Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1A.25/2002
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1A.25/2002/sta

Urteil vom 13. März 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Féraud, Catenazzi,
Gerichtsschreiber Härri.

N. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Maître Philippe Rossy, rue de
Bourg 8, case postale 3712, 1002 Lausanne,

gegen

Bundesamt für Justiz, Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion
Auslieferung, Bundesrain 20, 3003 Bern.

Auslieferung an Deutschland - B 126897-HUG

(Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Auslieferungsentscheid des
Bundesamts für Justiz vom 4. Januar 2002)
Sachverhalt:

A.
Der jugoslawische Staatsangehörige N.________ (geb. 1970) befindet sich seit
Dezember 2000 wegen eines schweizerischen Strafverfahrens in Lausanne in
Haft. Aufgrund eines Fahndungsersuchens von Interpol Wiesbaden ordnete das
Bundesamt für Justiz gegen ihn am 1. Juni 2001 die vorläufige
Auslieferungshaft an. Am 9. Juli 2001 erliess das Bundesamt den
Auslieferungshaftbefehl. Dagegen erhob N.________ keine Beschwerde.

Am 19. Juli 2001 stellte das Hessische Ministerium der Justiz ein formelles
Auslieferungsersuchen. Dieses stützte sich auf den Haftbefehl des
Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 27. Juni 2001, in dem N.________
Körperverletzung und Drohung zur Last gelegt wird; überdies auf die
rechtskräftigen Urteile des Amtsgerichts Bad Homburg vom 27. April 1999 und
20. Januar 2000, mit welchen N.________ wegen vorsätzlichen Fahrens ohne
Fahrerlaubnis zu 4 Monaten bzw. wegen Beleidigung und gefährlicher
Körperverletzung zu 7 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden war.

Am 15. November 2001 stellte das Hessische Ministerium der Justiz ein
Nachtragsersuchen um Auslieferung von N.________ zur Vollstreckung der aus
dem Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 20. November 1996 noch zu
verbüssenden Reststrafe von 85 Tagen.

B.
Am 4. Januar 2002 bewilligte das Bundesamt für Justiz die Auslieferung an
Deutschland für die dem Auslieferungsersuchen vom 19. Juli 2001 zugrunde
liegenden Straftaten.

C.
N.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Hauptantrag, den
Entscheid des Bundesamtes aufzuheben und die Sache zur Vervollständigung des
Sachverhaltes und zum neuen Entscheid an dieses zurückzuweisen. Subsidiär
beantragt er, den Entscheid des Bundesamtes aufzuheben; die Auslieferung sei
von der Zusicherung der deutschen Behörden abhängig zu machen, dass
N.________ nach Abschluss der Verfahren in Deutschland nicht nach Serbien
ausgeliefert oder ausgewiesen werde.

D.
Das Bundesamt hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die Beschwerde
abzuweisen.

N. ________ hat innert Frist keine Replik eingereicht.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gemäss Art. 37 Abs. 3 OG wird das bundesgerichtliche Urteil in einer
Amtssprache, in der Regel in der Sprache des angefochtenen Entscheids
verfasst.

Der angefochtene Entscheid ist in deutscher Sprache verfasst. Der
Beschwerdeführer versteht hinreichend deutsch, hingegen nur schlecht
französisch (act. 17a S. 2, act. 36). Ausserdem geht es um eine Auslieferung
nach Deutschland. Das vorliegende Urteil wird deshalb, obwohl die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde in französischer Sprache eingereicht wurde, in
deutscher Sprache verfasst.

1.2 Die Frist für die Einreichung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde von 30
Tagen (Art. 106 Abs. 1 OG) ist am 6. Februar 2002 abgelaufen. Der Anwalt hat
die von ihm verfasste Beschwerde rechtzeitig eingereicht. Hingegen sind die
vom Beschwerdeführer am 14. Februar 2002 persönlich verfassten und dem
Bundesgericht in der Folge zugesandten Bemerkungen verspätet. Diese können
daher nicht berücksichtigt werden.

