Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 320/2001
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U 320/01 Ge

                        IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari;
Gerichtsschreiber Grunder

                 Urteil vom 11. April 2002

                         in Sachen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmatt-
strasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdeführerin,

                           gegen

C.________, 1975, Beschwerdegegner, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Roland Ilg, Rämistrasse 5, 8001 Zürich,

                            und

Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden

     A.- C.________, geboren 1975, stiess am 30. Juni 1996
während eines Fussballmatchs mit einem gegnerischen Spieler
zusammen und erlitt eine Querfraktur der Patella am rechten
Kniegelenk. Nach einem chirurgischen Eingriff am selben Tag
entwickelte sich ein Wund- und Gelenksinfekt, aufgrund
dessen mehrere weitere Operationen durchgeführt werden
mussten, bis schliesslich die Entfernung der Patella nicht

mehr zu vermeiden war (Patellektomie vom 3. Dezember 1996).
Trotz intensiver Physiotherapie verblieben eine partielle
Insuffizienz des Streckapparates und eine deutliche Atro-
phie der knienahen Muskulatur rechts. Die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA), bei welcher der als
Handlanger im Baugewerbe tätige C.________ obligatorisch
gegen die Folgen von Unfällen versichert war, erbrachte die
gesetzlichen Leistungen, holte regelmässig Berichte des
behandelnden Orthopäden, Dr. med. A.________, Spital
X.________, ein, zog die Akten der Invalidenversicherung,
insbesondere den Bericht vom 12. Februar 1998 der Abklä-
rungs- und Ausbildungsstätte Z.________ bei und sprach mit
Verfügung vom 1. Juli 1998 gestützt auf den kreisärztlichen
Untersuchungsbericht des Dr. med. B.________ vom 19. Mai
1998 eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von
25 % und eine Integritätsentschädigung von 25 % zu. Die
dagegen erhobene Einsprache, mit welcher C.________ den
festgelegten Invaliditätsgrad beanstandete, wies sie, nach-
dem sie einen weiteren Bericht des Dr. med. C.________,
Mitglied des Ärzteteams Unfallmedizin der SUVA, vom 26.
März 1999 eingeholt hatte, mit Entscheid vom 22. April 1999
ab.

     B.- Dagegen liess C.________ beim Verwaltungsgericht
des Kantons Thurgau Beschwerde führen und beantragen, unter
Aufhebung des Einspracheentscheids sei der Invaliditätsgrad
angemessen zu erhöhen, eventualiter sei die Sache zur wei-
teren Abklärung an die SUVA zurückzuweisen. Nachdem  das
Verwaltungsgericht das Verfahren auf Begehren der Parteien
sistiert und die SUVA die von ihr in Auftrag gegebene Ex-
pertise des Dr. med. D.________, Spital Y.________, vom 13.
Juni 2000 eingereicht hatte, hiess es die Beschwerde mit
Entscheid vom 13. Juni 2001 insoweit gut, als es die Sache
zu neuer Festlegung der Invalidenrente bei einem auf 50 %
festgesetzten Grad der Arbeitsunfähigkeit an die SUVA
zurückwies.

     C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die
SUVA, der Entscheid der Vorinstanz sei aufzuheben, even-
tualiter sei die Sache zur Einholung eines medizinischen
Gutachtens an sie zurückzuweisen.
     C.________ lässt den Antrag stellen, auf die Verwal-
tungsgerichtsbeschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter
sei sie abzuweisen. Ferner ersucht er um unentgeltliche
Verbeiständung. Das Bundesamt für Sozialversicherung ver-
zichtet auf Vernehmlassung.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Der Beschwerdegegner bringt vor, die Verwal-
tungsgerichtsbeschwerde sei verspätet eingereicht worden.
Das kantonale Gericht hat seinen Entscheid am 29. August
2001 versandt, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist am
27. September 2001 beim Eidgenössischen Versicherungsge-
richt eingegangen. Damit ist die Frist von 30 Tagen nach
Art. 106 Abs. 1 OG gewahrt.

     b) Als unbegründet erweisen sich die Ausführungen des
Beschwerdegegners zur fehlenden Aktivlegitimation. Die SUVA
ist durch den vorinstanzlichen Entscheid, mit welchem der
Grad der Erwerbsfähigkeit erheblich herabgesetzt wurde,
berührt und hat damit im Sinne von Art. 103 lit. a OG ein
schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung. Mithin ist
sie zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert.

     c) Nach Art. 108 Abs. 2 OG hat die Verwaltungsge-
richtsbeschwerde unter anderm die Begehren und deren
Begründung mit Angabe der Beweismittel zu enthalten. Diese
Bestimmung soll dem Gericht hinreichende Klarheit darüber
verschaffen, worum es beim Rechtsstreit geht. Nach der
Praxis genügt es, wenn dies der Verwaltungsgerichtsbe-
schwerde insgesamt entnommen werden kann. Insbesondere muss

zumindest aus der Beschwerdebegründung ersichtlich sein,
was die Beschwerde führende Person verlangt und auf welche
Tatsachen sie sich beruft. Die Begründung braucht nicht
zuzutreffen, aber sie muss sachbezogen sein. Der blosse
Hinweis auf frühere Rechtsschriften oder auf den angefoch-
tenen Entscheid genügt nicht. Fehlt der Antrag oder die
Begründung überhaupt und lassen sie sich auch nicht der
Beschwerdeschrift entnehmen, so liegt keine rechtsgenüg-
liche Beschwerde vor, weshalb auf sie nicht eingetreten
werden kann (BGE 123 V 336 Erw. 1a mit Hinweisen).

Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde genügt entgegen der Auf-
fassung des Beschwerdegegners den gesetzlichen Anforderun-
gen. Die SUVA stellt einen klaren Antrag, umschreibt den
Streitgegenstand und setzt sich anschliessend einlässlich
mit den Beweismitteln auseinander.

     2.- a) Wird der Versicherte infolge eines Unfalles
invalid, so hat er Anspruch auf eine Invalidenrente
(Art. 18 Abs. 1 UVG). Als invalid gilt, wer voraussichtlich
bleibend oder für längere Zeit in seiner Erwerbsfähigkeit
beeinträchtigt ist (Art. 18 Abs. 2 Satz 1 UVG). Für die
Bestimmung des Invaliditätsgrades wird das Erwerbseinkom-
men, das der Versicherte nach Eintritt der unfallbedingten
Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliede-
rungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei
ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Bezie-
hung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte,
wenn er nicht invalid geworden wäre (Art. 18 Abs. 2 Satz 2
UVG).

     b) Um den Invaliditätsgrad bemessen zu können, ist die
Verwaltung (und im Beschwerdefall das Gericht) auf Unter-
lagen angewiesen, die ärztliche und gegebenenfalls auch
andere Fachleute zur Verfügung zu stellen haben. Aufgabe
des Arztes oder der Ärztin ist es, den Gesundheitszustand

zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Um-
fang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte
Person arbeitsunfähig ist. Im Weiteren sind die ärztlichen
Auskünfte eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der
Frage, welche Arbeitsleistungen der Person noch zugemutet
werden können (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2, 114
V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1).

     c) Das Bundesrecht schreibt nicht vor, wie die einzel-
nen Beweismittel zu würdigen sind. Für das gesamte Verwal-
tungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt der
Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in Ver-
bindung mit Art. 19 VwVG; Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung
mit Art. 113 und 132 OG). Danach haben Versicherungsträger
und -richter die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an förmli-
che Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu wür-
digen. Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass der
Sozialversicherungsrichter alle Beweismittel, unabhängig
davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach
zu entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine
zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruchs
gestatten. Insbesondere darf er bei einander widersprechen-
den medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen,
ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe
anzugeben, warum er auf die eine und nicht die andere medi-
zinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswerts eines
Arztberichts ist also entscheidend, ob er für die streiti-
gen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen
beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in
Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in
der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und der
medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfol-
gerungen des Experten begründet sind (BGE 125 V 352
Erw. 3a, 122 V 160 f. Erw. 1c).

     3.- a) Unbestritten ist, dass dem vor dem Unfall auf
dem Bau arbeitenden Beschwerdegegner nur noch leichte kör-
perliche Tätigkeiten zumutbar sind, die vorwiegend sitzend
ausgeführt werden können und keine die Knie belastende Ver-
richtungen wie Treppensteigen oder Heben und Tragen von
Gewichten über 5 kg erfordern. Nicht einig sind sich die
Parteien bezüglich des zumutbaren zeitlichen Ausmasses
solcher Tätigkeiten. Während die SUVA gestützt auf die
Berichte der Abklärungsstelle Z.________ und der Dres. med.
B.________ und C.________ von einer vollständigen
Arbeitsfähigkeit ausgeht, halten der Beschwerdegegner und
die Vorinstanz gemäss der Schlussfolgerung des Gutachtens
des Dr. med. D.________ die Ausübung einer dem Leiden
angepassten Tätigkeit im Ausmass von lediglich 50 % als
zumutbar.

     b) Die SUVA rügt zu Recht, dass Dr. med. D.________
seine Schlussfolgerung ungenügend begründet. Im Bericht der
Abklärungs- und Ausbildungsstätte Z.________ wird eine
vollständige Arbeitsfähigkeit aus medizinischer Sicht und
aufgrund der praktischen Leistungsresultate des
Beschwerdegegners bei allen knieschonenden Tätigkeiten
angegeben. Diese Einschätzung beruht auf einer
umfangreichen, vier Wochen dauernden Abklärung, während
welcher der Beschwerdegegner entgegen den unrichtigen
Ausführungen der Vorinstanz durch Dr. med. E.________, FMH
für Physikalische Medizin und Rehabilitation, eingehend
untersucht und beurteilt, von einer fachkundigen
Berufsberaterin betreut und begleitet wurde; er leistete
auch arbeitsbezogene Probeeinsätze. Zum gleichen Ergebnis
gelangt Dr. med. B.________ in seinem Abschlussbericht vom
19. Mai 1998. Dr. med. D.________ setzt sich in seinem
Gutachten vom 13. Juni 2000 bei gleich lautenden objektiven
und subjektiven Befunden sowie gleich lautendem Zu-
mutbarkeitsprofil mit der Beurteilung durch das Team der
Abklärungsstätte Z.________ und des Dr. med. B.________
nicht auseinander. Seine davon abweichende Einschätzung der
Leistungsmöglichkeit auf 50 % erweist sich damit als nicht
nachvollziehbar und vermag mithin diejenige der anderen
Ärzte und Fachpersonen nicht zu erschüttern.

     Zu keinem anderen Ergebnis führen die zahlreichen Be-
richte des Dr. med. A.________, der die chirurgischen
Eingriffe vorgenommen hatte und den der Beschwerdegegner
danach in regelmässigen Abständen konsultierte. Er nimmt
erstmals in seinem Bericht vom 16. Dezember 1998 an die
Rechtsvertretung des Beschwerdegegners Stellung zur
Arbeitsfähigkeit und setzt sie auf 50 % fest, ohne die
zumutbaren körperlich leichten Tätigkeiten zu umschreiben.
     Zusammengefasst besteht kein Anlass, an der vollen
Arbeitsfähigkeit für die genannten Tätigkeiten zu zweifeln.

     c) Die von der SUVA eingesetzten Vergleichseinkommen
und der gestützt darauf ermittelte Invaliditätsgrad von
25 %, welcher den erwerblichen Folgen des unfallbedingten
Gesundheitsschadens angemessen Rechnung trägt, sind nicht
zu beanstanden und werden denn auch zu Recht von keiner
Seite in Frage gestellt.

     4.- Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt
werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die
Bedürftigkeit aktenkundig ist und die Vertretung geboten
war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinwei-
sen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG
aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Ge-
richtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später
dazu im Stande ist.

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
     der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons
     Thurgau vom 13. Juni 2001 aufgehoben.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung
     wird Rechtsanwalt Dr. iur. Roland Ilg für das Verfah-
     ren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus
     der Gerichtskasse eine Entschädigung (einschliesslich
     Mehrwertsteuer) von Fr. 1'000.- ausgerichtet.

 IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungs-
     gericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für
     Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 11. April 2002

                                  Im Namen des
                      Eidgenössischen Versicherungsgerichts
                         Die Präsidentin der IV. Kammer:

                             Der Gerichtsschreiber: