Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1A.159/2002
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1A.159/2002 /sta

Teilentscheid vom 29. Juli 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Nay, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Reeb, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Pfäffli.

Bundesamt für Justiz, Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion
Auslieferung, 3003 Bern, Beschwerdeführer,

gegen

X.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Bernard
Rambert, Postfach 2126, 8026 Zürich.

Auslieferung an Italien - B 75075/02 JBL/JEN/BF/BRV,

Haftentlassungsgesuch.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Gestützt auf ein italienisches Verhaftsersuchen vom 6. Oktober 1998 wurde
X.________ am 10. März 2002 in Zürich festgenommen. Anlässlich einer
Einvernahme vom 11. März 2002 widersetzte sich X.________ einer vereinfachten
Auslieferung im Sinne von Art. 54 IRSG. Gleichentags erliess das Bundesamt
für Justiz einen Auslieferungshaftbefehl. Am 22. März 2002 übermittelte die
italienische Botschaft in Bern dem Bundesamt für Justiz das Ersuchen um
Auslieferung von X.________. Das Ersuchen stützt sich auf einen Haftbefehl
des Gerichtes in Rom vom 12. September 1989, mit welchem der Verfolgte wegen
Förderung, Gründung und Organisation der Gruppierung "Brigate Rosse" gesucht
wird und auf das Urteil des Schwurgerichtes in Rom vom 18. September 2001,
das den Verfolgten wegen Beteiligung an einer subversiven Vereinigung gegen
die Verfassungsordnung und Beteiligung an einer bewaffneten Bande zu fünf
Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilte.

2.
In der Folge stellte X.________ am 10. Juli 2002 beim Bundesamt für Justiz
ein Gesuch um Haftentlassung unter Ansetzung einer Sicherheitsleistung in
angemessener Höhe. Am 23. Juli 2002 stellte das Bundesamt für Justiz gemäss
Art. 55 Abs. 2 IRSG beim Bundesgericht den Antrag, "die Auslieferung für die
dem Verfolgten im Urteil des Schwurgerichtes (Corte die Assise) in Rom vom
18. September 2001 vorgeworfenen Straftaten sei zu bewilligen, eventuell in
einem vom Bundesgericht festzulegenden Umfang". Hinsichtlich des hängigen
Haftentlassungsgesuches führte es aus, nach Art. 50 Abs. 3 und 4 IRSG wäre
das Bundesamt für Justiz für die Aufhebung der Haft zuständig, indessen gehe
die Zuständigkeit aufgrund der devolutiven Wirkung im Rahmen des gestellten
Antrages gemäss Art. 55 Abs. 2 IRSG auf das Bundesgericht über.

3.
Nach Art. 50 Abs. 3 IRSG kann der Verfolgte jederzeit ein
Haftentlassungsgesuch einreichen. Darüber hat das Bundesamt für Justiz, das
den Haftbefehl erliess, zu entscheiden. Art. 5 Ziff. 4 EMRK gebietet, so
rasch als möglich über die Haftentlassung zu entscheiden (vgl. Urteil
1A.170/1997 vom 10. Juni 1997, E. 2a, publ. in: Pra 2000 Nr. 94 S. 566 ff.).
Das Bundesamt für Justiz überwies, anstatt selber zu entscheiden, das Gesuch
zusammen mit seinem Antrag gemäss Art. 55 Abs. 2 IRSG dem Bundesgericht zur
Behandlung. Wegen der gebotenen raschmöglichsten Entscheidung ist auf eine
Rückweisung des Gesuchs an das Bundesamt für Justiz zu verzichten. Das
Bundesgericht, das für eine Beschwerde gegen die Abweisung des
Haftentlassungsgesuches zuständig ist (Art. 48 Abs. 2 IRSG; BGE 117 IV 359 E.
1), hat darüber ohne Verzug zu befinden.

4.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts bildet die Verhaftung des
Beschuldigten während des ganzen Auslieferungsverfahrens die Regel (BGE 117
IV 359 E. 2a). Eine Aufhebung des Auslieferungshaftbefehls rechtfertigt sich
nur ausnahmsweise. Dies ist der Fall, wenn der Verfolgte sich voraussichtlich
der Auslieferung nicht entzieht und die Strafuntersuchung nicht gefährdet
(Art. 47 Abs. 1 lit. a IRSG), wenn er den so genannten Alibibeweis erbringen
und ohne Verzug nachweisen kann, dass er zur Zeit der Tat nicht am Tatort war
(Art. 47 Abs. 1 lit. b IRSG), wenn er nicht hafterstehungsfähig ist oder
andere Gründe vorliegen, die eine weniger einschneidende Massnahme
rechtfertigen (Art. 47 Abs. 2 IRSG), oder wenn sich der
Auslieferungshaftbefehl als offensichtlich unzulässig erweist (Art. 51 Abs. 1
IRSG). Diese Aufzählung ist nicht abschliessend (vgl. BGE 117 IV 359 E. 2a).
Die Regelung soll es der Schweiz erlauben, ihren staatsvertraglichen
Auslieferungspflichten nachzukommen; die ausnahmsweise zu gewährende
Haftentlassung ist deshalb an strengere Voraussetzungen gebunden als der
Verzicht auf die gewöhnliche Untersuchungshaft im Strafverfahren oder die
Entlassung aus einer solchen (vgl. BGE 111 IV 108 E. 2).

5.
X.________ bestreitet das Vorliegen von Fluchtgefahr. Er habe kein Interesse,
Zürich zu verlassen. Seine zwei Kinder und seine schwerstkranke Partnerin
würden seine Anwesenheit und Unterstützung dringendst benötigen. Er könne
seine Kinder am besten betreuen und ihnen den notwendigen Halt geben, um mit
der schweren Krankheit der Mutter fertig zu werden. Zum Beweis seiner
besonderen familiären Situation reicht er Berichte des Universitätsspitals
und des Kinderspitals Zürich sowie der Kindergärtnerin seiner Tochter ein.
Mit diesen Ausführungen beruft sich X.________ sinngemäss auf Art. 47 Abs. 1
lit. a IRSG, wonach von einer Auslieferungshaft abzusehen ist, wenn der
Verfolgte sich voraussichtlich der Auslieferung nicht entzieht.

Die dargestellte äusserst schwierige familiäre Situation vermag die
Fluchtgefahr in einem gewissen Masse zu vermindern. Die Gefahr, dass der
Inhaftierte, auf freien Fuss gesetzt, die Schweiz verlassen und sich so der
Auslieferung entziehen würde, ist dadurch jedoch nicht gebannt, da das
Auslieferungsverfahren vor dem Abschluss steht und die drohende Auslieferung
ebenfalls zu einer Trennung von seiner Partnerin und seinen Kindern führen
wird. Es kommt hinzu, dass der Verfolgte gemäss einem Polizeirapport "ohne
festen Wohnsitz und ohne Beruf" ist. Auch die angebotene Kautionsleistung
(vgl. Art. 47 Abs. 2 IRSG), die zudem von Dritten erbracht würde, vermag
unter diesen Umständen die bestehende Fluchtgefahr nicht zu beheben. Das
Gesuch um Entlassung aus der Auslieferungshaft ist daher abzuweisen.

6.
Über die Kosten dieses Entscheides und über eine allfällige Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege wird im Zusammenhang mit dem Entscheid über die
Auslieferung entschieden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Das Gesuch um Entlassung aus der Auslieferungshaft wird abgewiesen.

2.
Dieser Entscheid wird den Parteien schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. Juli 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber: