Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 337/2001
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U 337/01

Urteil vom 27. August 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Attinger

S.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dr. Thomas F. Kleyling,
St. Gallerring 49, 4055 Basel,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt, Basel

(Entscheid vom 20. Juni 2001)

Sachverhalt:

A.
Der 1968 geborene S.________ trat im Oktober 1990 in den Dienst der damaligen
PTT ein, wo er nach dem Bestehen der einjährigen Betriebslehre als
uniformierter Postbeamter tätig war. Auf Grund dieses Dienstverhältnisses war
er bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch
gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Wegen eines
Rückenleidens (chronische Lumbalgie bei Diskushernie L5/S1 und Chondrose
L4/5) konnte er seine Tätigkeit bei der Post nicht mehr ausüben und wurde in
der Folge auf Ende Dezember 1995 vorzeitig pensioniert. Die
Vorsorgeeinrichtung der ehemaligen Arbeitgeberin und die
Invalidenversicherung erbringen Rentenleistungen. Unter Hinweis auf seine
Rückenbeschwerden liess der Versicherte im Mai 1999 die SUVA um Zusprechung
der ihm zustehenden gesetzlichen Leistungen ersuchen. Mit Verfügung vom 4.
Januar 2000 und Einspracheentscheid vom 28. Juli 2000 verneinte der
Unfallversicherer einen Leistungsanspruch, weil keine Berufskrankheit im
Sinne des UVG vorliege.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt (heute:
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt) wies die hiegegen eingereichte
Beschwerde mit Entscheid vom 20. Juni 2001 ab.

C.
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, im
Hinblick auf die als Berufskrankheit zu qualifizierenden Rückenbeschwerden
sei die SUVA zu verpflichten, ihm "eine Rente gemäss richterlichem Ermessen -
eventuell eine solche gekürzten Ausmasses, verbunden mit einer
Kapitalabfindung von Fr. 100'000.-- (letzterer Betrag eventuell nach
richterlichem Ermessen) - zu zahlen. Eventualiter sei die Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen". Überdies lässt er um
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege (Kostenerlass und unentgeltliche
Verbeiständung) ersuchen.

Während die SUVA auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Unfallversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids (hier:
28. Juli 2000) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b),
sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar.

2.
Letztinstanzlich ist nunmehr unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten zu Recht
unbestritten, dass als Anspruchsgrundlage einzig Art. 9 Abs. 2 UVG in
Betracht fällt, wonach als Berufskrankheiten auch andere (d.h. nicht in der
Liste von Anhang 1 zum UVG aufgeführte) Krankheiten gelten, von denen
nachgewiesen wird, dass sie ausschliesslich oder stark überwiegend durch
berufliche Tätigkeit verursacht worden sind.

2.1 Die Voraussetzung des ausschliesslichen oder stark überwiegenden
Zusammenhanges gemäss Art. 9 Abs. 2 UVG ist nach ständiger Rechtsprechung
erfüllt, wenn die Berufskrankheit mindestens zu 75 % durch die berufliche
Tätigkeit verursacht worden ist. Die Anerkennung von Beschwerden im Rahmen
dieser von der Gerichtspraxis als "Generalklausel" bezeichneten
Anspruchsgrundlage ist - entsprechend der in BGE 114 V 111 Erw. 3c auf Grund
der Materialien eingehend dargelegten legislatorischen Absicht, die Grenze
zwischen krankenversicherungsrechtlicher Krankheit und
unfallversicherungsrechtlicher Berufskrankheit nicht zu verwässern - an
relativ strenge Beweisanforderungen gebunden. Verlangt wird, dass die
versicherte Person für eine gewisse Dauer einem typischen Berufsrisiko
ausgesetzt ist (zum Ganzen: BGE 126 V 186 Erw. 2b mit Hinweis).

2.2 Im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 UVG ist grundsätzlich in jedem Einzelfall
darüber Beweis zu führen, ob die geforderte stark überwiegende (mehr als 75
%ige) bis ausschliessliche berufliche Verursachung vorliegt (BGE 126 V 189
Erw. 4b am Ende). Angesichts des empirischen Charakters der medizinischen
Wissenschaft (BGE 126 V 189 Erw. 4c am Anfang) spielt es indessen für den
Beweis im Einzelfall eine entscheidende Rolle, ob und inwieweit die Medizin,
je nach ihrem Wissensstand in der fraglichen Disziplin, über die Genese einer
Krankheit im Allgemeinen Auskunft zu geben oder (noch) nicht zu geben vermag.
Wenn auf Grund medizinischer Forschungsergebnisse ein Erfahrungswert dafür
besteht, dass eine berufsbedingte Entstehung eines bestimmten Leidens von
seiner Natur her nicht nachgewiesen werden kann, dann schliesst dies den
(positiven) Beweis auf qualifizierte Ursächlichkeit im Einzelfall aus. Oder
mit andern Worten: Sofern der Nachweis eines qualifizierten (zumindest stark
überwiegenden [Anteil von mindestens 75 %]) Kausalzusammenhanges nach der
medizinischen Empirie allgemein nicht geleistet werden kann (z.B. wegen der
weiten Verbreitung einer Krankheit in der Gesamtbevölkerung, welche es
ausschliesst, dass eine eine bestimmte versicherte Berufstätigkeit ausübende
Person zumindest vier Mal häufiger von einem Leiden betroffen ist als die
Bevölkerung im Durchschnitt), scheidet die Anerkennung im Einzelfall aus.
Sind anderseits die allgemeinen medizinischen Erkenntnisse mit dem
gesetzlichen Erfordernis einer stark überwiegenden (bis ausschliesslichen)
Verursachung des Leidens durch eine (bestimmte) berufliche Tätigkeit
vereinbar, besteht Raum für nähere Abklärungen zwecks Nachweises des
qualifizierten Kausalzusammenhanges im Einzelfall (BGE 126 V 189 Erw. 4c mit
Hinweisen).

3.
Die Vorinstanz hat in zutreffender Würdigung der medizinischen Akten,
insbesondere des Untersuchungsberichtes von Kreisarzt Dr. A.________ vom 27.
Dezember 1999 sowie der am 25. Juli 2000 verfassten ärztlichen Beurteilung
des Dr. B.________ vom SUVA-Ärzteteam Unfallmedizin, zu Recht erkannt, dass
die Bandscheibendegeneration des Versicherten auf jeden Fall nicht im
rechtsprechungsgemäss erforderlichen Ausmass von mindestens 75 % auf die
frühere Berufsarbeit als Postbeamter zurückgeführt werden kann. Denn Dr.
B.________, Spezialarzt für orthopädische Chirurgie, führte unter Hinweis auf
verschiedene medizinische Studien und Statistiken überzeugend aus, auf Grund
der epidemiologischen Daten lasse sich zwar schliessen, dass strenge
körperliche Arbeit einen signifikanten ätiologischen Faktor darstelle,
hingegen sei eine übermässige Häufung der bandscheibenbedingten Erkrankungen
in einem zur Anerkennung als Berufskrankheit erforderlichen Verhältnis von 4
: 1 statistisch nicht nachzuweisen. Diese medizinische Erkenntnis wurde
anhand von epidemiologischen Erhebungen in verschiedenen Bauberufen
(Bauarbeiter, Baumaschinenführer, Maurer), bei Giesserei- und Hafenarbeitern
sowie bei Truckfahrern (vgl. auch Debrunner, Rückenleiden als
Berufskrankheit?, in: Zeitschrift für Unfallchirurgie, Versicherungsmedizin
und Berufskrankheiten, Bd. 81/1988, S. 277 ff.) gewonnen und ist insofern
auch auf Postmitarbeiter übertragbar, als diese statistisch wohl kaum
häufiger oder schneller Bandscheibenerkrankungen erleiden als die Angehörigen
der genannten Berufsgruppen. Jedenfalls ist die von Hausarzt Dr. C.________
in seiner Stellungnahme vom 11. Juli 2000 vertretene Auffassung nicht
haltbar, wonach sich der Beschwerdeführer mindestens doppelt so häufig habe
bücken (und dabei schwere Gegenstände "manipulieren") müssen wie ein
Bauarbeiter, weshalb sich der Verschleiss notgedrungen entsprechend früher
eingestellt habe. Tatsache ist, dass nach den Forschungsergebnissen ein
Bandscheibenleiden nicht als berufsbedingt zu betrachten ist, wenn keine
langjährige Exposition stattgefunden hat; die Veränderungen im
Bewegungssegment sind in diesem Fall eher auf anlagebedingte Faktoren
zurückzuführen. So beträgt nach Debrunner (a.a.O., S. 278 f.; vgl. auch S.
285) die minimale Expositionszeit für die Ausbildung relevanter
reaktiv-degenerativer Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule
erfahrungsgemäss ungefähr 10 Jahre. Angesichts des Umstandes, dass der
Versicherte bis zum erstmaligen Arztbesuch wegen lumbaler Rückenbeschwerden
(Konsultation des Chirurgen Dr. D.________ am 3. Februar 1993) bzw. bis zum
radiologischen Nachweis erster Zeichen eines Bandscheibenschadens
(CT-Untersuchung vom 9. Februar 1993) nur gerade während etwas mehr als zwei
Jahren im Postdienst gearbeitet hatte, fällt eine berufsbedingte Entstehung
des fraglichen Leidens schon auf Grund des angeführten Erfahrungswertes
ausser Betracht. Nach der unter Erw. 2.2 hievor dargelegten Rechtsprechung
scheidet somit eine Anerkennung als Berufskrankheit im Einzelfall von
vornherein aus, weshalb auf die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
diesbezüglich vorgebrachten Einwendungen (einschliesslich des Eventualantrags
auf Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur ergänzenden medizinischen
Begutachtung) nicht näher einzugehen ist.

4.
4.1 Das Begehren des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne
der Befreiung von den Gerichtskosten ist gegenstandslos, weil im Verfahren
über die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen keine
Verfahrenskosten auferlegt werden (Art. 134 OG).

4.2 Was das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung anbelangt,
müssen nach Gesetz (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG) und
Rechtsprechung (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen) die
drei Voraussetzungen der Nichtaussichtslosigkeit des Prozesses, der
Bedürftigkeit der das Gesuch stellenden Partei sowie die Notwendigkeit oder
wenigstes Gebotenheit der anwaltlichen Verbeiständung erfüllt sein. Bedürftig
im Sinne von Art. 152 Abs. 1 OG ist eine Person, wenn sie ohne
Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie nötigen Lebensunterhalts nicht
in der Lage ist, die Prozesskosten zu bestreiten (BGE 128 I 232 Erw. 2.5.1,
127 I 205 Erw. 3b, 125 IV 164 Erw. 4a).

Der (allein stehende) Beschwerdeführer gibt an, monatlich über ein
(Renten-)Einkommen von insgesamt Fr. 3'984.-- zu verfügen. Diesem Betrag
stünden Ausgaben von Fr. 355.-- für Miete und von Fr. 350.-- für die
Krankenkasse gegenüber. Auch wenn zusätzlich der Notbedarf und ein
prozessualer Zuschlag berücksichtigt werden, hat die Bedürftigkeit im Sinne
der dargelegten Rechtsprechung offenkundig als nicht ausgewiesen zu gelten.
Die unentgeltliche Verbeiständung kann deshalb nicht bewilligt werden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wird abgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 27. August 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: