Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 408/2001
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 U 408/01

Urteil vom 18. Mai 2004
IV. Kammer

Bundesrichterin Widmer, Vorsitzende, Bundesrichter Schön und Ursprung;
Gerichtsschreiberin Durizzo

P.________, 1943, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Roland
Ilg, Rämistrasse 5, 8001 Zürich,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 14. November 2001)

Sachverhalt:
A.
P.________, geboren 1943, reiste 1980 in die Schweiz ein und arbeitete bis 1993
im Gartenbau und anschliessend im Baugewerbe. Er leidet an Schwerhörigkeit und
hat seine Erwerbstätigkeit deswegen im Juli 1998 aufgegeben. Mit Verfügung vom
12. Dezember 2000 lehnte die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
ihre Leistungspflicht ab unter Hinweis darauf, dass keine Berufskrankheit
vorliege. An dieser Auffassung hielt sie auch auf Einsprache hin fest
(Einspracheentscheid vom 9. Mai 2001).
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau mit Entscheid vom 14. November 2001 ab.
C.
P.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, es sei
ihm eine ganze Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung von 45 %
zuzusprechen; eventualiter sei ein Obergutachten einzuholen. Des Weiteren sei
ihm die unentgeltliche Verbeiständung zu gewähren.

Während die SUVA auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung, Abteilung Kranken- und
Unfallversicherung (seit 1. Januar 2004 im Bundesamt für Gesundheit), auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm
sind zahlreiche Bestimmungen im UV-Bereich geändert worden. Weil in zeitlicher
Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der
Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 129 V 4
Erw. 1.2 und BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheides (hier:
9. Mai 2001) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 und BGE
121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die neuen Bestimmungen nicht
anwendbar.
1.2 Das kantonale Gericht hat die Bestimmung und Grundsätze über die
Berufskrankheiten (Art. 9 Abs. 1 UVG und Anhang I zur UVV sowie BGE 119 V 200
Erw. 2a mit Hinweis; Art. 9 Abs. 2 UVG und BGE 119 V 201 Erw. 2b; vgl. auch BGE
126 V 186 Erw. 2b) richtig dargelegt. Wenn demnach ein Versicherter an einer
Krankheit leidet, die in Ziff. 2 des Anhanges I zur UVV aufgeführt ist und er -
kumulativ - alle oder dort besonders umschriebene Tätigkeiten verrichtet hat,
liegt in der Regel eine Berufskrankheit vor, sofern die Arbeit die Krankheit
zumindest zu 50 % verursacht hat (sogenannte Listenkrankheiten). Die
Zusammenhangsfrage ist in diesem Bereich - auf Grund arbeitsmedizinischer
Erkenntnisse - weitgehend durch den Verordnungsgeber vorentschieden. Von dieser
Regel, welche auch als dem (schlüssigen) Gegenbeweis weichende natürliche
Vermutung bezeichnet werden kann, ist abzugehen, wenn konkrete Umstände des
Einzelfalles klar gegen eine berufliche Verursachung sprechen (BGE 126 V 188 f.
Erw. 4a). Die Anerkennung anderer Krankheitsbilder im Rahmen der Generalklausel
nach Art. 9 Abs. 2 UVG ist demgegenüber subsidiär. In diesem Bereich ist in
jedem Einzelfall Beweis darüber zu führen, ob die geforderte stark überwiegende
(mehr als 75 %ige) bis ausschliessliche berufliche Verursachung vorliegt (BGE
126 V 189 Erw. 4b).
2.
2.1 Gemäss audiologischer Untersuchung des Dr. med. K.________, FMH für Hals-,
Nasen-, Ohrenkrankheiten, spez. Hals- und Gesichtschirurgie, vom 21. Juni 2000
besteht beim Versicherten eine mittel- bis hochgradige kombinierte
Schwerhörigkeit mit Hörverlust zwischen 60 bis 76 %. Aus der Beurteilung des
Kreisarztes Dr. med. M.________, Facharzt FMH für Ohren-, Nasen- und
Halskrankheiten, Hals- und Gesichtschirurgie und Arbeitsmedizin, vom 17.
November 2000 ergibt sich, dass die Schwerhörigkeit einerseits auf einem
Innenohranteil mit typischem Hochtonabfall beruht, wie dies nach langjähriger
beruflicher Lärmbelastung auftreten könne, andererseits auf einer ausgeprägten
Schallleitungskomponente, welche durch krankhafte Veränderungen im Bereich der
oberen Luftwege (chronische Rhinosinusitis mit konsekutiver
Tubenfunktionsstörung gemäss Bericht des Dr. K.________) bedingt ist. Die
unzweifelhaft bestehenden berufslärmbedingten Anteile seien von deutlich
untergeordneter Bedeutung.

2.2 Die Gründe für die Schwerhörigkeit sind demnach genügend abgeklärt und es
steht fest, dass eine erhebliche Schädigung des Gehörs nach Arbeiten im Lärm
(Kompressorarbeiten) vorliegt. Jedoch ist die langjährige berufliche
Lärmbelastung im Fall des Versicherten nach übereinstimmender ärztlicher
Einschätzung nicht überwiegende Ursache der Schwerhörigkeit. Wie das kantonale
Gericht richtig erkannt hat, liegt daher keine Berufskrankheit im Sinne von
Art. 9 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Ziff. 2 des Anhanges I zur UVV vor. Den
Einwand des Beschwerdeführers, er sei nie anderen Lärmquellen als dem Baulärm
ausgesetzt gewesen, hat die Vorinstanz ebenfalls zu Recht entkräftet.

Als Berufskrankheiten gelten nach Art. 9 Abs. 2 UVG auch andere Krankheiten,
von denen nachgewiesen wird, dass sie ausschliesslich oder stark überwiegend
durch berufliche Tätigkeit verursacht worden sind. Damit sollen auch solche
Leiden die für Berufskrankheiten vorgesehenen Leistungen auslösen, die nach
bisheriger arbeitsmedizinischer Erkenntnis (noch) nicht in einen dermassen
qualifizierten Ursachenzusammenhang mit beruflichen Tätigkeiten gebracht werden
können, dass sich deswegen ihre Bezeichnung als Listenkrankheit rechtfertigte.
Nach den medizinischen Unterlagen bestehen im Falle des Beschwerdeführers keine
Anhaltspunkte dafür, dass die für die Schwerhörigkeit hauptsächlich
verantwortliche Erkrankung der oberen Luftwege mit der geforderten
Erheblichkeit berufsbedingt wäre und deshalb als Berufskrankheit im Sinne von
Art. 9 Abs. 2 UVG anerkannt werden könnte. Aus der Tatsache allein, dass
Bauarbeiter teilweise extremen klimatischen Bedingungen ausgesetzt sind, kann
nicht abgeleitet werden, dass die diagnostizierte chronische Rhinosinusitis zu
mehr als 75 % auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist. Der
diesbezügliche Einwand des Beschwerdeführers ist daher unbehelflich.
3.
Im vorliegenden Verfahren geht es um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen, weshalb von der Auferlegung von Gerichtskosten
abzusehen ist (Art. 134 OG). Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt
werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit
aktenkundig ist, die Beschwerde angesichts der vorstehenden Erwägungen nicht
als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202
Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf
Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Dr.
Roland Ilg für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus
der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
als Versicherungsgericht, und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.

Luzern, 18. Mai 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Vorsitzende der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin:

   i.V.