Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1A.213/2002
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1A.213/2002 /dxc

Urteil vom 20. November 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Reeb, Bundesrichter Féraud,
Gerichtsschreiber Forster.

X. ________, zzt. in Untersuchungshaft,
Prison du Bois-Mermet, 1018 Lausanne,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Sandrine Osojnak, place
St-François 11-12, case postale 3485,
1002 Lausanne,

gegen

Bundesamt für Justiz, Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion
Auslieferung, Bundesrain 20, 3003 Bern.

Auslieferung an Deutschland - B 125572 WUE/BRV 38

(Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Bundesamts für Justiz,
Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion Auslieferung, vom 11. September
2002)

Sachverhalt:

A.
Das Justizministerium des Landes Schleswig-Holstein ersuchte die
schweizerischen Behörden am 21. Juni 2001 um Auslieferung des jugoslawischen
Staatsangehörigen X.________. Dieser befindet sich im Kanton Waadt (wegen des
Vorwurfs von mehr als 200 Einbruchdiebstählen in der Region Waadtländer
Riviera) in Untersuchungshaft. Das deutsche Rechtshilfeersuchen stützt sich
auf rechtskräftige Urteile des Amtsgerichtes Pinneberg vom 24. April 1996
bzw. des Landgerichtes Itzehoe vom 12. September 1996, welche den Verfolgten
wegen schweren Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei
Monaten verurteilten. Anlässlich seiner Befragung vom 4. Juni 2002
widersetzte sich der Verfolgte einer vereinfachten Auslieferung nach
Deutschland, worauf das Bundesamt für Justiz am 19. Juni 2002 einen
Auslieferungshaftbefehl gegen ihn erliess.

B.
Am 11. September 2002 bewilligte das Bundesamt für Justiz die Auslieferung
des Verfolgten zur Vollstreckung der in Deutschland ausgefällten
Freiheitsstrafe. Gegen den Auslieferungsentscheid gelangte X.________ mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 14. Oktober 2002 an das Bundesgericht. Er
beantragt die Aufschiebung der Auslieferung bis zur Vollstreckung einer
allfälligen Strafe, welche ihm angesichts der bei den Waadtländer
Justizbehörden anhängigen Strafuntersuchung drohe, eventualiter bis zur
Rechtskraft eines allfälligen diesbezüglichen Strafurteils.

C.
Das Bundesamt für Justiz beantragt mit Vernehmlassung vom 29. Oktober 2002
die Abweisung der Beschwerde. Am 14. November 2002 verzichtete der Verfolgte
auf eine Replik.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Beurteilung von Auslieferungsersuchen der Bundesrepublik Deutschland
richtet sich nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13.
Dezember 1957 (EAUe, SR 0.353.1) und dem Zweiten Zusatzprotokoll zum EAUe vom
17. März 1978 (SR 0.353.12), denen beide Staaten beigetreten sind, sowie nach
dem Zusatzvertrag zwischen der Schweiz und Deutschland über die Ergänzung des
EAUe und die Erleichterung seiner Anwendung vom 13. November 1969 (SR
0.353.913.61). Soweit die genannten Staatsverträge bestimmte Fragen nicht
abschliessend regeln, ist das schweizerische Landesrecht anwendbar,
namentlich das Bundesgesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen
vom 20. März 1981 (IRSG, SR 351.1) und die dazugehörende Verordnung vom 24.
Februar 1982 (IRSV, SR 351.11; vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. a IRSG).

1.2 Der Auslieferungsentscheid des BJ kann mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beim Bundesgericht angefochten werden (Art. 55 Abs. 3 i.V.m. Art. 25 Abs. 1
IRSG). Die Sachurteilsvoraussetzungen von Art. 97 - 114 OG sind erfüllt.

1.3 Zulässige Beschwerdegründe sind sowohl die Verletzung von Bundesrecht
(inklusive Staatsvertragsrecht), einschliesslich Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens, als auch die Rüge der unrichtigen oder
unvollständigen Fest stellung des rechtserheblichen Sachverhalts; der
Vorbehalt von Art. 105 Abs. 2 OG trifft hier nicht zu (Art. 104 lit. a-b OG;
vgl. BGE 117 Ib 64 E. 2b/bb S. 72). Soweit die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
gegeben (und die staatsrechtliche Beschwerde daher ausgeschlossen) ist, kann
auch die Verletzung verfassungsmässiger Individualrechte bzw. der EMRK
mitgerügt werden (BGE 122 II 373 E. 1b S. 375).

1.4 Das Bundesgericht ist an die Begehren der Parteien nicht gebunden (Art.
25 Abs. 6 IRSG). Es prüft die Auslieferungsvoraussetzungen grundsätzlich mit
freier Kognition. Da es aber in Rechtshilfesachen nicht Aufsichtsbehörde ist,
darf die Prüfung des angefochtenen Entscheides den Rahmen des
Streitgegenstandes nicht sprengen (BGE 117 Ib 64 E. 2c S. 73).

1.5 Da der Beschwerde von Gesetzes wegen die aufschiebende Wirkung zukommt
(Art. 21 Abs. 4 lit. a IRSG), wird das entsprechende Gesuch des
Beschwerdeführers hinfällig.

1.6 Der angefochtene Entscheid erging (angesichts des deutschen
Rechtshilfeersuchens) in deutscher Sprache. Das bundesgerichtliche Urteil
wird in einer schweizerischen Amtssprache ausgefällt, in der Regel in der
Sprache des angefochtenen Entscheides (Art. 37 Abs. 3 OG). Zwar wurde die
Beschwerde auf Französisch eingereicht. Es werden jedoch keine besonderen
Gründe geltend gemacht, weshalb das vorliegende Urteil ausnahmsweise nicht in
der Sprache des angefochtenen Entscheides ergehen sollte. Das Urteil erfolgt
daher auf Deutsch.

2.
Der Beschwerdeführer widersetzt sich der Auslieferung nicht grundsätzlich. Er
beantragt lediglich die Aufschiebung der Auslieferung bis zum Abschluss des
in der Schweiz hängigen Strafverfahrens bzw. bis zur Vollstreckung der ihm in
der Schweiz drohenden Freiheitsstrafe. Er räumt denn auch - mit Recht - ein,
dass Art. 37 Abs. 1 IRSG einem Rechtshilfeersuchen, welches die
Voraussetzungen des EAUe erfüllt, nicht entgegengehalten werden könnte (vgl.
BGE 122 II 485 E. 3 S. 486-488). Im Übrigen läge auch kein
Strafübernahmebegehren der deutschen Behörden vor.

Der Beschwerdeführer beruft sich jedoch auf Art. 19 EAUe, wonach die ersuchte
Behörde die Auslieferung des Verfolgten zugunsten der Durchführung einer im
ersuchten Staat hängigen Strafuntersuchung bzw. zugunsten der Vollstreckung
einer allfälligen (im ersuchten Staat auszufällenden) Strafe aufschieben
könne. Der Beschwerdeführer habe ausserdem einen Anspruch darauf, seine
Verteidigungsrechte im hier anhängigen Strafverfahren wahrnehmen zu können.
Ausserdem erhöhe ein Verbleiben in der Schweiz seine
Resozialisierungschancen, zumal seine Familie und insbesondere sein Kind in
der Schweiz lebten, was die Möglichkeit von Besuchen erleichtere. Das in Art.
8 EMRK geschützte Recht auf Familienleben gebiete eine entsprechende
Aufschiebung der Auslieferung.

3.
Der ersuchte Staat kann, nachdem er über das Auslieferungsersuchen
entschieden hat, die Übergabe des Verfolgten aufschieben, damit dieser von
ihm gerichtlich verfolgt werden oder, falls er bereits verurteilt worden ist,
in seinem Hoheitsgebiet eine Strafe verbüssen kann, die er wegen einer
anderen Handlung als derjenigen verwirkt hat, derentwegen um Auslieferung
ersucht worden ist (Art. 19 Ziff. 1 EAUe). Statt die Übergabe aufzuschieben,
kann der ersuchte Staat den Verfolgten dem ersuchenden Staat vorübergehend
unter Bedingungen übergeben, die von beiden Seiten vereinbart werden (Art. 19
Ziff. 2 EAUe).

Im vorliegenden Fall sind keine besonderen Gründe ersichtlich, weshalb der
Vollzug der Auslieferung solange aufgeschoben werden müsste, bis das in der
Schweiz hängige Strafverfahren erledigt ist. Auch der Vorbehalt besonderer
Bedingungen für eine vorübergehende Übergabe des Verfolgten an Deutschland
drängt sich seitens des Bundesgerichtes nicht auf. Es steht dem Bundesamt für
Justiz allerdings frei, beim Vollzug der Auslieferung nötigenfalls eine
Bedingung anzubringen, wonach der Verfolgte nach Verbüssung der in
Deutschland zu vollstreckenden Freiheitsstrafe wieder an die Schweiz
rückauszuliefern sei (vgl. Art. 19 Ziff. 2 EAUe).

4.
Was der Beschwerdeführer vorbringt, vermag am Gesagten nichts zu ändern.
Indem die Schweiz ihren staatsvertraglichen Verpflichtungen gegenüber
Deutschland nachkommt, entsteht dem Verfolgten bezüglich der in der Schweiz
hängigen Strafuntersuchung kein prozessualer Nachteil. Es steht ihm vielmehr
frei, nach Verbüssung der in Deutschland zu vollstreckenden Strafe seine
Verfahrensrechte wahrzunehmen, sofern das in der Schweiz sistierte
Strafverfahren wieder aufgenommen werden sollte.

Auch die vom Beschwerdeführer geltend gemachten familiären Bindungen zu
Personen, die in der Schweiz leben, stellen kein Auslieferungshindernis dar.
Es kann offen bleiben, ob der angerufene Art. 8 EMRK im vorliegenden
Zusammenhang überhaupt anwendbar erschiene bzw. den völkerrechtlichen
Verpflichtungen der Schweiz gemäss EAUe entgegenstünde. Die erhobene Rüge
erweist sich jedenfalls als unbegründet.

4.1 Gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in
das Privat- und Familienleben statthaft, soweit er gesetzlich vorgesehen ist
und eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für
die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das
wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur
Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und Moral
oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Gemäss Art.
36 Abs. 1-3 BV bedarf die Einschränkung von Grundrechten (namentlich des
Rechtes auf Privatsphäre und ungestörtes Familienleben, Art. 13-14 BV) einer
gesetzlichen Grundlage; ausserdem muss der Eingriff durch ein öffentliches
Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt und
verhältnismässig sein. Im Übrigen darf niemand an einen Staat ausgeliefert
werden, in dem ihm Folter oder eine andere Art grausamer oder unmenschlicher
Behandlung oder Bestrafung droht (Art. 25 Abs. 3 BV; vgl. BGE 123 II 279 E.
2d S. 283).

4.2 Das verfassungsmässige Gebot der Verhältnismässigkeit verlangt, dass
staatliche Hoheitsakte für das Erreichen eines im übergeordneten öffentlichen
Interesse liegenden Zieles geeignet, notwendig und dem Betroffenen zumutbar
sein müssen. Eine Zwangsmassnahme ist namentlich dann unverhältnismässig,
wenn eine ebenso geeignete mildere Anordnung für den angestrebten Erfolg
ausreicht. Der Eingriff darf in sachlicher, räumlicher, zeitlicher und
personeller Hinsicht nicht einschneidender sein als notwendig (BGE 124 I 40
E. 3e S. 44 f.; 118 Ia 427 E. 7a S. 439, je mit Hinweisen; vgl. Jörg Paul
Müller, Kommentar zur Eidgenössischen Bundesverfassung, Bd. I, Einleitung zu
den Grundrechten, N. 148). Das Gebot der Verhältnismässigkeit ist zwar ein
verfassungsmässiges Prinzip (Art. 36 Abs. 3 BV). Es kann jedoch jeweils nur
zusammen mit einem besonderen Grundrecht (hier: Art. 8 EMRK) geltend gemacht
werden (BGE 122 I 279 E. 2e/ee S. 287 f. mit Hinweisen).

4.3 Nach der Praxis der Rechtsprechungsorgane der EMRK sind Eingriffe in das
Familienleben, welche auf rechtmässige Strafverfolgungsmassnahmen
zurückzuführen sind, grundsätzlich zulässig. Dies gilt namentlich für den
Strafvollzug, soweit Gefangenenbesuche durch Angehörige gewährleistet sind.
Der blosse Umstand, dass der Gefangene sehr weit von seinen nächsten
Verwandten entfernt in Haft gehalten wird, so dass Besuche erschwert werden,
führt zu keinem grundrechtswidrigen Eingriff in das Privat- und Familienleben
(vgl. dazu Jochen A. Frowein/Wolfgang Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Kehl
u.a. 1996, Art. 8 N. 27). Auch rechtshilfeweise Auslieferungen bzw.
fremdenpolizeiliche Ausweisungen sind bei schweren Straftaten grundsätzlich
zulässig (vgl. Frowein/ Peukert, a.a.O., Art. 8 N. 24; Peter Popp, Grundzüge
der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, Basel 2001, S. 243 Rz. 362).
Auslieferungen sind hingegen zu verweigern, wenn dem Verfolgten im
ersuchenden Staat eine unmenschliche Behandlung droht, welche Art. 3 EMRK
verletzen würde (vgl. Frowein/Peukert, Art. 3 N. 18; Popp, a.a.O., S. 240 f.
Rz. 357 ff.; s. auch Art. 25 Abs. 3 BV). Auch behält sich die Schweiz
Rechtshilfemassnahmen vor, wenn im ersuchenden Staat die Respektierung eines
grundrechtlichen Minimalstandards an Verfahrensrechten nicht gewährleistet
erscheint (vgl. BGE 126 II 324 E. 4 S. 326 ff. mit Hinweisen). Es ist
grundsätzlich Sache des Verfolgten, ernsthafte Gründe für konkrete
Grundrechtsverletzungen plausibel darzulegen (BGE 123 II 161 E. 6b S. 167 mit
Hinweisen).

4.4 Im vorliegenden Fall ist keine Verletzung von Art. 8 EMRK ersichtlich.
Wie dargelegt, schützt die EMRK grundsätzlich nicht vor gesetzmässiger
strafrechtlicher Verfolgung. Der Beschwerdeführer wurde wegen schweren
Einbruchdiebstahls in Deutschland zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und
zwei Monaten rechtskräftig verurteilt. Die Auslieferung erfolgt somit im
öffentlichen Interesse der Durchsetzung des strafrechtlichen
Rechtsgüterschutzes. Die Vorbringen des Beschwerdeführers lassen seine
rechtshilfeweise Auslieferung an Deutschland nicht als menschenrechtswidrig
erscheinen.

5.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Der Verfolgte stellt das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und
Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen von Art. 152 OG
erfüllt erscheinen (und insbesondere die Bedürftigkeit des Verfolgten
ausreichend dargelegt ist), kann dem Begehren entsprochen werden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwältin Sandrine Osojnak, Lausanne, wird als unentgeltliche
Rechtsvertreterin ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der
Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'000.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Bundesamt für Justiz,
Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion Auslieferung, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 20. November 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: