Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1A.83/2002
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1A.83/2002 /sta

Urteil vom 22. Juli 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Féraud, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Gerber.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Emil
Nisple, Oberer Graben 26, 9000 St. Gallen,

gegen

Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen, Oberer Graben 32, 9001
St. Gallen,
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, Abteilung I, Davidstrasse 31,
9001 St. Gallen.

Opferhilfe; Genugtuung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen, Abteilung I,
vom 22. Februar 2002.

Sachverhalt:

A.
Am 10. September 1994 schoss Y.________ kurz nach Mittag in einem Restaurant
in Rorschach mit einem Trommelrevolver auf X.________, einem ihm nicht näher
bekannten Zechkumpanen, und traf ihn in Bauch und Becken. Y.________ wurde
wegen versuchter vorsätzlicher Tötung (und anderer Delikte) zu einer
Zuchthausstrafe von sechs Jahren verurteilt.

B.
Am 1. April 1998 gewährte das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St.
Gallen (JPD) X.________ einen Vorschuss nach Opferhilfegesetz von Fr.
10'000.--. Mit Verfügung vom 4. Februar 1999 sprach die SUVA X.________ eine
monatliche Invalidenrente zufolge Erwerbsunfähigkeit von 50% zu. Diese betrug
am 1. Dezember 1998 Fr. 1'927.-- und ab 1. Januar 1999 Fr. 1'937.--.
Zusätzlich erhielt X.________ eine Integritätsentschädigung von Fr.
22'842.--. Die Invalidenversicherung ihrerseits sprach X.________ ab 1.
Februar 1996 eine halbe Invalidenrente zu; ab 1. Januar 1999 betrug diese
Rente (nach Abzug der Quellensteuer) Fr. 229.--. Schliesslich wurde ihm auch
eine Invalidenrente der beruflichen Vorsorge von monatlich Fr. 1'926.--,
abzüglich 10% Quellensteuer, zugesprochen.

C.
Am 13. Dezember 2000 beantragte X.________ eine Genugtuung von Fr. 97'000.--.
Mit Verfügung des JPD vom 7. September 2001 wurde ihm eine Genugtuung von Fr.
17'158.-- (Fr. 50'000.-- abzüglich Fr. 10'000.-- Vorschuss und Fr. 22'842.--
Integritätsentschädigung) samt 5% Zinsen zugesprochen. Im Mehrbetrag wurde
das Genugtuungsbegehren abgewiesen.

D.
Gegen diese Verfügung rekurrierte X.________ an das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen mit dem Begehren, die Genugtuung neu auf mindestens Fr.
47'158.-- (Fr. 80'000.-- abzüglich Fr. 10'000.-- Vorschuss und Fr. 22'842.--
Integritätsentschädigung) festzulegen. Das Versicherungsgericht wies den
Rekurs am 22. Februar 2002 ab.

E.
Hiergegen erhob X.________ am 4. April 2002 Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans
Eidgenössische Versicherungsgericht. Dieses leitete die Beschwerde an das
zuständige Bundesgericht in Lausanne weiter. Der Beschwerdeführer beantragt,
der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Genugtuung neu auf
mindestens Fr. 47'158.-- (Fr. 80'000.-- abzüglich Fr. 10'000.-- Vorschuss und
Fr. 22'842.-- Integritätsentschädigung) nebst 5% Zins seit dem 10. Oktober
1994 festzulegen.

F.
Das JPD beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Das Versicherungsgericht
hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Das Bundesamt für Justiz wirft in
seiner Stellungnahme vom 21. Mai 2002 einzig die Frage auf, ob auf die
Beschwerde angesichts von Art. 104 OG (Rüge der Unangemessenheit) eingetreten
werden könne.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, der sich auf
das Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten
(Opferhilfegesetz; OHG; SR 312.5) stützt. Hiergegen steht grundsätzlich die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht offen (Art. 97 Abs. 1
i.V.m. Art. 5 VwVG; Art. 98 lit. g OG). Auf die rechtzeitig erhobene
Beschwerde ist daher einzutreten.

1.2 Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht können die
Verletzung von Bundesrecht - einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch
des Ermessens - und die unrichtige oder unvollständige Feststellung des
rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 104 lit. a und b OG). Hat
allerdings - wie im vorliegenden Fall - eine richterliche Behörde als
Vorinstanz entschieden, ist das Bundesgericht an den festgestellten
Sachverhalt gebunden, es sei denn, dieser sei offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden (Art. 105 Abs. 2 OG). Nicht überprüfen kann es die Frage
der Angemessenheit des angefochtenen Entscheides (Art. 104 lit. c OG).

2.
Gemäss Art. 12 Abs. 2 OHG kann dem Opfer unabhängig von seinem Einkommen eine
Genugtuung ausgerichtet werden, wenn es schwer betroffen ist und besondere
Umstände es rechtfertigen. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass der
Beschwerdeführer Anspruch auf eine Genugtuung hat, umstritten ist nur deren
Höhe.

Das Opferhilfegesetz enthält keine Bestimmungen über die Bemessung der
Genugtuung. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind grundsätzlich die
von den Zivilgerichten zu Art. 47 und 49 OR entwickelten Grundsätze
sinngemäss heranzuziehen (BGE 123 II 210 E. b/dd S. 216). Namentlich gewährt
die opferrechtliche Genugtuung nicht weitergehende Ansprüche, als das Opfer
zivilrechtlich gegen den Täter geltend machen könnte (BGE 121 II 369 E. 5a S.
376). Dabei ist allerdings zu beachten, dass es sich bei der opferrechtlichen
Genugtuung um eine staatliche Hilfeleistung handelt (BGE 125 II 169 E. 2b S.
173, 554 E. 2a S. 556). Sie erreicht deshalb nicht automatisch die gleiche
Höhe wie die zivilrechtliche, sondern kann unter Umständen davon abweichen
(BGE 125 II 169 E. 2b/bb S. 174; Bundesgerichtsentscheide 1A.80/1998 vom 5.
März 1999, publ. in BVR 1999 481, E. 3c/cc, und 1A.235/2000 vom 21. Februar
2001 E. 3a; vgl. Klaus Hütte, Genugtuung - eine Einrichtung zwischen
Zivilrecht, Strafrecht, Sozialversicherungsrecht und Opferhilfegesetz, in:
Collezione Assista, Genf 1998, S. 264 ff., 278 f.).

Die Bemessung der Genugtuung ist eine Entscheidung nach Billigkeit, die von
einer Würdigung der massgeblichen Kriterien abhängt. Innerhalb gewisser
Grenzen sind mehrere angemessene Lösungen möglich (BGE 123 II 210 E. 2c S.
212 f.). Den kantonalen Behörden steht ein breiter Ermessensspielraum zu, in
den das Bundesgericht nur eingreift, wenn die kantonale Instanz ihr Ermessen
überschritten oder missbraucht hat (Art. 104 lit. a OG). Im Zusammenhang mit
der Bemessung einer Genugtuungssumme greift es ein, wenn grundlos von den in
Lehre und Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgewichen wird, wenn
Tatsachen berücksichtigt werden, die für den Entscheid im Einzelfall keine
Rolle spielen dürfen oder wenn umgekehrt Umstände ausser Betracht geblieben
sind, die hätten beachtet werden müssen, oder wenn sich der Entscheid als
offensichtlich unbillig bzw. als in stossender Weise ungerecht erweist (BGE
125 II 169 E. 2b/bb S. 174; 125 III 412 E. 2a S. 417 f.; 123 III 10 E. 4c/aa
S. 13, 306 E. 9b S. 315).

3.
Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanzen hätten eine vorbestehende
histrionische Persönlichkeitsstörung als genugtuungsmindernden Grund
berücksichtigt, obwohl medizinisch nicht erwiesen sei, dass eine derartige
Störung bereits vor dem Unfall bestanden habe. Gemäss Gutachten des Zentrums
für Medizinische Begutachtung (ZMB) vom 18. Juni 1997 hätten die neurotischen
Störungen des Beschwerdeführers ihre Grundlage in seiner Kindheit und Jugend.
Die Schilderungen der Kindheit des Beschwerdeführers seien jedoch durchwegs
positiv; es sei deshalb rätselhaft, was der Anlass für eine solche
Persönlichkeitsstörung hätte sein können. Im neueren psychiatrischen
Gutachten Dr. Z.________ vom 30. Mai 2000 werde sogar festgehalten, dass
keine Anhaltspunkte für eine histrionische Grundpersönlichkeit gefunden
werden konnten.

3.1 Diese Ausführungen des Beschwerdeführers stehen im Widerspruch zu seinem
Rekurs an das Versicherungsgericht von 20. September 2001. Darin (S. 3/4
Ziff. 4) hatte er die Existenz einer vorbestehenden neurologischen
Persönlichkeitsstörung nicht bestritten, sondern lediglich gerügt, dass es
"etwas kleinlich" erscheine, dies als genugtuungsminderndes Argument
aufzuführen; schenke man einem solchen Detail derartige Beachtung, so müssten
auch genugtuungserhöhende "Kleinigkeiten" stärker berücksichtigt werden. Der
Beschwerdeführer berief sich in seinem Rekurs selbst auf das Gutachten des
ZMB und erwähnte das Gutachten Dr. Z.________ mit keinem Wort. Letzteres
befindet sich auch nicht in den vom Versicherungsgericht beigezogenen Akten
des JPD. Unter diesen Umständen durfte das Versicherungsgericht davon
ausgehen, das Vorbestehen einer neurologischen Persönlichkeitsstörung sei
unstreitig und hatte keine Veranlassung, dies näher zu prüfen.

3.2 Dann aber kann der Beschwerdeführer diese tatsächliche Feststellung des
Versicherungsgerichts vor Bundesgericht nicht mehr in Frage stellen: Neue
tatsächliche Vorbringen und Beweismittel sind im Verfahren der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid einer gerichtlichen
Vorinstanz (Art. 105 Abs. 2 OG; vgl. oben, E. 1.2) nur zulässig, wenn sie von
der Vorinstanz von Amtes wegen hätten erhoben werden müssen und ihre
Nichterhebung eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften darstellt
(BGE 121 II 97 E. 1c S. 99 mit Hinweisen; Peter Karlen, in: Thomas
Geiser/Peter Münch, Prozessieren vor Bundesgericht, 2. Aufl., Rz 3.67 S.
112). Den Parteien ist es überdies versagt, neue Tatsachen oder Beweismittel
vorzubringen, die sie schon vor der Vorinstanz hätten geltend machen können
(BGE 121 II 97 E. 1c S. 100; Nicolas Wisard, Les faits nouveaux en recours de
droit administratif au Tribunal fédéral, AJP 1997 1369 ff., insbes. S. 1376).

4.
Gleiches gilt, soweit der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanzen seien von
einem zu niedrigen Invaliditätsgrad von 50% ausgegangen; der IV-Grad des
Beschwerdeführers sei mit Verfügung der Sozialversicherungsanstalt St. Gallen
vom 20. März 2001 auf 60% angepasst worden.

In seinem Rekurs vom 20. September 2001 hatte der anwaltlich vertretene
Beschwerdeführer den vom JPD zugrunde gelegten IV-Grad von 50% nicht
bestritten. Seinem Rekurs legte er die Verfügungen der SUVA vom 4. Februar
1999 und der Sozialversicherungsanstalt St. Gallen vom 22. Juli 1999 bei, die
von einem IV-Grad von 50% ausgehen. Die Verfügung vom 20. März 2001 legte er
dem Gericht dagegen nicht vor; sie befindet sich auch nicht in den vom
Versicherungsgericht beigezogenen Akten des JPD. Unter diesen Umständen
durfte das Versicherungsgericht von den unbestrittenen Feststellungen des JPD
ausgehen und musste nicht von Amtes wegen den IV-Grad überprüfen.

5.
Im Folgenden ist deshalb auf der Grundlage des vom Versicherungsgericht
festgestellten Sachverhalts zu prüfen, ob das Versicherungsgericht bei der
Bemessung der Genugtuung sein Ermessen überschritten oder missbraucht hat
(Art. 104 lit. a OG).

5.1 Das Versicherungsgericht hat bei seinem Entscheid berücksichtigt, dass
der Beschwerdeführer durch die Straftat in seiner körperlichen und
psychischen Integrität dauernd beeinträchtigt wurde und noch heute Schmerzen
empfindet. Es berücksichtigte auch die schwerwiegenden sozialen Folgen für
den Beschwerdeführer: den Verlust der Arbeitsstelle, die fehlenden
beruflichen Aussichten, die zeitweise Fürsorgeabhängigkeit, Schwierigkeiten
mit Ärzten und dem Ausländeramt. Es stellte ferner in Rechnung, dass die
Straftat ein für das Familienleben sehr einschneidendes Erlebnis darstellte
und somit für die familiären Probleme des Beschwerdeführers zumindest
mitursächlich war. Schliesslich wurde genugtuungserhöhend die besonders
rücksichts- und sinnlose Tat sowie die fehlende Reue des Täter berücksichtigt
und ein Mitverschulden des Beschwerdeführers verneint. Genugtuungsmindernd
fiel dagegen die vorbestehende histrionische Persönlichkeitsstörung ins
Gewicht: Die dissoziative Störung des Beschwerdeführers habe ihre Grundlagen
in der Kindheit und Jugend des Beschwerdeführers und sei deshalb nur
teilweise auf die Straftat zurückzuführen, weshalb sie nicht vollumfänglich
bei der Bemessung der Genugtuung zu berücksichtigen sei.

Damit hat das Versicherungsgericht alle wesentlichen Bemessungsfaktoren - und
nur solche - berücksichtigt. Die von ihm festgesetzte Genugtuung von Fr.
50'000.-- entspricht der doppelten Integritätsentschädigung und trägt somit
den im vorliegenden Fall gewichtigen subjektiven Faktoren des Schadens
Rechnung. Der angefochtene Entscheid kann auch im Ergebnis, hinsichtlich der
ausgesprochenen Genugtuungshöhe, nicht als offensichtlich unbillig bzw. als
in stossender Weise ungerecht bezeichnet werden.

6.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. Es sind keine Kosten zu
erheben (Art. 16 Abs. 1 OHG; vgl. BGE 122 II 211 E. 4b S. 219).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Justiz- und Polizeidepartement
und dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, Abteilung I, sowie dem
Bundesamt für Justiz schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. Juli 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
i.V.