2.
Auslieferungsfragen sind in erster Linie auf Grund der massgebenden
Staatsverträge zu entscheiden. Im vorliegenden Fall gilt das Europäische
Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EAUe; SR 0.353.1), dem
sowohl die Schweiz als auch Deutschland beigetreten sind, sowie das zweite
Zusatzprotokoll zu diesem Übereinkommen vom 17. März 1978, das von beiden
Staaten ratifiziert worden ist (SR 0.353.12). Zusätzlich ist der Vertrag
zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik
Deutschland vom 13. November 1969 über die Ergänzung des Europäischen
Auslieferungsübereinkommens und die Erleichterung seiner Anwendung
(Zusatzabkommen; SR 0.353.913.61) zu berücksichtigen. Das schweizerische
Recht - namentlich das Rechtshilfegesetz (IRSG; SR 351.1) und die
dazugehörige Verordnung (IRSV; SR 351.11) - kommt nur zur Anwendung, wenn
eine staatsvertragliche Regelung fehlt oder lückenhaft ist oder wenn das
nationale Recht geringere Anforderungen an die Auslieferung stellt und
deshalb nach dem "Günstigkeitsprinzip" zur Anwendung gelangt (BGE 122 II 140
E. 2, 485 E. 1 mit Hinweisen).

Gegen den angefochtenen Auslieferungsentscheid ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig (Art. 55 Abs. 3
in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 IRSG). Der Beschwerdeführer ist durch den
Entscheid persönlich und direkt berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse
an dessen Aufhebung oder Änderung, so dass er zur Beschwerde befugt ist (Art.
21 Abs. 3 IRSG).

Das Bundesgericht prüft die erhobenen Rügen grundsätzlich mit freier
Kognition. Es ist aber nicht verpflichtet, nach weiteren der Auslieferung
allenfalls entgegenstehenden Gründen zu forschen, die aus der Beschwerde
nicht hervorgehen (BGE 112 Ib 576 E. 3 S. 586).

3.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe keine Reststrafe von 85 Tagen zu
verbüssen. Das habe er bereits vorinstanzlich vorgebracht. Die Vorinstanz
habe insoweit den Sachverhalt nicht vollständig abgeklärt.

Die Vorinstanz äussert sich zwar in den Erwägungen des angefochtenen
Entscheids (S. 3) zum Nachtragsersuchen vom 15. November 2001, mit dem die
Auslieferung zur Vollstreckung der Reststrafe von 85 Tagen verlangt wird. Die
Vorinstanz hat dazu aber keinen formellen Entscheid getroffen. Nach dem
massgeblichen Dispositiv des angefochtenen Entscheids hat die Vorinstanz die
Auslieferung bewilligt einzig für die dem Auslieferungsersuchen vom 19. Juli
2001 zugrunde liegenden Straftaten. Fehlt es zum Nachtragsersuchen an einem
anfechtbaren Entscheid, kann der Beschwerdeführer dazu in der vorliegenden
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts vorbringen. Auf die Beschwerde kann
deshalb in diesem Punkt nicht eingetreten werden. Wie die Vorinstanz in der
Vernehmlassung (S. 3) ausführt, wird sie zum Nachtragsersuchen einen
separaten Entscheid fällen. Sollte sie damit die Auslieferung zur
Vollstreckung des Strafrests von 85 Tagen bewilligen, könnte der
Beschwerdeführer dagegen  Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben.

4.
Der Beschwerdeführer bringt vor, seine Sicherheit in den deutschen
Gefängnissen sei nicht gewährleistet. Die Vorinstanz habe auch dazu den
Sachverhalt nicht hinreichend abgeklärt. Sie habe insoweit Art. 25 Abs. 3 BV
verletzt, wonach niemand in einen Staat ausgeschafft werden darf, in dem ihm
Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder
Bestrafung droht. Ausserdem habe sie die Verfahrensgarantien nach Art. 29
Abs. 1 und 2 BV nicht beachtet.

Soweit sich der Beschwerdeführer insoweit auf den Schweizer ordre public
beruft, sind seine Vorbringen unbehelflich. Nach ständiger Rechtsprechung
kann die Schweiz eine Auslieferung in ein Land, mit dem vertragliche
Bindungen bestehen, nicht durch Berufung auf den innerstaatlichen ordre
public ablehnen, es sei denn, dieser werde in der Verträgen ausdrücklich
vorbehalten. Das ist hier nicht der Fall (BGE 112 Ib 342 E. 2b mit Hinweis).

Nach der Rechtsprechung gehören allerdings die von der EMRK (SR 0.101) und
dem UNO-Pakt II (SR 0.103.2) gewährleisteten Verfahrensgarantien zum
internationalen ordre public. Die Schweiz würde ihren internationalen
Verpflichtungen zuwiderhandeln, wenn sie jemanden an einen Staat ausliefern
würde, beim dem ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass der
Betroffene der Gefahr einer der EMRK oder dem UNO-Pakt II widersprechenden
Behandlung ausgesetzt ist (BGE 126 II 324 E. 4c mit Hinweisen). Der
Betroffene muss insoweit die ernsthafte und objektive Gefahr einer schweren
Verletzung der Menschenrechte glaubhaft machen, welche ihn konkret berühren
kann (BGE 126 II 324 E. 4a mit Hinweisen).

Der Beschwerdeführer legt in der Beschwerde nicht näher dar, inwiefern er in
Deutschland der ernsthaften Gefahr einer schweren Verletzung der
Menschenrechte ausgesetzt sein soll. Dass er dazu im vorinstanzlichen
Verfahren konkrete Hinweise gemacht habe, sagt er nicht. Dies zu tun, wäre
aber seine Sache gewesen. Eine unvollständige Feststellung des Sachverhaltes
kann der Vorinstanz insoweit nicht vorgeworfen werden. In seiner Einvernahme
vom 6. Juli 2001 (act. 10 S. 1 unten) hat der Beschwerdeführer nicht
konkretisiert, inwiefern er in Deutschland der Gefahr einer schweren
Verletzung der Menschenrechte ausgesetzt sei; ebenso wenig in der Einvernahme
vom 3. Oktober 2001 (act. 17a S. 3). In der Einvernahme vom 30. November 2001
(act. 28) hat er zu seiner angeblichen Gefährdung in den deutschen
Gefängnissen überhaupt nichts mehr vorgebracht. Die Fälle, die im Bericht von
Amnesty International für das Jahr 2001 (act. 27a) erörtert werden, betreffen
nicht den Beschwerdeführer. In Deutschland gelten sowohl das EAUe als auch
die EMRK. Die Beachtung der Garantien der EMRK durch Deutschland wird deshalb
vermutet. Der Beschwerdeführer legt in der Beschwerde nichts dar, was
geeignet wäre, diese Vermutung umzustossen. Sollte er gleichwohl in
Deutschland in seinen von der EMRK gewährleisteten Rechten beeinträchtigt
werden, kann er von den dort gegebenen Rechtsmitteln Gebrauch machen und
danach gegebenenfalls den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
anrufen.

5.
Der Beschwerdeführer macht geltend, es bestehe die Gefahr, dass er nach
Abschluss der Verfahren in Deutschland nach Jugoslawien ausgeschafft werde.
Dort drohe ihm eine unmenschliche Behandlung wegen seiner politischen
Anschauungen und seiner Teilnahme am Widerstand gegen das Regime des
damaligen Präsidenten Milosevic. Die Auslieferung nach Deutschland sei
deshalb jedenfalls von der Zusicherung der deutschen Behörden abhängig zu
machen, den Beschwerdeführer nach Abschluss der Verfahren in Deutschland
nicht nach Serbien auszuschaffen. Die Auslieferung nach Deutschland ohne eine
solche Zusicherung stünde in Widerspruch zu Art. 25 Abs. 3 und Art. 10 Abs. 1
BV, Art. 37 Abs. 3 IRSG, 14a Abs. 4 ANAG und Art. 15 EAUe.

Soweit sich der Beschwerdeführer insoweit auf den Schweizer ordre public
beruft, ist die Beschwerde aus dem oben (E. 4) dargelegten Grunde
unbehelflich.

Nichts herleiten kann der Beschwerdeführer im jetzigen Stadium aus Art. 15
EAUe. Danach darf ausser im Falle von Art. 14 Ziff. 1 lit. b EAUe der
ersuchende Staat den ihm Ausgelieferten, der von einer anderen Vertragspartei
oder einem dritten Staat wegen vor der Übergabe begangener strafbarer
Handlungen gesucht wird, nur mit Zustimmung des ersuchten Staates der anderen
Vertragspartei oder dem dritten Staat ausliefern. Diese Bestimmung kommt erst
zur Anwendung, falls der Beschwerdeführer nach der Auslieferung nach
Deutschland von dort nach Jugoslawien weitergeliefert werden sollte. Dafür
wäre gemäss Art. 15 EAUe die Zustimmung der Schweizer Behörden erforderlich.
Im vorliegenden Verfahren geht es aber nicht um die Weiterlieferung nach
Jugoslawien, sondern um die Auslieferung nach Deutschland.

Der Grundsatz des Non-Refoulement - verstanden in einem weiten Sinne -
verbietet es den Behörden, jemanden in einen Staat auszuliefern, in dem ihm
eine Verletzung der Menschenrechte droht (Walter Kälin, Das Prinzip des
Non-Refoulement, Diss. Bern 1982, S. 5). Den Grundsatz gewährleisten
verschiedene Bestimmungen. So verbieten insbesondere Art. 3 EMRK und Art. 3
des Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame,
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (SR 0.105) das
Refoulement absolut, d.h. ungeachtet des öffentlichen Interesses, das mit der
Ausweisung verfolgt wird; dies gilt allerdings nur im Falle schwerer Gefahren
für den Betroffenen (Kälin, a.a.O., S. 185 und 197; Stefan Trechsel, Artikel
3 EMRK als Schranke der Ausweisung, in: Aktuelle asylrechtliche Probleme der
gerichtlichen Entscheidungspraxis in Deutschland, Österreich und der Schweiz,
Baden-Baden 1996, S. 83 ff., 92). Deutschland ist Vertragspartei sowohl der
EMRK als auch des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame,
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Deutschland hat
somit den Grundsatz des Non-Refoulement zu beachten. Anhaltspunkte dafür,
dass dies die deutschen Behörden nicht tun werden, sind nicht ersichtlich. Es
besteht daher kein Anlass, die Auslieferung gemäss Art. 80p IRSG an Auflagen
zu knüpfen. Eine Auflage, wie sie der Beschwerdeführer beantragt, wäre im
Übrigen auch deshalb verfehlt, weil sie es den deutschen Behörden verwehren
würde, der politischen Entwicklung in der Bundesrepublik Jugoslawien bis zu
jenem Zeitpunkt Rechnung zu tragen, in dem sich die Frage der Ausschaffung
des Beschwerdeführers von Deutschland nach Jugoslawien gegebenenfalls stellen
wird.

6.
Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.

Da sie aussichtslos war, kann das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung nach Art. 152 OG nicht bewilligt werden. Im Übrigen hat der
Beschwerdeführer die Bedürftigkeit mit keinem Wort begründet. Auch deshalb
hätte das Gesuch abgewiesen werden müssen (BGE 125 IV 161 E. 4a).

Der Beschwerdeführer wäre damit an sich kostenpflichtig (Art. 156 Abs.1 OG).
Da er sich seit Dezember 2000 in Haft befindet, dürfte er jedoch kaum über
namhafte finanzielle Mittel verfügen. Auf die Auferlegung von Kosten wird
deshalb verzichtet.
Mit dem Entscheid in der Sache ist das Gesuch um aufschiebende Wirkung
hinfällig. Es war ohnehin überflüssig, da die Beschwerde von Gesetzes wegen
aufschiebende Wirkung hatte (Art. 21 Abs. 4 lit. a IRSG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten
werden kann.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Bundesamt für Justiz,
Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion Auslieferung, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 13. März 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: