Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1A.124/2002
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1A.124/2002 /zga

Urteil vom 30. Oktober 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Féraud, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Härri.

X. ________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Othmar Gabriel, Bahnhofplatz
5, Postfach, 6061 Sarnen 1,

gegen

Verhöramt des Kantons Nidwalden, Kreuzstrasse 2, 6371 Stans,
Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden, Kreuzstrasse 2, 6371 Stans,
Obergericht des Kantons Nidwalden, Kassationsabteilung, Rathausplatz 1,
Postfach, 6371 Stans.

Internationale Rechtshilfe in Strafsachen an die Bundesrepublik Deutschland -
B 129970,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Nidwalden, Kassationsabteilung,
vom 24. April 2002.

Sachverhalt:

A.
Am 12. November 2001 ersuchte der Leitende Oberstaatsanwalt München II (im
Folgenden: der Oberstaatsanwalt) die Schweizer Behörden um Rechtshilfe im
Ermittlungsverfahren gegen X.________ wegen "Steuerhinterziehung und
unrichtiger Darstellung".

Im Rechtshilfeersuchen wird ausgeführt, die Beschuldigte sei
Mehrheits-Gesellschafterin und Geschäftsführerin der deutschen Firma X.
GmbH________ gewesen. Die X. GmbH________ sei Inhaberin der Herstellungs-,
Vertriebs- und Vermarktungsrechte an einem Arzneimittel gewesen. Diese Rechte
seien verkauft worden. Der Erlös aus dem Verkauf sei jedoch - soweit eine
Anzahlung von 100'000 DM übersteigend - nicht an die X. GmbH________
geflossen, sondern an eine Gesellschaft mit Sitz in Irland. Die aus dem
Verkauf der Rechte erzielten Umsätze und Gewinne hätten in die Bilanzen der
X. GmbH________ keinen Eingang gefunden. In den Steuererklärungen der X.
GmbH________, die mit den Gewinn- und Verlustrechnungen sowie den falschen
Bilanzen bei den Finanzbehörden eingereicht worden seien, seien diese
Einnahmen und die daraus erzielten Gewinne ebenfalls nicht angegeben worden.
Es bestehe der dringende Verdacht, dass die Beschuldigte sich einer irischen
Firma bedient habe, um den Erlös aus der Überlassung der Rechte an dem
Arzneimittel der Besteuerung in Deutschland zu entziehen. Ihr Verhalten habe
bei der X. GmbH________ zu einer Steuerverkürzung von rund 3 Millionen DM in
den Jahren 1994 bis 1997 geführt.

Der Oberstaatsanwalt ersuchte um die Durchsuchung der Wohnung der
Beschuldigten sowie die Beschlagnahme und Herausgabe von Unterlagen;
ausserdem um die Einvernahme der Beschuldigten sowie um die Erlaubnis der
Teilnahme eines Beamten der deutschen Steuerfahndungsstelle an den
Ermittlungen in der Schweiz.

Mit Eintretens- und Zwischenverfügung vom 4. Dezember 2001 entsprach das
Verhöramt Nidwalden dem Rechtshilfeersuchen.

Am 15. Januar 2002 ersuchte die Steuerfahndungsstelle des Finanzamts München
I gestützt auf einen Beschluss des Amtsgerichts München vom Vortag darum,
auch die Geschäftsräume der X. & Y. AG________  zu durchsuchen.

Mit Zwischenverfügung vom 17. Januar 2002 entsprach das Verhöramt Nidwalden
diesem ergänzenden Rechtshilfeersuchen.

In der Folge wurden in den Wohn- und Geschäftsräumen von X.________ und der
X. & Y. AG________ verschiedene Unterlagen sichergestellt sowie X.________
zur Sache befragt.

Am 22. Januar 2002 traf das Verhöramt die Schlussverfügung. Danach wird
Rechtshilfe geleistet und werden der ersuchenden Behörde die sichergestellten
Unterlagen, das Befragungsprotokoll sowie verschiedene amtliche Dokumente
zugestellt.

B.
Die von X.________ gegen die Schlussverfügung erhobene Beschwerde wies das
Obergericht des Kantons Nidwalden (Kassationsabteilung) am 24. April 2002 ab.

C.
X.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts aufzuheben; das Rechtshilfeersuchen sei abzuweisen; die
sichergestellten Unterlagen seien der Beschwerdeführerin zurückzugeben.

D.
Das Bundesamt für Justiz hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen.

Das Obergericht, die Staatsanwaltschaft und das Verhöramt des Kantons
Nidwalden haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Für die Rechtshilfe zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Schweiz sind in erster Linie die Bestimmungen des Europäischen Übereinkommens
über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 (EUeR; SR 0.351.1),
dem beide Staaten beigetreten sind, und der zwischen ihnen abgeschlossene
Zusatzvertrag vom 13. November 1969 (SR 0.351.913.61) massgebend. Soweit
diese Staatsverträge bestimmte Fragen nicht abschliessend regeln, kommt das
schweizerische Landesrecht - namentlich das Bundesgesetz über die
internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. März 1981 (IRSG; SR 351.1)
und die dazugehörige Verordnung (IRSV; SR 351.11) - zur Anwendung.

1.2 Gegen das angefochtene Urteil ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
gegeben (Art. 80f Abs. 1 IRSG).

Am schweizerischen Wohnort der Beschwerdeführerin wurden bei einer
Hausdurchsuchung Unterlagen beschlagnahmt, die nach der Schlussverfügung den
deutschen Behörden herauszugeben sind. Insoweit ist die Beschwerdeführerin
nach Art. 80h lit. b IRSG in Verbindung mit Art. 9a lit. b IRSV zur
Beschwerde befugt. Dagegen ist fraglich, ob die Beschwerdeberechtigung der
Beschwerdeführerin auch gegeben sei, soweit es um die Herausgabe der
Unterlagen geht, die in den Geschäftsräumen der X. & Y. AG________
sichergestellt wurden, und soweit es um die Herausgabe des Protokolls ihrer
Befragung als Angeschuldigte geht. Dies kann jedoch offen bleiben, da die
Beschwerde aus den folgenden Erwägungen ohnehin abzuweisen ist.

2.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, es liege eine unzulässige
Beweisausforschung durch die deutschen Behörden vor. Ein Abgabebetrug werde
bloss behauptet. Die Rechtshilfe hätte daher nicht gewährt werden dürfen.

2.1 Nach Art. 2 lit. a EUeR kann die Rechtshilfe verweigert werden, wenn sich
das Ersuchen auf strafbare Handlungen bezieht, die vom ersuchten Staat als
Fiskaldelikte angesehen werden. Art. 3 Abs. 3 IRSG sieht vor, dass
Rechtshilfebegehren abzulehnen sind, wenn Gegenstand des Verfahrens eine Tat
bildet, die auf eine Verkürzung fiskalischer Abgaben gerichtet ist. Jedoch
kann einem Ersuchen um Rechtshilfe nach dem dritten Teil des Gesetzes
entsprochen werden, wenn das Verfahren einen Abgabebetrug betrifft. Nach der
Rechtsprechung besteht im letzteren Fall die Pflicht zur Rechtshilfeleistung,
wenn die übrigen Voraussetzungen dafür erfüllt sind (BGE 125 II 250 E. 2 mit
Hinweisen).

Gemäss Art. 24 Abs. 1 IRSV bestimmt sich der Begriff des Abgabebetrugs im
Sinne von Art. 3 Abs. 3 IRSG nach Art. 14 Abs. 2 des Bundesgesetzes über das
Verwaltungsstrafrecht vom 22. März 1974 (VStR; SR 313.0). Danach liegt ein
Abgabebetrug vor, wenn der Täter durch sein arglistiges Verhalten bewirkt,
dass dem Gemeinwesen unrechtmässig und in einem erheblichen Betrag eine
Abgabe, ein Beitrag oder eine andere Leistung vorenthalten oder dass es sonst
am Vermögen geschädigt wird. Der damit umschriebene Tatbestand ist weiter als
jener des Steuerbetrugs gemäss Art. 186 des Bundesgesetzes über die direkte
Bundessteuer vom 14. Dezember 1990 (DBG; SR 642.11), der eine Täuschung der
Steuerbehörden durch gefälschte, verfälschte oder inhaltlich unwahre Urkunden
wie Geschäftsbücher, Bilanzen, Erfolgsrechnungen, Lohnausweise oder andere
Bescheinigungen Dritter voraussetzt. Ein Abgabebetrug muss nicht
notwendigerweise durch Verwendung falscher oder gefälschter Urkunden begangen
werden, sondern es sind auch andere Fälle arglistiger Täuschung denkbar. Es
sind jedoch immer besondere Machenschaften, Kniffe oder ganze Lügengebäude
erforderlich, damit eine arglistige Täuschung anzunehmen ist. Unter Umständen
kann allerdings auch blosses Schweigen arglistig sein, wenn der Täuschende
den Getäuschten von einer möglichen Überprüfung abhält oder voraussieht, dass
dieser mit Rücksicht auf ein besonderes Vertrauensverhältnis von einer
Überprüfung absehen wird. Ob eine Tat als Abgabebetrug zu qualifizieren ist,
beurteilt sich allein nach den erwähnten Grundsätzen des schweizerischen
Rechts. Dagegen ist unerheblich, ob das fragliche Verhalten nach dem Recht
des ersuchenden Staates ebenfalls als Abgabebetrug gilt oder ob es als
Steuerhinterziehung geahndet wird (BGE 125 II 250 E. 3a und b mit Hinweisen).

Nach der Rechtsprechung handelt arglistig, wer die Steuerbehörden täuscht,
indem er seiner Steuererklärung unrichtige oder unvollständige Unterlagen
beilegt, die nach Art. 110 Ziff. 5 Abs. 1 StGB als Urkunden gelten (BGE 125
II 250 E. 3c).

Liegt dem Rechtshilfeersuchen der Verdacht zugrunde, der Beschuldigte habe
sich eines Abgabebetrugs schuldig gemacht, so haben sich die schweizerischen
Behörden beim Entscheid über die Frage, ob die Täuschung, welche dem
Beschuldigten vorgeworfen wird, arglistig sei, allein an die Darstellung des
Sachverhalts im Rechtshilfebegehren zu halten, soweit diese nicht
offensichtliche Fehler, Lücken oder Widersprüche enthält. Einerseits haben
sich die schweizerischen Behörden grundsätzlich nicht darüber auszusprechen,
ob die darin angeführten Tatsachen zutreffen oder nicht. Anderseits verlangt
die Rechtsprechung, dass hinreichende Verdachtsmomente für den im
Rechtshilfeersuchen enthaltenen Sachverhalt bestehen. Damit soll verhindert
werden, dass sich die ersuchende Behörde unter dem Deckmantel eines von ihr
ohne Vorhandensein von Verdachtsmomenten lediglich behaupteten Abgabebetrugs
Beweise verschafft, die zur Ahndung anderer Fiskaldelikte dienen sollen, für
welche die Schweiz gemäss Art. 3 Abs. 3 IRSG keine Rechtshilfe gewährt.
Demnach ist es Sache der um Rechtshilfe ersuchenden ausländischen Behörde, in
ihrem Ersuchen die Umstände darzulegen, aus welchen sich ergeben soll, dass
der Beschuldigte arglistig gehandelt hat (BGE 125 II 250 E. 5b mit
Hinweisen).

2.2 Nach dem Rechtshilfeersuchen waren die von der X. GmbH________ den
deutschen Steuerbehörden eingereichten Bilanzen unvollständig und damit
inhaltlich falsch. Nach der Rechtsprechung sind die kaufmännische Buchführung
und ihre Bestandteile - insbesondere Bilanzen - als Absichtsurkunden kraft
Gesetzes (Art. 957 und 963 OR) bestimmt und geeignet, Tatsachen von
rechtlicher Bedeutung bzw. die in ihr enthaltenen Tatsachen zu beweisen (BGE
125 IV 17 E. 2a/aa S. 23 mit Hinweisen). Bilanzen stellen somit Urkunden im
Sinne von Art. 110 Ziff. 5 StGB dar. Indem die X. GmbH________ inhaltlich
falsche Bilanzen eingereicht hat, hat sie die Steuerbehörden arglistig
getäuscht. Die Voraussetzungen des Abgabebetruges sind damit erfüllt. Im
Rechtshilfeersuchen werden die Umstände klar umschrieben, aus denen sich
ergibt, dass die Beschwerdeführerin arglistig gehandelt hat. Der Leistung von
Rechtshilfe steht insoweit nichts entgegen. Dafür, dass die deutschen
Behörden den Steuerbetrug bloss vorgeschoben hätten, um so Auskünfte zu
erlangen, die ihnen sonst nicht zugänglich gewesen wären, bestehen keine
Anhaltspunkte.

Da die Arglist bereits aufgrund der Einreichung der inhaltlich falschen
Bilanzen gegeben ist, kann offen bleiben, ob Arglist auch deshalb zu bejahen
wäre, weil sich die Beschwerdeführerin nach dem Rechtshilfeersuchen zwecks
Verbergung des aus dem Verkauf der Rechte erzielten Erlöses einer irischen
Firma bedient hat. Man kann sich fragen, ob nicht bereits dies eine
Machenschaft darstellte, die zur Annahme der Arglist führt.

2.3 Die Beschwerdeführerin bringt vor, gegen ihren Ehemann werde in
Deutschland wegen des gleichen Sachverhalts nur wegen Steuerhinterziehung
ermittelt. Das zeige, dass der Vorwurf des Steuerbetruges gegen sie
unbegründet sei.

Der Einwand geht bereits im Ansatz fehl. Nach dem Rechtshilfeersuchen wird
gegen die Beschwerdeführerin in Deutschland ebenfalls wegen
Steuerhinterziehung ermittelt. Darauf kommt es nach der dargelegten
Rechtsprechung aber gar nicht an. Entscheidend ist, dass das im
Rechtshilfeersuchen geschilderte Verhalten der Beschwerdeführerin nach
schweizerischem Recht einen Abgabebetrug darstellt. Dass nach deutschem Recht
allenfalls nur der Tatbestand der Steuerhinterziehung zur Anwendung kommt,
ist belanglos (BGE 125 II 250 E. 3b am Schluss). Im Übrigen beruft sich die
Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang auf ein Schreiben des Finanzamts
München I an ihren Ehemann, welches nach dem angefochtenen Urteil verfasst
worden ist. Da hier als Vorinstanz ein Gericht entschieden hat, sind im
Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nur solche neuen Beweismittel
zulässig, welche die Vorinstanz von Amtes wegen hätte erheben müssen und
deren Nichterhebung eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften
darstellt (BGE 121 II 97 E. 1c mit Hinweisen). Dies ist beim erwähnten
Schreiben nicht der Fall.

2.4 Die Beschwerdeführerin bringt vor, die deutschen Behörden hätten im
Verfahren gegen sie keinerlei Untersuchungshandlungen mehr vorgenommen.

Selbst wenn das zutreffen sollte, würde dies der Leistung von Rechtshilfe
nicht entgegenstehen. Die deutschen Behörden haben das Rechtshilfeersuchen
nicht zurückgezogen und damit offensichtlich weiterhin ein Interesse an der
Rechtshilfe. Sollten sie tatsächlich keine Untersuchungshandlungen mehr
vorgenommen haben, dürfte dies im Übrigen darauf zurückzuführen sein, dass
sie für die Weiterführung des Verfahrens die Unterlagen aus der Schweiz
benötigen.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem
Ausgang des Verfahrens trägt die Beschwerdeführerin die Kosten (Art. 156 Abs.
1 OG).

Das Gesuch um aufschiebende Wirkung war nicht notwendig, da die Beschwerde
von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung hatte (Art. 80l Abs. 1 IRSG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, dem Verhöramt, der
Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Nidwalden
(Kassationsabteilung) sowie dem Bundesamt für Justiz (Abteilung
internationale Rechtshilfe, Sektion Rechtshilfe) schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. Oktober 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: