Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1A.136/2002
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1A.136/2002 /mks

Urteil vom 29. Oktober 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Féraud, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Steiner.

E. X.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Jürg Friedli, "am Bahnhof",
Malerweg 2, Postfach 2078, 3601 Thun,

gegen

Kanton Bern,
handelnd durch die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern,
Münstergasse 2, 3011 Bern,
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung,
Speichergasse 12, 3011 Bern.

OHG (Genugtuung),

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 22. Mai 2002.

Sachverhalt:

A.
Am 29. Mai 1999 wurde auf das Restaurant A.________ ein Handgranatenanschlag
verübt. M. X.________, der Ehegatte von E. X.________, wurde schwer verletzt.
M. X.________ verbrachte neun Tage im Spital und anschliessend acht Monate im
Paraplegiker-Zentrum in Nottwil; er wurde mehrfach operiert. Seinen Beruf als
Carrosseriespengler und sein Amt als Hauswart kann er nicht mehr ausüben.
Nach einer Umschulung zum kaufmännischen Angestellten ist er in seiner neuen
Tätigkeit zu 50 Prozent arbeitsfähig.

E.  und M. X.________ stellten am 28. Mai 2001 bei der Justiz-, Gemeinde- und
Kirchendirektion des Kantons Bern ein Gesuch um Ausrichtung einer Genugtuung.
Die Ehegattin des Opfers machte geltend, angesichts der Umstände des
vorliegenden Falles erweise sich für sie als schwerstbetroffene Angehörige
der Betrag von Fr. 80'000.-- als angemessen. Als Folge der enormen zeitlichen
Mehrbelastung habe die Gesuchstellerin ihr Arbeitspensum auf 80 Prozent
reduzieren müssen. Ihre beruflichen Erfolgsaussichten seien aufgrund des
Mehraufwandes durch die Behinderung des Ehemannes eingeschränkt. Der Anschlag
belaste die eheliche Beziehung nach wie vor sehr stark. Unter anderem sei das
Sexualleben zwischen den Ehegatten zerstört. In teilweiser Gutheissung des
Gesuches sprach die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion mit Verfügung vom
21. Dezember 2001 dem Opfer selbst nebst einer Entschädigung für die
Anwaltskosten eine Genugtuung in der Höhe von Fr. 50'000.-- zu; E. X.________
wurden Fr. 25'000.-- zugesprochen. Angesichts der einschneidenden
Konsequenzen des Ereignisses auf die Lebensbereiche der Ehefrau stehe ihr
eine Genugtuung in der Höhe der Hälfte der dem Opfer zugesprochenen Summe zu.

B.
Am 28. Januar 2002 erhoben sowohl E. X.________ als auch M. X.________
Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern. E. X.________
beantragte die Aufhebung der Verfügung der Justiz-, Gemeinde- und
Kirchendirektion vom 21. Dezember 2001. Es sei ihr eine Genugtuung in der
Höhe von Fr. 80'000.-- zuzusprechen. Das Verwaltungsgericht wies die
Beschwerde mit Urteil vom 22. Mai 2002 ab. Zur Begründung wurde namentlich
ausgeführt, die Beschwerdeführerin selbst halte das Vorgehen der Vorinstanz,
von der für den Ehemann zugesprochenen Summe auszugehen und ihre Genugtuung
auf 50 Prozent davon festzusetzen, für sachgerecht. Nach Abweisung der
Beschwerde des Ehemannes sei somit auch die ihr zugesprochene Summe von Fr.
25'000.--- nicht zu beanstanden.

C.
Mit Eingabe vom 26. Juni 2002 erhebt E. X.________
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Sie beantragt, der angefochtene Entscheid des
Verwaltungsgerichts vom 22. Mai 2002 sei aufzuheben und es sei ihr eine
Genugtuung in der Höhe von Fr. 80'000.-- zuzusprechen.
Das Verwaltungsgericht sowie die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des
Kantons Bern schliessen mit Vernehmlassungen vom 2. und 8. Juli 2002 auf
Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Justiz verzichtet mit Schreiben
vom 15. August 2002 auf eine Stellungnahme.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den kantonal letztinstanzlichen, auf
Bundesverwaltungsrecht gestützten Entscheid ist zulässig (Art. 97 OG). Die
Beschwerdeführerin ist legitimiert (Art. 103 lit. a OG). Auf die
fristgerechte Beschwerde (Art. 106 und 34 OG) ist daher einzutreten.

2.
2.1 Nach Art. 12 Abs. 2 OHG kann dem Opfer eine Genugtuung ausgerichtet
werden, wenn es schwer betroffen ist und besondere Umstände es rechtfertigen.
Das Opferhilfegesetz enthält keine Bestimmungen über die Bemessung der
Genugtuung gemäss Art. 12 Abs. 2 OHG. Diese Leistungen unterscheiden sich
zwar in ihrer Rechtsnatur von den zivilrechtlichen Ansprüchen gemäss Art. 47
oder 49 OR. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind jedoch im Bereich
der Opferhilfe die von den Zivilgerichten entwickelten Grundsätze zur
Bemessung der Genugtuung sinngemäss heranzuziehen (BGE 125 II 554 E. 2a S.
555 f. mit Hinweisen). Dabei ist allerdings zu beachten, dass es sich bei der
opferrechtlichen Genugtuung um eine staatliche Hilfeleistung handelt (BGE 128
II 49 E. 4.1 S. 53; 125 II 169 E. 2b S. 173, 554 E. 2a S. 556). Sie erreicht
deshalb nicht automatisch die gleiche Höhe wie die zivilrechtliche, sondern
kann unter Umständen davon abweichen (BGE 125 II 169 E. 2b/bb und 2c S. 174
f.; 124 II 8 E. 3d/cc S. 15). Insbesondere kann berücksichtigt werden, dass
die Genugtuung nicht vom Täter, sondern von der Allgemeinheit bezahlt wird,
was namentlich dann eine Reduktion gegenüber der zivilrechtlichen Genugtuung
rechtfertigen kann, wenn diese aufgrund von subjektiven, täterbezogenen
Merkmalen (z.B. besonders skrupellose Art der Begehung) erhöht worden ist
(Urteil des Bundesgerichts vom 5. März 1999, BVR 1999 S. 486, E. 3c/cc; vgl.
Klaus Hütte, Genugtuung - eine Einrichtung zwischen Zivilrecht, Strafrecht,
Sozialversicherungsrecht und Opferhilfegesetz, in: Collezione Assista, Genf
1998, S. 264-287, 278 f.).
2.2 Die Bemessung der Genugtuung ist eine Entscheidung nach Billigkeit, die
von der Würdigung der massgeblichen Kriterien abhängt. Innerhalb gewisser
Grenzen sind mehrere angemessene Lösungen möglich (BGE 123 II 210 E. 2c S.
212 f.). Die Höhe der zugesprochenen Genugtuung erweist sich nicht schon
deshalb als bundesrechtswidrig, weil das Bundesgericht oder eine kantonale
Instanz in einem anderen Fall einen höheren oder tieferen Betrag für
angebracht gehalten hat. Die Summe ist nicht nach festen Tarifen
festzusetzen, sondern muss dem Einzelfall angepasst werden (BGE 127 IV 215 E.
2e S. 219). Den kantonalen Behörden steht ein breiter Ermessensspielraum zu,
in den das Bundesgericht nur eingreift, wenn die kantonale Instanz ihr
Ermessen überschritten oder missbraucht hat (Art. 104 lit. a OG). Die
Feststellung des Sachverhalts bindet das Bundesgericht, wenn eine
richterliche Behörde als Vorinstanz den Sachverhalt nicht offensichtlich
unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt hat (Art. 104 lit. b i.V.m. Art. 105 Abs.
2 OG; BGE 125 II 230 E. 1d S. 233).

3.
Im vorliegenden Fall gehen die Verfahrensbeteiligten übereinstimmend davon
aus, dass die der Beschwerdeführerin zuzusprechende Genugtuungssumme die
Hälfte desjenigen Betrages ausmachen soll, der dem Opfer selbst zugesprochen
wird. Die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern beruft
sich dabei auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung. Das Bundesgericht hat
festgehalten, es werde die Regel aufgestellt, dass ein naher Angehöriger im
Verhältnis zu der dem Verunfallten bzw. Opfer selbst zukommenden Genugtuung
etwa auf die Hälfte Anspruch habe (BGE 122 III 5, nicht publizierte Erwägung
4a mit Hinweisen). Da das Bundesgericht die Beschwerde des Opfers selbst
gutheisst und es dort zu einer Rückweisung des Falles an die Vorinstanz
kommt, erscheint es möglich, dass sich die Höhe der dem Opfer zuzusprechenden
Genugtuungssumme ändert. Im Übrigen ist auch die Begründung der Beschwerde
derjenigen des Opfers insoweit ähnlich, als die Beschwerdeführerin geltend
macht, die Blasen-, Darm- und Sexualfunktionsstörung wirke sich unweigerlich
sehr belastend auf das intime Zusammenleben der beiden Ehegatten aus. Da aber
die Höhe der der Ehefrau zuzuerkennenden Genugtuung nach der Argumentation
der kantonalen Instanzen in ihrer Höhe von der dem Ehemann zuzusprechenden
Summe abhängig ist, teilt die vorliegende Beschwerde das rechtliche Schicksal
derjenigen des Opfers. Demnach ist die Beschwerde ohne weitere Erörterung der
vorinstanzlichen Begründung gutzuheissen und der Fall zur Neubeurteilung an
das Verwaltungsgericht zurückzuweisen.

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 16 Abs. 1 OHG; BGE 122 II 211 E. 4b S. 218
f.). Der Kanton Bern hat der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin eine
angemessene Parteientschädigung zu entrichten (Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Bern hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'200.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Justiz-, Gemeinde- und
Kirchendirektion sowie dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Verwaltungsrechtliche Abteilung, sowie dem Eidgenössischen Justiz- und
Polizeidepartement schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. Oktober 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: