichter
verfügt, dass der Inhaftierte von dem für die Haft verantwortlichen Arzt
"betreffend Hafterstehungsfähigkeit" zu untersuchen sei
(Verhandlungsprotokoll vom 3. Mai 2002, S. 3 Ziff. 1). Weder aus dem
angefochtenen Entscheid noch aus den übrigen Akten ist ersichtlich, ob eine
solche Untersuchung stattgefunden hat. Hingegen steht fest, dass der
Haftrichter in der Folge die Ausschaffungshaft als "angemessen und
rechtmässig" beurteilt hatte. Hätte er beim Entscheid über die Verlängerung
der Haft bezüglich der psychischen Probleme Zweifel gehabt, so hätte er eine
psychiatrische Begutachtung veranlassen können.

Auch die Bereitschaft des Beschwerdegegners, freiwillig nach Jugoslawien
zurückzukehren und bei der Papierbeschaffung mitzuwirken, war kein Grund, die
Verlängerung der Ausschaffungshaft zu verweigern und die Entlassung
anzuordnen; ebenso wenig die vom Haftrichter erwähnte "eher zögerliche"
Behandlung des Rückübernahmegesuchs; für beides kann auf die hiervor zitierte
Rechtsprechung zu Art. 13c Abs. 5 lit. a ANAG verwiesen werden. Abgesehen
davon stehen die "glaubhaften" Zusicherungen des Beschwerdegegners im
Widerspruch zu seinem aktenkundigen bisherigen Verhalten. Zu keinem andern
Ergebnis gelangt man, wenn das vom Haftrichter  kritisierte Verhalten der
jugoslawischen Behörden bei der Rückübernahme unter dem Gesichtspunkt von
Art. 13b Abs. 3 ANAG (sog. Beschleunigungsgebot) zu beurteilen wäre: In der
Beschwerdeschrift wird detailliert aufgezeigt (S. 7/8 Ziff. 6), dass erste
Massnahmen zum Vollzug der Ausschaffung noch während des Strafvollzugs in die
Wege geleitet und alle nötigen und zumutbaren Vorkehren zur Papierbeschaffung
auch in der Folge zielstrebig getroffen wurden; von einer Verletzung des
Beschleunigungsgebots könnte jedenfalls keine Rede sein.

2.3 Gemäss Art. 13b Abs. 2 ANAG (zweiter Halbsatz) kann die Haft mit
Zustimmung der kantonalen richterlichen Behörde um höchstens sechs Monate
verlängert werden, wenn dem Vollzug der Weg- oder Ausweisung besondere
Hindernisse entgegenstehen. Ein solches Hindernis lag hier vor, weil bis zum
Ende der zweimonatigen Haftdauer am 2. Juli 2002 von den jugoslawischen
Behörden keine reisetauglichen Dokumente für den Beschwerdegegner ausgestellt
worden waren. In der Beschwerdeschrift (a.a.O.) werden die Gründe für die
Verzögerung näher erläutert. Das Amt für Polizeiwesen legt seinerseits im
Gesuch vom 26. Juni 2002 plausibel dar, dass innerhalb der beantragten
Verlängerung bis zum 15. September 2002 die erforderlichen Reisepapiere
hätten beschafft und die Ausschaffung vollzogen werden können. Insoweit waren
damit die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Ausschaffungshaft
erfüllt.

2.4 Zusammenfassend lagen im Zeitpunkt, da über die Haftverlängerung zu
entscheiden war, keine triftigen Gründe im Sinn von Art. 13c Abs. 5 lit. a
ANAG vor, welche die Ausschaffung als ausgeschlossen hätten erscheinen
lassen. Der Haftrichter hat dies verkannt, weshalb die angefochtene Verfügung
insofern Bundesrecht verletzt. Ob die beantragte Verlängerung allenfalls aus
andern Gründen hätte verweigert werden dürfen oder müssen, etwa mangels
Hafterstehungsfähigkeit des Beschwerdegegners, braucht nicht weiter geprüft
zu werden, nachdem dieser inzwischen ohnehin aus der Haft entlassen worden
ist; es erübrigt sich aus prozessualen Gründen deshalb auch, die Sache an den
Haftrichter zurückzuweisen. Immerhin sei beigefügt, dass sich der Haftrichter
für eine Ablehnung der beantragten Verlängerung jedenfalls nicht mit dem
Hinweis auf die vom Beschwerdegegner lediglich glaubhaft gemachten
gesundheitlichen Probleme hätte begnügen dürfen; die angefochtene Verfügung
würde deshalb auch insofern Bundesrecht verletzen, als der Sachverhalt in
diesem Punkt nicht vollständig abgeklärt wurde (vgl. Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid
aufzuheben. Im vorliegenden Verfahren sind keine Kosten zu verlegen und ist
keine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 156 Abs. 2 und Art. 159 Abs. 2
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, und der Entscheid des
Bezirksgerichtspräsidiums Plessur vom 28. Juni 2002 wird aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben, und es wird keine Parteientschädigung
zugesprochen.

3.
Dieses Urteil wird dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, dem
Amt für Polizeiwesen Graubünden, Asyl und Massnahmevollzug, (für sich und für
den Beschwerdegegner A.________) sowie dem Bezirksgerichtspräsidium Plessur
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. Oktober 2002

Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: