Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 356/2001
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U 356/01

Urteil vom 24. September 2002
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Schmutz

R.________, 1955, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Rudolf
Gautschi, Ulrichstrasse 14, 8032 Zürich,

gegen

Coop Allgemeine Versicherung AG, route de Beaumont 2, 1700 Fribourg,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Werner E. Ott,
Badenerstrasse 21, 8004 Zürich

Kantonales Versicherungsgericht des Wallis, Sitten

(Entscheid vom 8. Oktober 2001)

Sachverhalt:

A.
R. ________ wohnte mit seiner Familie im aargauischen B.________. Ende April
1999 wurde seine Ehe geschieden. Er war bei der Coop Allgemeine Versicherung
AG (vormals Freiburger Allgemeine Versicherung) obligatorisch für die Folgen
von Unfällen und Berufskrankheiten versichert, als er am 23. Oktober 1995 bei
einem Verkehrsunfall nach den Angaben der Ärzte ein Distorsionstrauma der
Halswirbelsäule erlitt. Mit Verfügung vom 9. Januar 1998 und
Einspracheentscheid vom 6. Juni 2000 verneinte die Coop Allgemeine
Versicherung AG ihre Leistungspflicht im Zusammenhang mit diesem Ereignis und
behielt sich vor, die bereits ausgerichteten Leistungen zurückzufordern.

B.
Hiegegen liess R.________ beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau
Beschwerde einreichen. Er gab an, bis zum 20. Juni 2000, an dem er den
zivilrechtlichen Wohnsitz ins Ausland nach C.________ verlegt habe, an seinem
langjährigen Domizil B.________ gelebt zu haben. Die Schriften habe er am
Standort seines Ferienhauses in der Walliser Gemeinde F.________ deponiert.
Mit Entscheid vom 17. Januar 2001 trat das Gericht mangels örtlicher
Zustän-digkeit auf die Beschwerde nicht ein. Es setzte R.________ eine Frist
zur Mittei-lung, an welches kantonale Versicherungsgericht (Wallis als
letzter Wohnsitz-kanton bzw. Zürich als Sitzkanton des letzten
schweizerischen Arbeitgebers) die Beschwerdesache zu überweisen sei.
R.________ liess verlauten, die Sache sei an das Walliser Gericht
weiterzuleiten. Mit Entscheid vom 8. Oktober 2001 verneinte das Kantonale
Versicherungsgericht des Wallis seinerseits die örtliche Zuständigkeit und
trat auf die Beschwerde ebenfalls nicht ein.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt R.________ beantragen, der Entscheid
des Kantonalen Versicherungsgerichts des Wallis sei aufzuheben und die Sache
zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter
sei an das von Amtes wegen zu bestimmende örtlich zuständige
Versicherungsgericht zu überweisen.

Die Coop Allgemeine Versicherung und das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichten auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Nach Art. 107 Abs. 2 UVG ist für die Beurteilung von Beschwerden gegen
Einspracheentscheide das Versicherungsgericht desjenigen Kantons zuständig,
in welchem der Betroffene seinen Wohnsitz hat (Satz 1). Befindet sich der
Wohnsitz im Ausland, so ist gemäss Satz 2 das Versicherungsgericht des
Kantons zuständig, in dem sich der letzte schweizerische Wohnsitz des
Betroffenen befand oder in dem sein letzter schweizerischer Arbeitgeber
Wohnsitz hat, wobei die Wahlmöglichkeit der Beschwerde führenden Partei
zusteht (Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die
Unfallversicherung vom 18. August 1976, BBl 1976 III 141 Ziff. 356). Lassen
sich beide Wohnsitze nicht ermitteln, so ist das Versicherungsgericht des
Kantons zuständig, in dem der Versicherer seinen Sitz hat.

Der Gerichtsstand am Wohnsitz des Versicherten richtet sich nach dem
zivilrechtlichen Wohnsitz gemäss Art. 23 ff. ZGB (BGE 125 V 78 Erw. 2a, EVGE
1963 S. 21; Rumo-Jungo, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum
Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Unfallversicherung, 2. Aufl.,
Zürich 1995, S. 382). Die örtliche Kompetenz bestimmt sich nach den
Verhältnissen zur Zeit der Beschwerdeerhebung (nicht veröffentlichtes Urteil
H. vom 6. Juni 1997 [U 9/96]). Gemäss Art. 23 Abs. 1 ZGB befindet sich der
massgebende zivilrechtliche Wohnsitz einer Person an dem Ort, wo sie sich mit
der Absicht dauernden Verbleibens aufhält und den sie sich zum Mittelpunkt
ihrer Lebensinteressen gemacht hat (BGE 120 III 8 Erw. 2a). Für die
Begründung eines Wohnsitzes müssen somit zwei Merkmale erfüllt sein: Ein
objektives äusseres, der Aufenthalt, sowie ein subjektives inneres, die
Absicht dauernden Verbleibens (ZAK 1990 S. 247 Erw. 3a; Eugen Bucher, Berner
Kommentar, N 19 ff. zu Art. 23 ZGB). Nach der Rechtsprechung kommt es nicht
auf den inneren Willen, sondern darauf an, auf welche Absicht die erkennbaren
Umstände objektiv schliessen lassen (BGE 120 III 8 Erw. 2b). Nach Art. 24
Abs. 1 ZGB bleibt der einmal begründete Wohnsitz einer Person bis zum Erwerb
eines neuen Wohnsitzes bestehen.

1.2 Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau trat auf die Beschwerde nicht
ein, weil nach seinen Feststellungen auf Grund der Akten und der Angaben des
Beschwerdeführers dessen zivilrechtlicher Wohnsitz sich seit längerem nicht
mehr im Kanton Aargau befand und er vielmehr in F.________ seinen letzten
Wohnsitz bzw. Lebensmittelpunkt hatte. Das Kantonale Versicherungsgericht des
Wallis begründet seine örtliche Unzuständigkeit zur Behandlung der Beschwerde
im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer den Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen in den Jahren 1999 und 2000 nicht von B.________ nach
F.________ verlegt habe. Zwar habe er hier per 1. Januar 1999 seine Schriften
hinterlegt und bei dem zuständigen Bezirksgericht auf Scheidung geklagt,
wobei beide Ehepartner F.________ als Wohnsitzgemeinde angegeben hätten. Es
bestünden aber keine Anhaltspunkte dafür, dass die Ehefrau in F.________ je
gewohnt habe. Auch der Beschwerdeführer habe sich die Korrespondenz bis zum
Wegzug nach T.________ nach B.________ zustellen lassen. Diese Gemeinde habe
er denn auch in seiner Beschwerde als Wohnsitz vor der Ausreise nach
T.________ angegeben. Sein Treuhänder habe gegenüber der F.________er
Gemeindebehörde ausgeführt, er habe dort zwar die Schriften deponiert gehabt,
aber nie gewohnt. Von Grundstücksteuern abgesehen habe er dort nie Steuern
bezahlt. Das Gericht stellte des Weiteren fest, das Ferienhaus befinde sich
nicht im Dorf auf 1050 Metern über Meer, sondern in einem Ski- und
Wandergebiet auf über 2200 Metern. Dieses könne nur über eine Seilbahn
erreicht werden, deren Betrieb im Frühjahr und im Herbst auf Dienstfahrten
eingeschränkt sei. Es befänden sich dort keine Lebensmittelgeschäfte. Aus den
genannten Gründen sei das Gebiet grundsätzlich nicht für den ganzjährigen
Aufenthalt geeignet und werde auch nicht immer bewohnt. Es befinde sich
bereits seit 1997 im Eigentum der geschiedenen Ehefrau. Diese habe am 17.
April 2000 im Gesuch ihres Rechtsanwaltes um Einsicht in die Scheidungsakten
als eigenen Wohnort " L.________" und als den ihres geschiedenen Gatten "
B.________" angegeben.

1.3 Das Gericht kam zum Schluss, abgesehen von der rein formellen
Hinterlegung der Papiere seien keine zuverlässigen Umstände erkennbar, die
für eine tatsächliche Wohnsitznahme des Beschwerdeführers in der Gemeinde
F.________ sprechen. Dieser Sachverhaltswürdigung ist zu folgen. Auch wenn
auf Grund der Trennung und Scheidung anzunehmen ist, dass das Ehepaar
Rutishauser den gemeinsamen Haushalt aufgab, so ist entgegen den Ausführungen
in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde daraus nicht abzuleiten, dass der
Beschwerdeführer damit auch den bisherigen Wohnsitz aufgab, bevor er ins
Ausland übersiedelte. Um andernorts als in B.________ einen Wohnsitz zu
begründen, war Voraussetzung, dass er einen neuen Ort zum Mittelpunkt seiner
Lebensinteressen gemacht und sich dort mit der auf Grund der erkennbaren
Umstände objektiv zu schliessenden Absicht dauernden Verbleibens aufgehalten
hätte (Erw. 2.1). Weil die Ehefrau nach der Trennung vorerst im
Einfamilienhaus in B.________ verblieb, lag es nahe, dass der Ehemann sich
zunächst in das Ferienhaus in F.________ begab. Da sich dieses aber in einer
Lage befindet, die sich in klimatischer und verkehrstechnischer Hinsicht kaum
zum Wohnen eignet, könnte auf eine zur Begründung eines neuen Wohnsitzes
notwendige Absicht eines dauernden Verbleibens in diesem Haus objektiv nur
geschlossen werden, wenn Umstände vorlägen, die ein solches Vorhaben in
überzeugender Weise dokumentieren. Solche finden sich für den Aufenthalt des
Beschwerdeführers im Ski- und Wandergebiet ob F.________ nicht. Im Gegenteil
hat der Beschwerdeführer im Ausland intensiv nach einem neuen Domizil
ge-sucht und hielt sich aus diesem Grunde auch wiederholt und längere Zeit in
Frankreich auf. Umstände für eine andere mit dem Aufenthalt im Ferienhaus
verbundenen Absicht, als damit die Zeit der Trennung und Scheidung zu
über-brücken, die Geschäfte in der Schweiz zu ordnen und die
Wohnsitzverlegung ins Ausland vorzubereiten, sind nicht ersichtlich. Es ist
auch nicht erkennbar, dass er sich um eine dauerhafte Bleibe anderswo in der
Gemeinde F.________ oder im Kanton Wallis umtat und damit allenfalls in
diesem Kanton doch einen Wohnsitz begründet hätte, weil er damit die Absicht
bekundet hätte, dort dauerhaft zu verbleiben.

1.4 Der Beschwerdeführer begründete damit nach der Abmeldung in der
bisherigen Wohnsitzgemeinde B.________ bis zur Ausreise nach T.________
keinen neuen schweizerischen Wohnsitz. Da er somit den Wohnsitz im Kanton
Aargau beibehielt und da er mit der Beschwerdeeinreichung beim
Versicherungsgericht des Kantons Aargau den Gerichtsstand an seinem letzten
Wohnsitz - und nicht denjenigen am Wohnsitz seines letzten schweizerischen
Arbeitgebers - gewählt hatte (Erw. 2.1), war das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau örtlich zuständig, weshalb dieses Gericht zu Unrecht auf die
Beschwerde nicht eingetreten ist.

2.
2.1 Die Rechtssicherheit gebietet, dass die durch einen rechtskräftigen
Beschwerdeentscheid geschaffene Rechtslage unabänderlich ist. Dies kann
jedoch dann nicht gelten, wenn der fragliche Entscheid in schwerer Weise
gegen grundlegendes Recht verstösst (in diesem Sinne: Moor, Droit
administratif, Bd. II, Bern 1991, S. 215) oder dadurch eine Lage geschaffen
wird, in der das Rechtsempfinden oder der Gerechtigkeitssinn krass verletzt
sind (Knapp, Précis de droit administratif, 4. Aufl., Basel und Frankfurt
1991, N. 1191 S. 259). Fehlerhafte Verwaltungsakte sind nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung dann nichtig, wenn der ihnen anhaftende
Mangel besonders schwer ist, wenn er offensichtlich oder zumindest leicht
erkennbar ist und wenn zudem die Rechtssicherheit durch die Annahme der
Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet ist (BGE 122 I 99 Erw. 3a/aa, 117 Ia
220 f. Erw. 8a mit Hinweisen; Häfelin/Müller, Grundriss des Allgemeinen
Verwaltungsrechts, 3. Aufl., Zürich 1998, N. 769 S. 196). Unter diesen
Voraussetzungen muss bei einem negativen Kompetenzkonflikt zweier kantonaler
Versicherungsgerichte die Rückweisung an das zuständige Gericht auch zulässig
sein, wenn dieses seine Zuständigkeit schon rechtskräftig abgelehnt hat
(Urteil A. vom 29. Januar 2001 [H 236/00]). Dies gilt auch dann, wenn das
Bundesrecht, wie in Art. 107 Abs. 2 UVG, der Beschwerde führenden Partei die
Wahl eines anderen Gerichtsstands offen gelassen hätte und einen subsidiären
Gerichtsstand nennt. Bei der Pflicht zur Überweisung an die zuständige
Behörde handelt es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz. Es besteht
keine gesetzliche Grundlage für die Überweisung an ein unzuständiges Gericht.

2.2 Die eben genannten Voraussetzungen für eine Nichtigerklärung des
rechtskräftigen Nichteintretensentscheides des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 17. Januar 2001 sind vorliegend erfüllt. Die Sache ist an
dieses Gericht zurückzuweisen, damit es auf die gegen den Einspracheentscheid
der Coop Allgemeine Versicherung AG vom 6. Juni 2000 erhobene Beschwerde
eintritt und darüber entscheidet. Der vorliegend angefochtene Entscheid des
Kantonalen Versicherungsgerichts des Wallis ist hingegen zu Recht erfolgt,
zumal die Vorinstanz im Hinblick auf den rechtskräftigen Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau auch nicht befugt war, die Sache an
dieses zu überweisen. Die erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist
abzuweisen.

3.
Im vorliegenden Fall beschränkt sich der Anfechtungsgegenstand auf eine
prozessrechtliche Frage, weshalb das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht kostenpflichtig ist (Art. 134 OG e contrario). Der
Beschwerdeführer hat als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen,
und es steht ihm keine Parteientschädigung zu.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Kantonalen
Versicherungsgerichts des Wallis vom 8. Oktober 2001 wird abgewiesen.

2.
Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 17. Januar
2001 ist nichtig.

3.
Die Akten werden zum materiellen Entscheid über die Beschwerde gegen den
Einspracheentscheid der Coop Allgemeine Versicherung vom 6. Juni 2000 an das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau überwiesen.

4.
Die Gerichtskosten von total Fr. 500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt
und mit dem geleisteten Kostenvorschuss von Fr. 500.-- verrechnet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonalen Versicherungsgericht des
Wallis, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 24. September 2002
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der IV. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: