Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 412/2001
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U 412/01

Urteil vom 9. September 2002
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ursprung; Gerichtsschreiber
Hochuli

Schweizerische Mobiliar Versicherungsgesellschaft, Bundesgasse 35, 3011 Bern,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher René W. Schleifer,
Stampfenbachstrasse 42, 8006 Zürich,

gegen

R.________, Beschwerdegegnerin,

Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden, Abteilung Versicherungsgericht,
Stans

(Entscheid vom 30. Juli 2001)

Sachverhalt:

A.
R. ________, geboren 1970, bei der Schweizerischen Mobiliar
Versicherungsgesellschaft (nachfolgend: MOBILIAR oder Beschwerdeführerin)
obligatorisch gegen Unfälle versichert, stürzte am 4. Juni 1998 auf dem
Arbeitsweg mit dem Fahrrad zu Boden. Dr. med. B.________ vom Kantonsspital
X.________ äusserte anlässlich der Notfallbehandlung des Schlüsselbeinbruchs
am Unfalltag den Verdacht auf ein Distorsionstrauma der Halswirbelsäule
(HWS), weshalb er unter anderem das Tragen eines weichen Halskragens
verordnete. Nebst multiplen Schürfungen und Prellungen an der rechten
Körperseite sowie einer Claviculafraktur rechts diagnostizierte der ebenfalls
am 4. Juni 1998 erstbehandelnde Hausarzt Dr. med. M.________, allgemeine
Medizin FMH, ein Schleudertrauma der HWS (Arztzeugnis UVG vom 16. Juni 1998).
Gestützt auf das im Auftrag der MOBILIAR durch Dr. med. N.________,
Spezialarzt FMH für Neurologie, am 9. Januar 2000 ausgefertigte
Aktengutachten stellte sie mit Verfügung vom 21. Februar 2000 per sofort
sämtliche Versicherungsleistungen ein, woran sie auf Einsprache hin fest
hielt (Einspracheentscheid vom 23. September 2000).

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der R.________ hiess das Verwaltungsgericht
des Kantons Nidwalden mit Entscheid vom 30. Juli 2001 in dem Sinne teilweise
gut, als es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache zur Neubegutachtung
und Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die MOBILIAR zurück wies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die MOBILIAR beantragen, unter
Aufhebung des Entscheids des kantonalen Gerichts sei der Einspracheentscheid
vom 23. September 2000 zu bestätigen.

Während R.________ erneut die Durchführung einer spezialärztlichen
Untersuchung zur Beurteilung der Unfallkausalität ihrer gesundheitlichen
Beeinträchtigungen und damit sinngemäss die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt, verzichten sowohl die als
Krankenversichererin beigeladene CONCORDIA Schweizerische Kranken- und
Unfallversicherung als auch das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf
eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Rechtsprechung zu dem für die Leistungspflicht
des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang
zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität,
Tod) zutreffend dargelegt (BGE 119 V 337 Erw. 1, 117 V 360 Erw. 4a).
Entsprechendes gilt für die Praxis zum Beweiswert eines vom Unfallversicherer
angeordneten Gutachtens, das im Sinne eines reinen Aktengutachtens ohne
persönliche Untersuchung des Versicherten erstellt wurde (RKUV 1993 Nr. U 167
S. 96 Erw. 5a, 1988 Nr. U 56 S. 370 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Darauf wird
verwiesen.

2.
2.1 Der Sozialversicherungsprozess ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht.
Danach hat das Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige
Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Dieser Grundsatz
gilt indessen nicht uneingeschränkt; er findet sein Korrelat in den
Mitwirkungspflichten der Parteien (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a,
je mit Hinweisen).

Der Untersuchungsgrundsatz schliesst die Beweislast im Sinne einer
Beweisführungslast begriffsnotwendig aus. Im Sozialversicherungsprozess
tragen mithin die Parteien in der Regel eine Beweislast nur insofern, als im
Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt,
die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese
Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist,
im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen
Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat,
der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 264 Erw. 3b mit Hinweisen).

2.2 Die Verwaltung als verfügende Instanz und - im Beschwerdefall - das
Gericht dürfen eine Tatsache nur dann als bewiesen annehmen, wenn sie von
ihrem Bestehen überzeugt sind (Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4.
Aufl., Bern 1984, S. 136). Im Sozialversicherungsrecht hat das Gericht seinen
Entscheid, sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse
Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen
nicht. Der Richter und die Richterin haben vielmehr jener
Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die sie von allen möglichen
Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste würdigen (BGE 126 V 360 Erw. 5b,
125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen).

2.3 In Bezug auf den Beweiswert eines Arztberichtes ist entscheidend, ob der
Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen
Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in
Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der
medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen
Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet
sind. Ausschlaggebend für den Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die
Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der eingereichten oder in
Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht oder Gutachten (BGE 125 V 352
Erw. 3a mit Hinweis).

3.
Gemäss ausdrücklicher Feststellung des Vertrauensarztes der
Beschwerdeführerin (Bericht des Dr. med. N.________ vom 29. März 2000) ist
unbestritten, dass die Versicherte "an Schmerzen im Bereich der
Cervicalregion leidet". Dr. med. M.________ fand gemäss Bericht vom 25. Juni
1999 "objektiv eine Bewegungseinschränkung vor allem bei Seitenneigung und
Rotation sowie eine hypertone und verspannte Muskulatur im cranialen
Trapeziusbereich". Er beurteilte diese Beschwerden im Zusammenhang mit dem
diagnostizierten Distorsionstrauma der HWS als Unfallfolgen. Strittig ist, ob
die im Bereich der HWS anhaltenden Beschwerden über den 21. Februar 2000
hinaus in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall vom 4. Juni 1998
stehen. Dabei ist vorweg zu prüfen, ob diese Frage gestützt auf die
vorliegenden Akten mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (Erw. 2.2 hievor) beurteilt werden kann.

3.1 Die Vorinstanz gelangte nach umfassender Würdigung der vorhandenen Akten
zutreffend zur Auffassung, angesichts der die Unfallkausalität bejahenden
Beurteilung des Dr. med. M.________ könne insbesondere einzig gestützt auf
die Berichte des Vertrauensarztes der MOBILIAR vom 9. Januar und 29. März
2000 nicht schlüssig beurteilt werden, ob die anhaltenden Beschwerden der
Versicherten noch in einem leistungsanspruchsbegründenden ursächlichen
Zusammenhang mit dem Unfall vom 4. Juni 1998 stünden. Immerhin habe bereits
der behandelnde Notfallarzt Dr. med. B.________ den Verdacht auf ein
HWS-Distorsionstrauma erhoben und eine entsprechende Therapie verordnet. Auch
der Hausarzt habe anlässlich der Erstbehandlung vom 4. Juni 1998 eine
"Zwangshaltung des Kopfes" festgestellt und ein "Schleudertrauma der HWS"
diagnostiziert. Die Sache sei deshalb an die Beschwerdeführerin zur
rechtsgenüglichen Abklärung des Kausalzusammenhanges durch Einholung eines
interdisziplinären Gutachtens sowie zur anschliessenden Neubeurteilung
zurückzuweisen.

3.2 Demgegenüber argumentiert die MOBILIAR sinngemäss und ohne sich zu den
aktuell geklagten Beschwerden zu äussern, die über die Leistungseinstellung
per 21. Februar 2000 hinaus vorhandenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen
würden nicht in einem anspruchsbegründenden natürlichen Kausalzusammenhang
mit dem Unfallereignis stehen. Gemäss Aktengutachten des Dr. med. N.________
vom 9. Januar 2000 habe Dr. med. M.________ erst zwei Wochen nach dem Unfall
(am "19.6.98", recte wohl: am 16. Juni 1998 gemäss Arzteugnis UVG) eine
"Zwangshaltung des Kopfes" festgestellt. Für ein HWS-Distorsionstrauma
typische Beschwerden müssten praxisgemäss innert 72 Stunden nach dem Unfall
auftreten. Weil erst am 16. Juni 1998 und somit nach rechtsprechnungsgemäss
zu langer Latenzzeit über eine Zwangshaltung des Kopfes berichtet worden sei,
könne der natürliche Kausalzusammenhang zwischen den anhaltenden Beschwerden
und dem Unfall auch ohne interdisziplinäre Begutachtung ausgeschlossen
werden. Zudem fehle es am adäquaten Kausalzusammenhang.

3.3 Bei der Berufung auf die Rechtsprechung des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts zur Frage der Latenz verkennt die Beschwerdeführerin,
dass es zur Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs ausreicht, wenn
innert weniger Tage nach dem Unfall vorerst Nackenbeschwerden auftreten und
weitere typische, zum Bild dieser Verletzung gehörende Beschwerden erst
später diagnostiziert werden. Vorliegend wurden Nackenbeschwerden bereits in
der Erstbehandlung im Kantonsspital X.________ festgestellt, bevor der
Hausarzt den Befund einer Zwangshaltung des Kopfes erhob und mit Bericht vom
12. August 1998 auch auf Kopfschmerzen hinwies. Der natürliche
Kausalzusammenhang kann somit nicht wegen zu langer Latenzzeit ausgeschlossen
werden.

3.4 Ob die geklagten Beschwerden zum Unfallereignis adäquat kausal sind, ist
erst nach Abschluss des normalen, unfallbedingt erforderlichen
Heilungsprozesses zu prüfen (Urteil A. vom 6. November 2001, U 8/00, mit
Hinweisen). Ob dieser Zeitpunkt bei Verfügungserlass erreicht war, lässt sich
erst in Kenntis des vom kantonalen Gericht angeordneten Gutachtens
entscheiden.

Demnach ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz mit angefochtenem
Entscheid  -  ohne Prüfung der Adäquanz  -  den Einspracheentscheid der
MOBILIAR vom 23. September 2000 aufhob und die Sache zur Durchführung einer
interdisziplinären Begutachtung und anschliessenden Neubeurteilung an die
Beschwerdeführerin zurückwies.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Nidwalden, der CONCORDIA Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung sowie
dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 9. September 2002
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: