Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 56/2001
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U 56/01

Urteil vom 18. Juli 2003

I. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Leuzinger,
Bundesrichter Ferrari und Ursprung; Gerichtsschreiber Grunder

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

D.________, 1949, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Advokat Niggi Dressler,
Hauptstrasse 46, 4102 Binningen

Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft, Liestal

(Entscheid vom 18. Dezember 2000)

Sachverhalt:

A.
Die 1949 geborene D.________ arbeitete im Betrieb der Y.________ AG und war
dadurch gegen die Folgen von Unfällen bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch verichert. Am 13. Juni 1997
unterzog sie sich einer von Dr. med. L.________, Frauenarzt FMH, ausgeführten
vaginalen totalen Hysterektomie (Entfernung der Gebärmutter) und vorderen
Kolporrhaphie. Fünf Tage nach der Operation versuchte Dr. med. L.________
wegen einer akuten Harnverhaltung erfolglos, einen Blasenkatheter (Cystofix)
durch die Bauchdecke einzulegen, was am folgenden Tag dem beigezogenen
Urologen gelang. Nachdem Dr. med. L.________ den Blasenkatheter während einer
ambulanten Kontrolle wieder entfernt hatte, entwickelte sich eine
rezidivierende Makrohämaturie (Ausscheidung von roten Blutkörperchen im
Harn), weswegen D.________ am 16. September 1997 den Urologen Dr. med.
E.________ konsultierte, der bei der Zystoskopie (Blasenspiegelung)
intravesikal einen Fremdkörper entdeckte, den er mit einer Zange ohne
Komplikation entfernen und als 19 cm langes Teilstück eines Cystofix
identifizieren konnte (Bericht vom 16. September 1997). Nach diesem Eingriff
heilte die Hämaturie vollständig ab.

Seit der Hysterektomie litt D.________ an akuten lumbalen Rückenschmerzen mit
Ausstrahlungen in das linke Bein und ging keiner Erwerbstätigkeit mehr nach.
Der Hausarzt wies sie zur stationären Rehabilitation ins Spital X.________
ein, wo sie sich vom 2. Oktober bis 1. November 1997 aufhielt (Bericht vom 3.
November 1997). Nach erfolgloser Rehabilitation untersuchte am 11. und 18.
Dezember 1997 Dr. med. M._________, Spezialarzt FMH für Rheumatologie, die
Versicherte und verabreichte ihr eine Injektion in die Lendenwirbelsäule, die
zu keiner Verbesserung des Gesundheitszustandes führte (Bericht vom 2. Januar
1998). Auch der danach konsultierte Neurologe, Dr. med. S.________,
Neurologie FMH, konnte keine Therapie vorschlagen, die zu einer Verbesserung
hätte führen können (Bericht vom 14. April 1998).

Die IV-Stelle Basel-Landschaft, bei welcher sich D.________ am 26. Januar
1998 zum Leistungsbezug angemeldet hatte, sprach mit Verfügung vom 23.
September 1998 eine ganze Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 75%
zu.

Mit Schreiben vom 9. März 1999 liess D.________ die Ereignisse im
Zusammenhang mit dem Cystofix bei der SUVA anmelden. Nachdem die SUVA die
erwähnten ärztlichen Berichte eingeholt hatte, lehnte sie - gestützt auf eine
Beurteilung der medizinischen Akten durch Dr. med. G.________, FMH für
Chirurgie, Mitglied des Ärzteteams Unfallmedizin, vom 3. September 1999 -
ihre Leistungspflicht ab, mit der Begründung, dass kein Unfall im Rechtssinne
vorliege (Verfügung vom 4. Oktober 1999). An dieser Auffassung hielt sie im
Einspracheentscheid vom 16. Dezember 1999 fest mit der Präzisierung, es fehle
am Merkmal der Ungewöhnlichkeit.

B.
D.________ liess dagegen Beschwerde führen mit den Rechtsbegehren, unter
Aufhebung des Einspracheentscheids und der Verfügung der SUVA seien ihr eine
angemessene Rente und eine Integritätsentschädigung zuzusprechen. Mit
Entscheid vom 18. Dezember 2000 hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Basel-Landschaft die Beschwerde in dem Sinne gut, dass es den
Einspracheentscheid und die Verfügung der Unfallversicherung aufhob und die
Sache zur Überprüfung, ob ein Kausalzusammenhang zwischen der als Unfall
qualifizierten unvollständigen Entfernung des Cystofix und den
Rückenbeschwerden vorliege, an die SUVA zurückwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA, der vorinstanzliche
Entscheid sei aufzuheben. Gleichzeitig legt sie eine Beurteilung des Dr. med.
B.________, leitender Arzt des Ärzteteams Unfallmedizin, vom 26. Januar 2001
auf.

D. ________ lässt die vorinstanzlich gestellten Rechtsbegehren erneuern und
ersucht um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung. Das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Kranken- und Unfallversicherungsbereich
geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen
Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen
führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner
das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich
auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids
(hier: 16. Dezember 1999) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366
Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar.

2.
2.1 Unfall ist die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung
eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine
Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit zur Folge hat
(Art. 2 Abs. 2 KVG; Art. 9 Abs. 1 UVV; BGE 122 V 232 Erw. 1 mit Hinweisen).

2.2 Nach der Definition des Unfalls bezieht sich das Begriffsmerkmal der
Ungewöhnlichkeit nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern nur auf
diesen selber. Ohne Belang für die Prüfung der Ungewöhnlichkeit ist somit,
dass der äussere Faktor allenfalls schwerwiegende, unerwartete Folgen nach
sich zog. Der äussere Faktor ist ungewöhnlich, wenn er den Rahmen des im
jeweiligen Lebensbereich Alltäglichen oder Üblichen überschreitet. Ob dies
zutrifft, beurteilt sich im Einzelfall, wobei grundsätzlich nur die
objektiven Verumständungen in Betracht fallen (BGE 122 V 233 Erw. 1, 121 V 38
Erw. 1a, je mit Hinweisen).

2.3 Die Grundsätze zum Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit gelten auch, wenn
zu beurteilen ist, ob ein ärztlicher Eingriff den gesetzlichen Unfallbegriff
erfüllt. Die Frage, ob eine ärztliche Vorkehr als mehr oder weniger
ungewöhnlicher äusserer Faktor zu betrachten sei, ist auf Grund objektiver
medizinischer Kriterien zu beantworten. Sie ist nur dann zu bejahen, wenn die
ärztliche Vorkehr als solche den Charakter des ungewöhnlichen äusseren
Faktors aufweist; denn das Merkmal der Aussergewöhnlichkeit bezieht sich nach
der Definition des Unfallbegriffs nicht auf die Wirkungen des äusseren
Faktors, sondern allein auf diesen selber. Nach der Praxis ist es mit dem
Erfordernis der Aussergewöhnlichkeit streng zu nehmen, wenn eine medizinische
Massnahme in Frage steht. Damit eine solche Vorkehr als ungewöhnlicher
äusserer Faktor qualifiziert werden kann, muss ihre Vornahme unter den
jeweils gegebenen Umständen vom medizinisch Üblichen ganz erheblich abweichen
und zudem, objektiv betrachtet, entsprechend grosse Risiken in sich
schliessen. Im Rahmen einer Krankheitsbehandlung, für welche die
Unfallversicherung nicht leistungspflichtig ist, kann ein Behandlungsfehler
ausnahmsweise den Unfallbegriff erfüllen, nämlich wenn es sich um grobe und
ausserordentliche Verwechslungen und Ungeschicklichkeiten oder sogar um
absichtliche Schädigungen handelt, mit denen niemand rechnet noch zu rechnen
braucht. Ob ein Unfall im Sinne des obligatorischen Unfallversicherungsrechts
vorliegt, beurteilt sich unabhängig davon, ob der Arzt oder die Ärztin einen
Kunstfehler begangen hat, der eine (zivil- oder öffentlichrechtliche) Haftung
begründet. Ebenso wenig besteht eine Bindung an eine allfällige
strafrechtliche Beurteilung des ärztlichen Verhaltens (BGE 121 V 38 Erw. 1b,
118 V 284 Erw. 2b, je mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Lehre).

Soweit ersichtlich hatte das Eidgenössische Versicherungsgericht bisher die
Ungewöhnlichkeit des Zurücklassens eines Gegenstandes im menschlichen Körper
durch eine Ärztin oder einen Arzt nicht zu beurteilen.

3.
3.1 Es steht fest und ist unbestritten, dass Dr. med. L.________ weder nach
der misslungenen Einführung noch nach der ambulanten Entfernung noch später,
als die Beschwerdegegnerin sich über Schmerzen beklagte, überprüfte, ob der
Blasenkatheter vollständig entfernt war. Hingegen ist bestritten und zu
prüfen, ob der beschriebene Sachverhalt das Merkmal der Ungewöhnlichkeit im
Sinne von Art. 9 Abs. 1 UVV erfüllt und damit als Unfall zu qualifizieren
ist.

3.2 Die Vorinstanz hat in sorgfältiger Würdigung der Aktenlage erwogen, dass
vorliegend nicht die Schwierigkeit der ärztlichen Behandlung ausschlaggebend
für die Beurteilung ist, sondern die Tatsache, dass der Arzt die nach den
Regeln der ärztlichen Sorgfaltspflicht gebotene Überprüfung des Katheters auf
dessen Vollständigkeit hin unterliess. Gemäss dem Bericht des Dr. med.
G.________ vom 3. September 1999 muss der Arzt nach einer allgemein zu
befolgenden Regel den entfernten Katheter, unabhängig davon, wo er sich im
Körper befunden hat, auf dessen Vollständigkeit überprüfen, weil besonders
ein intraarteriell und intravenös verbliebenes Teilstück erhebliche Folgen
nach sich ziehen kann. Die SUVA führt denn auch aus, dass Ärzte und
Pflegepersonen bei der Harnblasenpunktion mit einem Cystofix-Set ständig
damit rechnen müssen, den Katheter beim Einlegen zu beschädigen bzw. an- oder
durchzuschneiden, weshalb in zahlreichen Spitälern diesbezügliche
Behandlungs- und Pflegerichtlinien gelten. Wenn der behandelnde Arzt bei der
Entfernung eines wegen einer Harnverhaltung eingelegten Blasenkatheters nicht
überprüft, ob er vollständig ist und dadurch ein Teilstück von erheblicher
Länge (i.c. mit 19 cm fast die Hälfte der ursprünglichen Länge) im Körper des
Patienten verbleibt, ist das Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit erfüllt,
weil mit einem derart krassen Verstoss gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht
nicht gerechnet werden muss.

3.3 Was die SUVA dagegen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorbringt, ist
unbehelflich. Zunächst macht sie geltend, das Risiko einer Abtrennung eines
Teils des Cystofix im Körper sei erheblich; Gegenstand der Beurteilung ist
indessen nicht dieses Risiko, sondern die Frage, ob die nur teilweise
Entfernung des Katheters infolge Unterlassens der Überprüfung auf
Vollständigkeit vom medizinisch Üblichen ganz erheblich abweicht. Ferner
übersieht die SUVA mit ihrer Einwendung, ein in der Blase verbliebener
Katheter habe nicht dieselben gravierenden Auswirkungen wie z.B. ein
intraarteriell oder intravenös in der Blutbahn vergessener, dass das
Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit sich nicht auf die Wirkung des äusseren
Faktors bezieht, sondern auf diesen selbst. Schliesslich macht die SUVA
geltend, der in der Blase verbliebene Katheter habe keine Verletzung
verursacht, weshalb es am Begriffsmerkmal der schädigenden Einwirkung auf den
menschlichen Körper fehle. Indessen ist gemäss dem Bericht des Dr. med.
E.________ vom 16. September 1997 erstellt, dass der Katheter eine
(schmerzhafte) Hämaturie verursachte und deswegen eine Blasenspiegelung
erforderlich war.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Zurücklassen einer 19 cm langen
Katheterspitze in der Blase den gesetzlichen Unfallbegriff erfüllt.

4.
Die SUVA bringt sodann vor, entgegen der Auffassung der Vorinstanz seien
weitere Abklärungen, ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem Unvollständigen
Entfernen des Blasenkatheters und den Rückenbeschwerden bestehe, nicht
notwendig, weil ein solcher gestützt auf die Akten ausgeschlossen werden
könne.

Die Zusammenhänge zwischen der vaginalen Hysterektomie, dem Zurücklassen
eines Teils des Katheters in der Blase, der Hämaturie sowie den bereits
vorgängig diagnostizierten Gesundheitsschäden und der offenbar in jener Zeit
eingetretenen Arbeitsunfähigkeit waren im Verwaltungsverfahren weder
Gegenstand der Abklärungen noch der Beurteilung in der Verfügung und im
Einspracheentscheid. Die Vorinstanz hat aus diesem Grunde die Sache an die
Verwaltung zur ergänzenden Abklärung und neuen Verfügung zurückgewiesen. Um
der Beschwerdegegnerin das Recht des zweifachen Instanzenzugs zu wahren,
prüft das Eidgenössische Versicherungsgericht nicht, ob ein (natürlicher und
adäquater) Kausalzusammenhang zwischen dem unvollständigen Entfernen des
Katheters und den gesundheitlichen Beschwerden vorliegt (vgl. in SVR 2002 EL
Nr. 2 S. 4 publ. Erw. 5 des Urteils BGE 127 V 244).

5.
Im vorliegenden Verfahren geht es um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen, weshalb von der Auferlegung von Gerichtskosten
abzusehen ist (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend ist dem
Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege,
einschliesslich der unentgeltlichen Verbeiständung, erweist sich damit als
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt hat der Beschwerdegegnerin für
das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2'500.-- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 18. Juli 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:   Der Gerichtsschreiber:

i.V.