Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 61/2001
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U 61/01 Vr

                        IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari;
Gerichtsschreiber Widmer

                  Urteil vom 28. Mai 2002

                         in Sachen

G.________, 1958, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechts-
anwalt Lorenzo Schmid, Vazerolgasse 2, 7000 Chur,

                           gegen

Winterthur-Versicherungen, General Guisan-Strasse 40,
8400 Winterthur, Beschwerdegegnerin, vertreten durch
Rechtsanwalt Reto Zanotelli, Weinbergstrasse 43,
8006 Zürich,
                            und

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur

     A.- Der 1958 geborene G.________ arbeitete seit Juni
1987 als Leiter Zahlungsverkehr bei der Bank Q.________ und
war bei den Winterthur-Versicherungen (im Folgenden: Win-
terthur) obligatorisch gegen Unfälle versichert. Am
6. August 1988, um 00.30 Uhr, ging er zu Fuss am linken
Strassenrand der Kantonsstrasse von S.________ in Richtung
T.________. Dabei wurde er von einem überholenden Personen-

wagen von hinten angefahren und 2,55 m ins angrenzende
Wiesland geschleudert. Er wurde ins Spital X.________ ein-
geliefert, wo eine Commotio cerebri, eine Unterschenkel-
fraktur rechts mit beginnendem Compartmentsyndrom sowie
multiple Prellungen und Kontusionen diagnostiziert wurden.
Nach der operativen Versorgung der Fraktur wurde G.________
am 23. August 1988 aus dem Spital entlassen. Am 14. Oktober
1988 berichtete der Hausarzt Dr. med. A.________, dass beim
Versicherten seit dem Unfall eine ausgeprägte psychische
Störung vorliege. Laut Bescheinigung des gleichen Arztes
bestand bis 11. Dezember 1988 vollständige und anschlies-
send bis 2. Januar 1989 hälftige Arbeitsunfähigkeit. Die
Winterthur erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Am
28. September 1992 erstattete der Psychiater Dr. med.
B.________ ein Gutachten zuhanden der Invalidenversiche-
rung. Er diagnostizierte eine posttraumatische Anpassungs-
störung (als psychogene Unfallfolge) und attestierte eine
Arbeitsunfähigkeit von über 70 %. Nach Beizug einer Stel-
lungnahme ihres beratenden Psychiaters Dr. med. C.________
vom 3. Mai 1994 lehnte die Winterthur mit Verfügung vom
17. Juni 1994 den Anspruch auf eine Invalidenrente für die
Folgen des Unfalls vom 6. August 1988 ab, weil zwischen
diesem und der psychischen Erkrankung kein natürlicher
Kausalzusammenhang bestehe. Nachdem G.________ Einsprache
erhoben hatte, holte die Winterthur eine Expertise des Dr.
med. N.________, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik
Y.________ (vom 21. August 1995), ein, welche sie Prof.
K.________ zur Stellungnahme unterbreitete (Aktengutachten
vom 30. September 1995). Mit Entscheid vom 13. November
1995 wies die Winterthur die Einsprache ab. Die vom Ver-
sicherten hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwal-
tungsgericht des Kantons Graubünden in dem Sinne teilweise
gut, dass es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache
zu ergänzenden Abklärungen in medizinischer Hinsicht an die
Versicherungsgesellschaft zurückwies (Entscheid vom
27. September 1996). Die Winterthur beauftragte den Psy-
chiater PD Dr. med. M.________ mit der erneuten Begutach-

tung des Versicherten. Die Expertise vom 4. Mai 1998 wurde
wiederum Dr. C.________ unterbreitet. Am 17. März/18. Mai
1999 erstattete schliesslich Dr. med. R.________, Facharzt
für Psychiatrie, im Auftrag der Winterthur ein weiteres
Aktengutachten. Mit Verfügung vom 6. August 1999 eröffnete
die Winterthur G.________, für die Folgen des Unfalls vom
6. August 1988 bestehe ab 21. Dezember 1991 weder ein
Anspruch auf Taggeld- noch auf Rentenleistungen der Unfall-
versicherung, woran sie mit Einspracheentscheid vom
23. März 2000 festhielt.

     B.- Die vom Versicherten eingereichte Beschwerde, mit
welcher er beantragen liess, unter Aufhebung des Ein-
spracheentscheides sei ihm eine Invalidenrente zuzuspre-
chen, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden ab
(Entscheid vom 7. Dezember 2000).

     C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt G.________
das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern. Er
legt u.a. eine Stellungnahme des PD Dr. M.________ vom
2. Februar 2001 auf.
     Während die Winterthur auf Abweisung der Verwaltungs-
gerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für
Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- Die Vorinstanz hat festgestellt, dass zwischen dem
versicherten Unfall vom 6. August 1988 und der in der Folge
einsetzenden, über den 21. Dezember 1991 hinaus andauernden
psychischen Fehlentwicklung, welche die Arbeits- und
Erwerbsfähigkeit erheblich einschränkt, ein natürlicher
Kausalzusammenhang (vgl. BGE 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289
Erw. 1b) besteht. In Würdigung der Arztberichte und psy-
chiatrischen Gutachten, welche zwar hinsichtlich der Diag-
nose Differenzen aufweisen, mehrheitlich die Unfall-

kausalität des psychischen Leidens des Beschwerdeführers
aber klar bejahen, ist der Beurteilung des kantonalen
Gerichts beizupflichten. Streitig und zu prüfen ist hin-
gegen die Adäquanz des Kausalzusammenhangs.

     2.- Die Vorinstanz hat die Rechtsprechung zu dem für
die Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten
adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und der in
der Folge einsetzenden psychischen Fehlentwicklung mit
Beeinträchtigung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit (BGE 115
V 133) zutreffend wiedergegeben. Darauf kann verwiesen
werden.

     3.- a) Beim Unfall vom 6. August 1988 wurde der Be-
schwerdeführer, der am linken Strassenrand ging, von einem
Personenwagen, der mit einer Geschwindigkeit von rund
80 km/h ein anderes Auto überholte, erfasst und 2,55 m ins
angrenzende Wiesland geschleudert. Gemäss Bericht des
Spitals X.________, wo er nach dem Unfall hospitalisiert
war, erlitt der Versicherte nebst multiplen Prellungen und
Kontusionen eine Commotio cerebri und eine Unterschenkel-
fraktur rechts mit beginnendem Compartmentsyndrom. Ausser-
dem bestand der Verdacht auf ein Schleudertrauma der Hals-
wirbelsäule (HWS). Der Röntgenbefund ergab weder Schädel-
frakturen noch ossäre Läsionen an der HWS. Angesichts des
augenfälligen Geschehensablaufs und der mit Ausnahme der
multiplen Frakturen am rechten Unterschenkel geringfügigen
Verletzungen, die sich der Beschwerdeführer zuzog, ist der
Unfall im Rahmen der Einteilung, wie sie für die Belange
der Adäquanzbeurteilung vorzunehmen ist (BGE 115 V 138
Erw. 6), dem mittleren Bereich zuzuordnen, wie die Vor-
instanz unter Hinweis auf ähnlich gelagerte Fälle (vgl. BGE
117 V 368 Erw. 7b; RKUV 1999 Nr. U 330 S. 122) richtig
festgestellt hat. Damit die Adäquanz des Kausalzusammen-
hangs bejaht werden könnte, müsste eines der für die Beur-
teilung heranzuziehenden unfallbezogenen Kriterien (BGE 115

V 140 Erw. 6c/aa) in besonders ausgeprägter Weise erfüllt
oder es müssten mehrere Kriterien gegeben sein.

     b) Dies trifft hier nicht zu. Der Beschwerdeführer
wurde nachts als Fussgänger von einem von hinten mit einer
Geschwindigkeit von ca. 80 km/h herannahenden Personenwagen
angefahren und rund 2,5 m weggeschleudert. Das Unfallereig-
nis ist wohl als eindrücklich zu bezeichnen. Dieses Krite-
rium ist indessen bei objektiver Betrachtung nicht in
derart ausgeprägter Weise erfüllt, dass deswegen der adä-
quate Kausalzusammenhang zu bejahen wäre.
     Die nach dem Unfall diagnostizierte Commotio cerebri
kann nicht zu den Verletzungen gezählt werden, die erfah-
rungsgemäss geeignet sind, eine psychische Fehlentwicklung
auszulösen. Soweit in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
unter Berufung auf das psychiatrische Gutachten des PD Dr.
M.________ vom 4. Mai 1998 geltend gemacht wird, der
Versicherte habe beim Unfall eine hirnorganische Schädigung
erlitten, ist dem entgegenzuhalten, dass eine solche
Verletzung (Contusio cerebri) von den behandelnden Ärzten
nie in Betracht gezogen oder gar festgestellt wurde. Der
knapp zehn Jahre nach dem Unfall von einem der Gutachter
vertretenen These, der psychische Gesundheitsschaden des
Versicherten sei die Folge einer hirnorganischen Schädi-
gung, kommt im Zusammenhang mit der Frage nach allfälligen,
beim Ereignis erlittenen besonderen Verletzungen kein Be-
weiswert zu. Dies gilt umso mehr, als die übrigen Psychi-
ater, die den Beschwerdeführer untersucht und begutachtet
oder auf Grundlage der Akten eine Expertise erstattet
haben, zu anderen Folgerungen als PD Dr. M.________
gelangten. Des Weiteren wurde die unmittelbar nach dem
Unfall gestellte Verdachtsdiagnose eines Schleudertraumas
der HWS später nicht erhärtet, und beim Versicherten lag in
der ersten Zeit nach dem Unfall mit Ausnahme von Nacken-
schmerzen namentlich auch nicht das für Distorsionsverlet-
zungen der HWS typische Beschwerdebild (vgl. dazu BGE 117 V
360 Erw. 4b) vor. Dass er beim Unfall ein Schleudertrauma

der HWS erlitten hat, welches erfahrungsgemäss geeignet
wäre, eine psychische Fehlentwicklung auszulösen, ist somit
nicht erstellt. Selbst wenn jedoch das Kriterium der beson-
deren Art der erlittenen Verletzung ebenfalls erfüllt wäre,
würde sich am Ergebnis nichts ändern, da die weiteren
rechtsprechungsgemäss in die Beurteilung miteinzubeziehen-
den Kriterien (ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen
Behandlung; körperliche Dauerschmerzen; ärztliche Fehl-
behandlung; schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche
Komplikationen; Grad und Dauer der physisch bedingten
Arbeitsunfähigkeit) allesamt unbestrittenermassen nicht
gegeben sind. Aufgrund einer Gesamtwürdigung kommt dem
Unfall damit für die psychische Fehlentwicklung und die
damit verbundene Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit keine
massgebende Bedeutung zu. Das kantonale Gericht hat den
adäquaten Kausalzusammenhang daher zu Recht verneint, womit
die Leistungspflicht der Winterthur über den 21. Dezember
1991 hinaus entfällt.

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungs-
     gericht des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für
     Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 28. Mai 2002

                Im Namen des
         Eidgenössischen Versicherungsgerichts
         Die Präsidentin         Der Gerichts-
         der IV. Kammer:            schreiber: