Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 357/2001
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U 357/01 Gr

                        IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari;
Gerichtsschreiber Flückiger

                 Urteil vom 8. April 2002

                         in Sachen

ELVIA Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft Zürich,
Badenerstrasse 694, 8048 Zürich, Beschwerdeführerin,

                           gegen

S.________, 1958, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechts-
anwalt Dr. Bruno Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,

                            und

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

     A.- Der 1958 geborene S.________ war ab 1. Februar
1993 bei der Firma M.________ AG angestellt und bei der
"Elvia" Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Elvia)
obligatorisch gegen die Folgen von Unfall und Berufskrank-
heit versichert. Am 14. Februar 1996 war er als Lenker
eines Personenwagens von einer Auffahrkollision betroffen.
Dr. med. H.________, Allgemeine Medizin FMH, den der Versi-
cherte erstmals am 16. Februar 1996 konsultiert hatte,

diagnostizierte in Berichten vom 8. und 21. März 1996 ein
Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS). Die Elvia holte
weitere Auskünfte des Dr. med. H.________ vom 10. Juni und
29. August 1996, des Zentrums Y.________ vom 27. März 1996
sowie der Medizinischen Klinik des Spitals X.________ vom
23. August 1996 ein. Nachdem Dr. med. H.________ in einem
Schreiben vom 7. Oktober 1996 eine vertrauensärztliche
Untersuchung angeregt hatte, gab die Elvia bei Dr. med.
B.________, Chirurgie FMH, ein Gutachten in Auftrag, wel-
ches am 5. Dezember 1996 erstattet wurde. Anschliessend
stellte sie - wie bereits in einem Schreiben vom 19. Sep-
tember 1996 angekündigt - mit Verfügung vom 8. April 1997
ihre Leistungen per 31. Juli 1996 ein. Daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 7. August 1997 fest. Auf Beschwerde
hin hob das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern den Ein-
spracheentscheid auf mit der Begründung, im Zusammenhang
mit der Erstellung und Verwertung des Gutachtens des Dr.
med. B.________ seien die Gehörs- und Mitwirkungsrechte des
Versicherten verletzt worden (Entscheid vom 12. März 1998).
     Die Elvia holte - nachdem der Versicherte eine Stel-
lungnahme der Rehaklinik vom 6. März 1998 hatte einreichen
lassen - bei Dr. med. S.________, Neurologie FMH, ein Gut-
achten ein, welches am 9. Juni 1999 erstattet wurde. Der
Gutachter hatte seinerseits einen Bericht der Klinik
X.________, vom 10. November 1998 (Magnetresonanztomogra-
phie der LWS) und ein Gutachten des Neuropsychologischen
Instituts Z.________ vom 12. Januar 1999 beigezogen. In der
Folge einigten sich die Parteien vergleichsweise auf eine
Integritätsentschädigung auf Grund einer Integritätseinbus-
se von 15 %.
     Am 22. September 1999 liess der Versicherte - unter
Beilage eines Zeugnisses des Dr. med. E.________, Allge-
meine Medizin FMH, vom 11. September 1999 - einen Rückfall
melden und die Zusprechung weiterer Leistungen beantragen.
Die Elvia lehnte das Gesuch mit Verfügung vom 18. Januar
2000 ab, weil der adäquate Kausalzusammenhang zu verneinen
sei. Diesen Standpunkt bestätigte sie mit Einspracheent-
scheid vom 5. April 2000.

     B.- Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwal-
tungsgericht des Kantons Luzern in dem Sinne gut, dass es
den Einspracheentscheid aufhob und die Sache an die Elvia
zurückwies, damit diese über ihre gesetzliche Leistungs-
pflicht neu verfüge (Entscheid vom 13. September 2001). Im
Verlauf des Verfahrens hatte der Versicherte unter anderem
Stellungnahmen des PD Dr. med. W.________, Augenarzt FMH
vom 14. Mai 2000 und des Dr. med. M.________, Otorhinola-
ryngologie, Hals- und Gesichtschirurgie FMH, vom 24. August
2000 einreichen lassen. Das kantonale Gericht hatte seiner-
seits einen Bericht des Dr. med. E.________ vom 27. Juli
2001 (Krankengeschichte, mit Beilagen) eingeholt.

     C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die
Elvia die Aufhebung des kantonalen Entscheids.
     S.________ lässt das Rechtsbegehren stellen, die Ver-
waltungsgerichtsbeschwerde sei abzuweisen. Das Bundesamt
für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- Das kantonale Gericht hat die Rechtsprechung zu
dem für die Leistungspflicht des Unfallversicherers voraus-
gesetzten natürlichen Kausalzusammenhang (BGE 119 V 337
Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen) zutreffend
dargelegt. Entsprechendes gilt für die von der Judikatur
entwickelten Grundsätze zum Erfordernis des adäquaten Kau-
salzusammenhanges im Allgemeinen (BGE 125 V 461 Erw. 5a mit
Hinweisen) sowie insbesondere bei den Folgen eines Unfalles
mit Schleudertrauma der HWS oder äquivalenten Verletzungen
ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle (BGE 117 V
359 ff.), mit Einschluss als leicht zu qualifizierender
Unfallereignisse (RKUV 1998 Nr. U 297 S. 243 ff.). Darauf
wird verwiesen.

     2.- Auf Grund der medizinischen Akten ist erstellt,
dass der Versicherte anlässlich des Unfalls vom 14. Februar
1996 ein HWS-Distorsionstrauma und damit eine einem Schleu-
dertrauma der HWS äquivalente Verletzung (vgl. SVR 1995 UV
Nr. 23 S. 67 Erw. 2) erlitten hat. Zudem ist hinreichend
dokumentiert und unbestritten, dass in der Folge eine Reihe
der zum typischen Beschwerdebild eines solchen gehörenden
Symptome aufgetreten ist, die in einem natürlichen Kausal-
zusammenhang zum Unfallereignis stehen.

     3.- Streitig ist die Adäquanz des Kausalzusammenhangs
zwischen dem Unfallereignis vom 14. Februar 1996 und den
vom Versicherten geklagten Beschwerden und im Rahmen dieser
Prüfung die Qualifikation des Unfallereignisses.

     a) Die Vorinstanz nahm einen Unfall im mittleren
Bereich an. Sie bejahte aber den adäquaten Kausalzusammen-
hang selbst bei Annahme eines leichten Unfalls, weil die
massgebenden unfallbezogenen Kriterien in gehäufter Weise
erfüllt seien. Die Beschwerdeführerin geht demgegenüber von
einem leichten Unfall aus und verneint für den Fall, dass
die unfallbezogenen Kriterien trotzdem beigezogen werden
müssten, deren Vorliegen in erforderlichem Masse.

     b) aa) Gemäss der Darstellung in der Vernehmlassung
des Versicherten zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde verlief
der Unfall vom 14. Februar 1996 wie folgt: Der Beschwerde-
gegner musste sein Fahrzeug vor einem Rotlichtsignal anhal-
ten. Er stieg aus dem Wagen, um ein Laubblatt zu entfernen,
welches sich unter dem Scheibenwischerblatt verklemmt hat-
te. Anschliessend stieg er zurück in sein Auto, gurtete
sich an und stellte die Füsse auf Bremse und Kupplung. In
diesem Moment wurde das Fahrzeug von hinten von einem ande-
ren Personenwagen gerammt. Der Beschwerdegegner hatte dabei
den Kopf leicht nach vorne geneigt, da er seine Aufmerksam-
keit immer noch dem verschmutzten Scheibenwischer widmete.

     bb) Für die Qualifikation eines Unfalls als schwer,
mittelschwer oder leicht ist vom augenfälligen Geschehens-
ablauf auszugehen (BGE 117 V 366 Erw. 6a). Das Eidgenössi-
sche Versicherungsgericht hat Auffahrkollisionen vor einem
Fussgängerstreifen oder einem Lichtsignal regelmässig als
mittelschwer im Grenzbereich zu den leichten Unfällen ein-
gestuft (nicht veröffentlichte Urteile E. vom 21. Juni
1999, U 128/98, K. vom 20. März 1998, U 262/97 und D. vom
6. Juni 1997, U 187/95). Entgegen der Auffassung der Vor-
instanz ist das Ereignis vom 14. Februar 1996 entweder
ebenso zu beurteilen oder - angesichts des durch die
Beschwerdeführerin eingeholten interdisziplinären Gutach-
tens des Ingenieurbüros I.________, in welchem eine kolli-
sionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (Delta-v) von ledig-
lich 3 bis 6 km/h angegeben wird - sogar den leichten
Unfällen zuzuordnen. Dies kann letztlich offen bleiben, da
die Adäquanzfrage - als Ausnahme von der Regel - auch bei
leichten Unfällen zu prüfen ist, wenn ein als leicht zu
qualifizierender Unfall unmittelbare Folgen zeitigt, die
sich nicht offensichtlich als unfallunabhängig erweisen
(RKUV 1998 Nr. U 297 S. 243 ff.). Diese Voraussetzung ist
vorliegend erfüllt, wie die Vorinstanz mit zutreffender
Begründung dargelegt hat. Die Adäquanz des Kausalzusammen-
hangs ist daher nach den Kriterien zu prüfen, wie sie für
dem mittleren Bereich (im Grenzbereich zu den leichten)
zuzuordnende Unfälle gelten. Sie ist zu bejahen, falls ein
einzelnes der unfallbezogenen Kriterien (besonders dramati-
sche Begleitumstände oder besondere Eindrücklichkeit des
Unfalls; Schwere oder besondere Art der erlittenen Verlet-
zung; ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung;
Dauerbeschwerden; ärztliche Fehlbehandlung, welche die
Unfallfolgen erheblich verschlimmert; schwieriger Heilungs-
verlauf und erhebliche Komplikationen; erheblicher Grad und
lange Dauer der Arbeitsunfähigkeit) in besonders ausgepräg-
ter Weise gegeben ist oder die zu berücksichtigenden Krite-
rien insgesamt in gehäufter oder auffallender Weise erfüllt
sind (BGE 117 V 367 f.).

     c) aa) Der Unfall vom 14. Februar 1996 ereignete sich
weder unter besonders dramatischen Begleitumständen noch
war er von besonderer Eindrücklichkeit.

     bb) Dr. med. H.________ konnte die Behandlung grund-
sätzlich bereits per 29. März 1996 abschliessen. Anschlies-
send veranlasste er die Durchführung einer Physiotherapie
sowie eine Untersuchung auf der Neurologischen Station des
Spitals X.________ vom 13. August 1996 und schliesslich die
vertrauensärztliche Untersuchung durch Dr. med. B.________.
Der durch die Vorinstanz bei Dr. med. E.________ eingehol-
ten Krankengeschichte vom 27. Juli 2001 sowie den entspre-
chenden Beilagen ist zu entnehmen, dass die erste Konsulta-
tion bei diesem Arzt am 31. Oktober 1997 stattfand. In der
Folge wurden bis zum Einspracheentscheid vom 5. April 2000,
welcher die zeitliche Grenze der gerichtlichen Überprüfung
festlegt (BGE 116 V 248 Erw. 1a), eine Reihe von Berichten
eingeholt und Untersuchungen veranlasst. Daneben wurde die
Physiotherapie weitergeführt. Von einer ungewöhnlich langen
Dauer der ärztlichen Behandlung kann bei dieser Sachlage
nicht gesprochen werden. Insbesondere kommt weder den ver-
schiedenen Abklärungsmassnahmen noch den sporadischen Kon-
sultationen des Hausarztes die Qualität einer regelmässi-
gen, zielgerichteten Behandlung zu.

     cc) Es bestehen keinerlei Anzeichen für eine ärztliche
Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen verschlimmert hät-
te. Auch von einem schwierigen Heilungsverlauf und erhebli-
chen Komplikationen kann nicht gesprochen werden.

     dd) Das Vorliegen rezidivierender Kopfschmerzen, wel-
che seit dem Unfall regelmässig auftraten, ist hinreichend
dokumentiert (Zwischenbericht des Dr. med. H.________ vom
21. März 1996; Gutachten des Dr. med. S.________ vom
9. Juni 1999). Das Kriterium der Dauerbeschwerden ist daher
erfüllt.

     ee) im Bezug auf das Kriterium der besonderen Art der
erlittenen Verletzung führt die Beschwerdeführerin unter
Berufung auf das Urteil D. vom 16. August 2001 (U 21/01)
aus, eine HWS-Distorsion, durch welche das typische
Beschwerdebild hervorgerufen werde, gelte nicht a Prior und
ohne weiteres als Verletzung besonderer Art. Diese Aussage
ist in dem Sinne zu präzisieren, dass sich die Frage, ob
eine Verletzung besonderer Art vorliegt, nicht allgemein
beantworten lässt, sondern im Einzelfall zu prüfen ist. Von
der Rechtsprechung bejaht wurde sie bei einer Häufung ver-
schiedener, für ein HWS-Schleudertrauma oder eine einem
solchen äquivalente Verletzung typischer Beschwerden mit
schwerwiegenden Auswirkungen. Dass der Beschwerdegegner an
einer Reihe der zum typischen Beschwerdebild zählenden
Symptome leidet, ist erstellt. Da diese durchaus schwerwie-
gende Auswirkungen zeitigten, ist das Kriterium der beson-
deren Art der Verletzung erfüllt, obwohl auf Grund der
Akten nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad feststeht,
dass der Beschwerdegegner die behauptete vorgezeigte Kör-
perhaltung eingenommen hätte.

     ff) Der Beschwerdegegner war nach dem Unfall zunächst
zu 100 % arbeitsunfähig, nahm die Arbeit jedoch bereits
nach kurzer Zeit wieder auf. Anschliessend arbeitete er bis
November 1999 ununterbrochen mit einem vollen Pensum. Von
ärztlicher Seite wurde ihm für die Zeit ab 1. Juni 1999
eine teilweise Arbeitsunfähigkeit (25 %) attestiert
(Unfallschein UVG mit Eintragungen des Dr. med. E.________
vom 17. Mai bis 17. Oktober 2001; vgl. Gutachten des Dr.
med. S.________ vom 9. Juni 1999). Die mit der Vernehmlas-
sung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereichte Bestä-
tigung der Arbeitgeberin vom 23. November 2001 enthält die-
selbe Aussage. Dass die Arbeitsunfähigkeit bereits zu einem
früheren Zeitpunkt im erforderlichen Ausmass reduziert
gewesen wäre, ist auf Grund der Akten nicht mit dem erfor-
derlichen Beweisgrad nachgewiesen. Wie die Beschwerdeführe-
rin zu Recht ausführt, kann unter diesen Umständen das Kri-
terium des erheblichen Grades und der langen Dauer der

Arbeitsunfähigkeit nicht als erfüllt angesehen werden, ist
doch gerade die Leistungspflicht für die ab Juni 1999
bescheinigte teilweise Arbeitsunfähigkeit streitig.

     gg) Da nur zwei und damit nicht mehrere der unfallbe-
zogenen Kriterien erfüllt sind, kommt dem Unfallereignis
vom 14. Februar 1996 keine rechtlich massgebende Bedeutung
für die ab Mai 1999 bestehenden Beschwerden und die damit
verbundene Arbeitsunfähigkeit zu, weshalb der adäquate Kau-
salzusammenhang zu verneinen ist.

     4.- Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Der
obsiegenden Beschwerdeführerin steht keine Parteientschädi-
gung zu (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG; BGE
123 V 309 Erw. 10 mit Hinweisen).

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
     der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons
     Luzern vom 13. September 2001 aufgehoben.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

 IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsge-
     richt des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrecht-
     liche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversiche-
     rung zugestellt.

Luzern, 8. April 2002
                                  Im Namen des
                      Eidgenössischen Versicherungsgerichts
                          Die Präsidentin der IV. Kammer:

                               Der Gerichtsschreiber: