Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2A.200/2002
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2A.200/2002 /kil

Urteil vom 17. Mai 2002
II. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Wurzburger, Präsident,
Bundesrichter Müller, Bundesrichterin Yersin,
Gerichtsschreiber Uebersax.

A. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Hans
E. Rüegsegger, Schanzenstrasse 1, Postfach 7749, 3001 Bern,

gegen

Migrationsdienst des Kantons Bern, Eigerstrasse 73,
3011 Bern,
Haftgericht III Bern-Mittelland, Amthaus, Hodlerstrasse 7,
3011 Bern.

Ausschaffungshaft gemäss Art. 13b ANAG

(Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Haftgerichts III
Bern-Mittelland vom 12. April 2002)
Sachverhalt:

A.
Der tunesische Staatsangehörige A.________, geb. ... 1976, reiste am 26.
Februar 2001 illegal in die Schweiz ein und stellte in der Folge unter dem
Namen B.________ bzw. C.________, angeblich aus Libyen, ein Asylgesuch. Mit
Entscheid vom 12. September 2001 stellte das Bundesamt für Flüchtlinge
gestützt auf eine gutachterliche Herkunftsanalyse fest, der Gesuchsteller
stamme nicht aus Libyen, und trat auf das Asylgesuch nicht ein; gleichzeitig
wies es den Gesuchsteller aus der Schweiz weg. Mit Urteil vom 15. November
2001 trat die Schweizerische Asylrekurskommission auf eine dagegen erhobene
Beschwerde nicht ein.

B.
Nachdem die Behörden zwecks Papierbeschaffung an die Botschaft Tunesiens
gelangt waren, sicherte diese am 18. Februar 2002 einen Laissez-passer zu und
berichtigte die Personalien auf A.________. Am 3. April 2002 wurde dieser
zwecks Vollzugs der Wegweisung festgenommen. Am 5. April 2002 weigerte er
sich jedoch, das für seine Ausschaffung gebuchte Flugzeug nach Tunesien zu
besteigen. Noch am gleichen Tag stellte der Ausländer- und Bürgerrechtsdienst
des Kantons Bern gestützt auf eine entsprechende Haftverfügung des
Migrationsdienstes des Kantons Bern vom 6. März 2002 beim Haftgericht III
Bern-Mittelland Antrag auf Genehmigung der Ausschaffungshaft. Der Haftrichter
4 am Haftgericht III Bern-Mittelland prüfte und bestätigte die Haft am 8.
April 2002 (mit schriftlicher Begründung vom 12. April 2002).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 1. Mai 2002 an das Bundesgericht
beantragt A.________, der Haftrichterentscheid sei aufzuheben und er sei
sofort aus der Haft zu entlassen. Der Haftrichter 4 am Haftgericht III
Bern-Mittelland schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Der Migrationsdienst
des Kantons Bern hat seine Stellungnahme erst nach Ablauf der ihm vom
Bundesgericht gesetzten Vernehmlassungsfrist eingereicht. Der
Beschwerdeführer erhielt jedoch Gelegenheit, sich dazu zu äussern. Das
Bundesamt für Ausländerfragen hat sich innert Frist nicht vernehmen lassen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Nachdem der Migrationsdienst des Kantons Bern seine Stellungnahme an das
Bundesgericht nach Ablauf der ihm gesetzten Frist eingereicht hat, ist diese
Eingabe grundsätzlich aus den Akten zu weisen. Das Bundesgericht kann jedoch
auf die zusammen mit der Vernehmlassung eingereichten Akten, ohne allfällige
ergänzende Erwägungen in der Stellungnahme selber zu berücksichtigen,
abstellen. Der Beschwerdeführer hatte überdies Gelegenheit, sich dazu zu
äussern.

2.
2.1Die zuständige Behörde kann einen Ausländer in Ausschaffungshaft nehmen,
wenn die Voraussetzungen von Art. 13b ANAG erfüllt sind. Danach ist
erforderlich, dass ein erstinstanzlicher, nicht notwendigerweise auch
rechtskräftiger Weg- oder Ausweisungsentscheid vorliegt (vgl. BGE 121 II 59
E. 2 S. 61; 122 II 148 ff.), dessen Vollzug (z.B. wegen fehlender
Reisepapiere) noch nicht möglich, jedoch absehbar ist (BGE 125 II 369 E. 3a
S. 374, 377 E. 2a S. 379). Zudem muss einer der in Art. 13b Abs. 1 ANAG
genannten Haftgründe bestehen (BGE 125 II 369 E. 3a S. 374, 377 E. 3a S. 381;
124 II 1 E. 1 S. 3). Nach Art. 13b Abs. 1 lit. c ANAG kann Ausschaffungshaft
insbesondere verfügt werden, wenn konkrete Anzeichen befürchten lassen, dass
sich der Ausländer der Ausschaffung entziehen will (Gefahr des
Untertauchens).

2.2 Der Beschwerdeführer wurde im Asylverfahren rechtskräftig weggewiesen,
und der Vollzug dieser Massnahme erscheint nicht undurchführbar. Sodann ist
der Beschwerdeführer unter mindestens einer falschen Identität aufgetreten,
hat bereits einen Ausschaffungsversuch verhindert und gibt an, keinesfalls in
ein arabisches Land, insbesondere Tunesien, ausreisen zu wollen. Zwar
behauptet er, freiwillig in ein anderes (vorab europäisches) Land ausreisen
zu wollen; er vermag aber nicht darzutun, wie er dies auf legale Weise tun
könnte, und überdies hätte er bereits während längerer Zeit die Gelegenheit
zu entsprechenden Vorkehren gehabt. Damit bestehen offensichtlich genügend
Anhaltspunkte dafür, dass er sich bei einer allfälligen Freilassung der
Ausschaffung entziehen würde, weshalb der Haftgrund der Untertauchensgefahr
ohne weiteres zu bejahen ist.

3.
3.1Der angefochtene Entscheid erweckt jedoch insofern Bedenken, als die Frist
von 96 Stunden, innert der die Haft gemäss Art. 13c Abs. 2 ANAG richterlich
zu prüfen ist, unbestrittenermassen nicht eingehalten wurde, was bereits der
Haftrichter festgehalten hat. Dieser hielt jedoch dafür, es liege kein
schwerwiegender Verstoss gegen die Verfahrensvorschrift von Art. 13c Abs. 2
ANAG vor und der Beschwerdeführer habe den Grund für die verspätete
haftrichterliche Einvernahme selber zu verantworten, weshalb sich eine
Haftentlassung nicht rechtfertige.

3.2 Grundsätzlich kann die Fremdenpolizei einen Ausländer bei Vorliegen der
entsprechenden Voraussetzungen während 96 Stunden ohne richterliche Prüfung
festhalten, wenn sie aufgrund der konkreten Umstände davon ausgehen darf,
dass der Vollzug der Wegweisung innert dieser Frist möglich sein wird. Auch
in diesem Fall ist die Ausschaffungshaft aber formell anzuordnen und der
Betroffene über den Grund seiner Verhaftung und seine Rechte zu informieren.

3.3 Der Beschwerdeführer wurde am 3. April 2002 um 16.00 Uhr im Hinblick auf
die vorgesehene Ausschaffung festgenommen. Ab diesem Zeitpunkt begann die
gesetzliche Frist von 96 Stunden zu laufen. Freilich durften die kantonalen
Behörden an sich davon ausgehen, der Vollzug der Wegweisung werde
fristgerecht möglich sein, da das erforderliche Reisepapier bei der Festnahme
des Beschwerdeführers am 3. April 2002 bereits vorlag und für den 5. April
2002 ein Flug nach Tunesien gebucht werden konnte. Überdies war die
Ausschaffungshaft formell angeordnet. Die kantonalen Behörden waren deshalb
nicht gehalten, bereits bei der Inhaftierung des Beschwerdeführers eine
richterliche Prüfung zu beantragen. Nachdem der Beschwerdeführer die
Ausschaffung vereitelt hatte, stellte der Ausländer- und Bürgerrechtsdienst
noch am gleichen Tag (d.h. am 5. April 2002) einen Genehmigungsantrag beim
zuständigen Haftgericht. Die haftrichterliche Bestätigung verzögerte sich
jedoch, da es sich beim 5. April 2002 um einen Freitag handelte; sie fand
erst am darauf folgenden Montag, den 8. April 2002, um 16.05 Uhr statt. Die
gesetzlich vorgeschriebene Frist von 96 Stunden wurde somit um rund 24
Stunden überschritten.

4.
4.1Nicht jede Verletzung von Verfahrensvorschriften führt indessen zur
Haftentlassung. Nach der Rechtsprechung kommt es vielmehr einerseits darauf
an, welche Bedeutung den verletzten Vorschriften für die Wahrung der Rechte
des Betroffenen zukommt, andererseits kann das Anliegen einer reibungslosen
Durchsetzung der Ausschaffung der Freilassung entgegenstehen, insbesondere
wenn der Ausländer die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet (vgl.
BGE 121 II 105 E. 2c S. 109, 110 E. 2a S. 113). Entscheidend ist demnach eine
Abwägung aller massgeblichen Interessen unter Berücksichtigung einer
allfälligen Straffälligkeit des Ausländers, ohne dass eine solche aber
zwingend gegeben sein muss (ähnlich unveröffentlichtes Urteil 2A.520/1999 vom
25. Oktober 1999 i.S. L).

4.2 Vorliegend rechtfertigt sich eine Haftentlassung nicht: Der
Beschwerdeführer hat sich die verspätete Haftprüfung wegen seiner Weigerung,
ins gebuchte Flugzeug zu steigen, weitgehend selber zuzuschreiben. Die
kantonalen Behörden haben darauf sofort reagiert und unverzüglich die
haftrichterliche Prüfung beantragt. Die fristgerechte Durchführung scheiterte
daran, dass der missglückte Ausschaffungsversuch kurz vor dem Wochenende
stattfand. Die Verhandlung vor dem Haftrichter erfolgte aber unverzüglich am
Montag nach dem Wochenende. Es besteht kein Grund, weshalb weitere - diesmal
mit Zwangsmitteln verbundene - Ausschaffungen nicht innert kurzer Frist
möglich sein sollten; insbesondere kann zurzeit davon ausgegangen werden,
dass die Behörden ein neues Reisepapier erhalten bzw. die Verlängerung der
Gültigkeit des bestehenden erwirken werden. Der Beschwerdeführer würde sich
bei einer Haftentlassung für eine Ausschaffung mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit nicht zur Verfügung halten. Zudem ist er zwar nicht
gemeingefährlich und bisher auch nicht vorbestraft; es darf aber doch
berücksichtigt werden, dass er in mehrere Verfahren im Bereich der
Kleinkriminalität (wiederholte Verzeigungen wegen Ladendiebstahls, wobei der
Beschwerdeführer mindestens in einem Fall geständig ist, einmaliger Besitz
einer geringen Menge von Marihuana) verwickelt ist. Unter diesen Umständen
überwiegt das Interesse an der reibungslosen Durchsetzung der Ausschaffung
jenes des Beschwerdeführers an einer strikten Einhaltung der
Verfahrensvorschriften, ohne dass es darauf ankommt, ob der Beschwerdeführer
bereits strafrechtlich verurteilt worden ist und ob er sich schwerwiegendere
Verstösse gegen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit zuschulden kommen
lassen hat.

4.3 Die Behörden des Kantons Bern werden aber ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass sie sich künftig - unter Berücksichtigung allfälliger
Wochenenden - so zu organisieren haben, dass die gesetzlichen Fristen
eingehalten werden, was unter Umständen freilich auch Auswirkungen auf die
Verfügbarkeit der allfälligen Rechtsvertreter zeitigen könnte. Der Anspruch
auf rechtzeitige richterliche Prüfung der Ausschaffungshaft bzw. deren
Verlängerung in einer mündlichen Verhandlung stellt die zentrale prozessuale
Garantie dar, welche vor willkürlichem Entzug der Freiheit schützen soll (BGE
121 II 110 E. 2b S. 113). Überdies ist Art. 13c Abs. 2 ANAG zwingender Natur
und nicht blosse Ordnungsvorschrift (so auch unveröffentlichtes Urteil
2A.520/1999 vom 25. Oktober 1999 i.S. L.).

5.

Demnach ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Sinne der Erwägungen
abzuweisen. Dem bedürftigen Beschwerdeführer, dessen Rechtsbegehren nicht
aussichtslos war, ist antragsgemäss die unentgeltliche Rechtsprechung und
Verbeiständung zu gewähren (Art. 152 OG). Damit sind keine Kosten zu erheben,
und der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers ist für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege bewilligt, und es
wird ihm Fürsprecher Hans E. Rüegsegger als unentgeltlicher Rechtsbeistand
beigegeben.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Fürsprecher Hans E. Rüegsegger, wird für
das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- aus der
Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Migrationsdienst des Kantons
Bern und dem Haftgericht III Bern-Mittelland sowie dem Bundesamt für
Ausländerfragen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 17. Mai 2002

Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: