Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 2/2001
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U 2/01

Urteil vom 16. Oktober 2002
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Kernen; Gerichtsschreiber
Nussbaumer

Schweizerische National-Versicherungs-Gesellschaft, Steinengraben 41, 4003
Basel, Beschwerdeführerin,

gegen

P.________, 1963, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr.
Domenico Acocella, Herrengasse 3, 6430 Schwyz

Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz, Schwyz

(Entscheid vom 22. November 2000)

Sachverhalt:

A.
P. ________ (geboren 1963) war seit dem 16. März 1996 als Serviceangestellte
mit Saisonnierstatut für die Pizzeria X._________ tätig und dadurch bei der
Schweizerischen National-Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend National)
obligatorisch gegen Unfälle versichert. Am 19. März 1996 zog sie sich bei
einem Autounfall eine distale intraartikuläre Trümmerfraktur des Femur rechts
sowie eine Malleolarfraktur rechts zu. Nach der operativen Behandlung der
Frakturen im Spital Y.________ war P.________ während längerer Zeit ganz oder
teilweise arbeitsunfähig. Am 7. September 1998 rutschte sie auf einer Treppe
aus und zog sich dabei eine einfache Tibiatorsionsfraktur rechts zu. Für
dieses Unfallereignis war die Versicherung Z.________ zuständig. Seit März
1999 war P.________ wieder in einer Pizzeria teilerwerbstätig. Mit Verfügung
vom 7. Juli 1999 sprach die National P.________ eine Integritätsentschädigung
von 10 % im Betrag von Fr. 9720.- zu, lehnte hingegen die Ausrichtung einer
Invalidenrente sowie einen Anspruch auf die Übernahme der Behandlung ab 1.
April 1999 (unter Vorbehalt von Art. 21 UVG), da die Beinlängendifferenz des
rechten Beines nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall vom
19. März 1996 zurückzuführen sei. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom
29. Dezember 1999 fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Schwyz mit Entscheid vom 22. November 2000 insofern teilweise gut, als es
feststellte, dass die Versicherte weiterhin gegenüber der Unfallversicherung
Anspruch auf Hilfsmittel zum Ausgleich der Beinlängendifferenz habe. Im
Übrigen wies es die Sache im Sinne der Erwägungen, insbesondere zur Einholung
eines zusätzlichen orthopädischen Gutachtens zur Frage der Kausalität und der
Auswirkungen der lumbalen Beschwerden auf die Arbeitsfähigkeit, und zur
Neubeurteilung an die National zurück.

C.
Die National führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
vorinstanzliche Entscheid sei im Punkte der Rückweisung teilweise aufzuheben
und es sei festzustellen, dass die von der Versicherten geltend gemachten
lumbalen Beschwerden nicht überwiegend wahrscheinlich unfallkausal seien.
Ferner seien der Einspracheentscheid und die Verfügung zu bestätigen.

Das kantonale Gericht beantragt die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. P.________ lässt ebenfalls auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen unter Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verbeiständung. Das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu beurteilen ist einzig, ob das kantonale Gericht die Sache zu
Recht zur Abklärung der Unfallkausalität der lumbalen Beschwerden und der
daraus allenfalls resultierenden Leistungsansprüche an die Beschwerdeführerin
zurückgewiesen hat.

1.1 Das kantonale Gericht hat die Rechtsprechung zu dem für die
Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen
Kausalzusammenhang (BGE 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b) zwischen einem
Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod;
vgl. auch Art. 6 Abs. 1 UVG) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.

Wird durch einen Unfall ein krankhafter Vorzustand verschlimmert oder
überhaupt erst manifest, entfällt die Leistungspflicht des Unfallversicherers
erst, wenn der Unfall nicht die natürliche und adäquate Ursache des
Gesundheitsschadens darstellt, wenn also Letzterer nur noch und
ausschliesslich auf unfallfremden Ursachen beruht. Dies trifft dann zu, wenn
entweder der (krankhafte) Gesundheitszustand, wie er unmittelbar vor dem
Unfall bestanden hat (Status quo ante), oder aber derjenige Zustand, wie er
sich nach dem schicksalsmässigen Verlauf eines krankhaften Vorzustandes auch
ohne Unfall früher oder später eingestellt hätte (Status quo sine), erreicht
ist (RKUV 1994 Nr. U 206 S. 328 Erw. 3b, 1992 Nr. U 142 S. 75 Erw. 4b, je mit
Hinweisen). Ebenso wie der leistungsbegründende natürliche Kausalzusammenhang
muss das Dahinfallen jeder kausalen Bedeutung von unfallbedingten Ursachen
eines Gesundheitsschadens mit dem im Sozialversicherungsrecht allgemein
üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein.
Die blosse Möglichkeit nunmehr gänzlich fehlender ursächlicher Auswirkungen
des Unfalles genügt nicht. Da es sich hiebei um eine anspruchsaufhebende
Tatfrage handelt, liegt die Beweislast - anders als bei der Frage, ob ein
leistungsbegründender natürlicher Kausalzusammenhang gegeben ist - nicht bei
der versicherten Person, sondern beim Unfallversicherer (RKUV 2000 Nr. U 363
S. 46 Erw. 2, 1994 Nr. U 206 S. 329 Erw. 3b, 1992 Nr. U 142 S. 76 Erw. 4b).

1.2 Für das gesamte Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren
gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in Verbindung mit
Art. 19 VwVG; Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 113 und 132 OG).
Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsgericht die Beweise
frei, d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und
pflichtgemäss zu würdigen. Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass
das Gericht alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen,
objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren
Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches
gestatten. Insbesondere darf es bei einander widersprechenden medizinischen
Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu
würdigen und die Gründe anzugeben, warum es auf die eine und nicht auf die
andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines
Arztberichtes ist entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange
umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten
Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben
worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und der
medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des
Experten begründet sind. Ausschlaggebend für den Beweiswert ist grundsätzlich
somit weder die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der
eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht oder
Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3a, 122 V 160 f. Erw. 1c, je mit Hinweisen).

2.
2.1 Das kantonale Gericht ging im angefochtenen Entscheid unter Wiedergabe der
verschiedenen ärztlichen Auffassungen davon aus, dass ein natürlicher
Kausalzusammenhang mit der Beinlängendifferenz und dem Unfallereignis
überwiegend wahrscheinlich sei. Diese Schlussfolgerung anerkennt die
Beschwerdeführerin ausdrücklich. Zur hier strittigen Frage, ob die
festgestellten Lumbalbeschwerden auf diese unfallbedingte
Beinlängenverkürzung zurückzuführen und somit ebenfalls als unfallkausal zu
werten seien und wenn ja, ob diese Beschwerden Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit der Versicherten zeitigten, liess es sich in Würdigung der
medizinischen Akten von folgenden Überlegungen leiten. Die behandelnden
Orthopäden des Spitals Y.________ würden davon ausgehen, dass die lumbalen
Beschwerden mit der Beinlängenverkürzung zusammenhängen und damit auf das
Unfallereignis zurückzuführen seien (Bericht vom 15. September 1999). Eine
Beinverkürzung mit entsprechender Fehlhaltung der Wirbelsäule sei gemäss
diesen Ärzten objektivierbar. Der frühere Hausarzt der Versicherten, Dr. med.
S.________, stimme dieser Auffassung zu, wenn er festhalte, das Becken sei
infolge der Beinlängenverkürzung nach rechts gekippt und dass dieser Befund
wahrscheinlich für die belastungsabhängigen Rückenbeschwerden verantwortlich
sei (Bericht vom 25. Juli 1997). Auch der neue Hausarzt, Dr. med. L.________,
halte fest, dass zumindest «subjektiv» sich ein Zusammenhang der lumbalen
Beschwerden mit dem durch die Beinlängenverkürzung verursachten
Beckenschiefstand aufdränge, auch wenn dies aufgrund der eher geringgradigen
Befunde kontrovers beurteilt werden könne (Bericht vom 10. September 1999).
Demgegenüber seien die vom Unfallversicherer beigezogenen Ärzte Dr. med.
V.________ (Schreiben vom 5. und 15. Juni 1998; Bericht vom 13. Dezember
1997) und Dr. med. H.________ der Auffassung, dass die Rückenbeschwerden
ereignisfremd seien. Dr. med. H.________ führe die lumbalen Beschwerden auf
die bei der Versicherten festgestellte lumbo-sakrale Übergangsstörung zurück,
die unstreitig nicht mit der Beinlängenverkürzung zusammenhänge, da diese
bereits am Unfalltag festgestellt worden sei (Gutachten vom 29. März 1999).

2.2 Diese unterschiedlichen ärztlichen Beurteilungen würdigte das kantonale
Gericht dahingehend, für die Auffassung von Dr. med. V.________ und Dr. med.
H.________ sprächen neben dem Umstand, dass bei der Versicherten Anomalien
vorlägen (lumbo-sakrale Übergangsstörung) die Tatsache, dass die
Beinlängendifferenz relativ früh entdeckt und mittels Schuheinlage
ausgeglichen worden sei. Es habe sich in der Folge auch eine (vorübergehende)
Besserung des Zustandes eingestellt. Andererseits sei nicht zu verkennen,
dass die Versicherte vor dem Unfall unstreitig nicht unter lumbalen
Beschwerden gelitten habe. Die diagnostizierte lumbo-sakrale Übergangsstörung
habe somit vor dem Unfall zu keinen Beschwerden geführt. Im Weiteren sei auch
für den medizinischen Laien nachvollziehbar, dass eine durch Unfall im
Erwachsenenalter verursachte Beinlängenverkürzung zu muskulären Dysbalancen
und damit einhergehenden Rückenbeschwerden führen könne. Wenn Dr. med.
H.________ in seinem Gutachten festhalte, eine geringe Beinlängenverkürzung
wie vorliegend komme in der Durchschnittsbevölkerung häufig vor, ohne dass
sie zu Beschwerden führe, hielten dem die behandelnden Orthopäden des Spitals
Y.________ in nachvollziehbarer Weise entgegen, dass geringfügige
Beinlängenverkürzungen regelmässig zwar dann keine Beschwerden zur Folge
hätten, wenn sie angeboren seien; anders sei die Sachlage jedoch dann, wenn
eine Verkürzung erst im Erwachsenenalter eintrete. Die Muskulatur sei dann an
die Ungleichheit nicht angepasst, sodass lumbale Beschwerden auftreten
könnten. Im Weiteren könne Dr. med. H.________ auch insofern nicht
uneingeschränkt gefolgt werden, als er festhalte, die Beinverkürzung sei
durch Schuherhöhung ausgeglichen. Es sei diesbezüglich zu beachten, dass bei
der Bemessung der Beinlängendifferenz zwischen den verschiedenen Ärzten
erhebliche Unterschiede bestünden. Es würden Differenzen von 0,8 bis 2 cm
genannt. Zuerst sei eine Einlage von 0,5 mm, dann eine von 1 cm angeordnet
worden. Ob bei dieser Sachlage die Beinlängendifferenz tatsächlich in
genügender Art und Weise ausgeglichen worden sei bzw. werde, sei daher nicht
ganz klar. Immerhin sei auch nach der Verordnung von Einlagen noch
festgestellt worden, dass eine deutliche Fehlstatik der Wirbelsäule durch die
posttraumatisch bedingte Beinverkürzung bestehe.

Zusammenfassend hielt das kantonale Gericht fest, bei dieser Sachlage sei es
ihm nicht möglich, gestützt auf die vorhandenen medizinischen Akten
abschliessend über die Frage der Unfallkausalität der lumbalen Beschwerden zu
entscheiden. Die Sache sei daher, wie dies der Hausarzt der Versicherten, Dr.
med. L.________ vorschlage, zur Einholung eines zusätzlichen orthopädischen
Gutachtens zur Frage der Kausalität und der Auswirkungen der lumbalen
Beschwerden auf die Arbeitsfähigkeit an die Unfallversicherung
zurückzuweisen.

2.3 Diese Überlegungen des kantonalen Gerichts, welche auf einer sorgfältigen
Würdigung der verschiedenen ärztlichen Unterlagen beruhen, lassen gewisse
Zweifel an den Stellungnahmen der Dres. med. V.________ und H.________ zur
Unfallkausalität der lumbalen Beschwerden aufkommen. Aufgrund der Akten
bestehen keine Anhaltspunkte, dass die Beschwerdegegnerin vor dem Unfall an
lumbalen Beschwerden gelitten hat. Ferner hatte der Unfall eine
Beinlängendifferenz mit Beckenschiefstand zur Folge, die zwar mit
Schuheinlagen ausgeglichen wurde. Schliesslich halten neben den beiden
Hausärzten Dr. med. S.________ und Dr. med. L.________ insbesondere die
operierenden Ärzte der chirurgischen und orthopädischen Abteilung des Spitals
Y.________ in der Stellungnahme vom 15. September 1999 eine Verursachung der
lumbalen Beschwerden durch die Beinverkürzung für möglich, weil diese erst im
Erwachsenenalter entstanden ist. Diese Gründe, namentlich Letzterer, lassen
gewisse Zweifel an der Beurteilung des Dr. med. H.________ im Gutachten  vom
29. März 1999 aufkommen, dessen Begründung für die Verneinung der
Unfallkausalität sich im Wesentlichen darauf beschränkt, solch leichte
Beinlängendifferenzen seien häufiger als völlig symmetrische Beinlängen bei
der Durchschnittsbevölkerung und führten nicht zu irgendwelchen
Rückenproblemen; zudem könne eine leichte Beinlängendifferenz ohne weiteres
durch eine Talonette oder Absatzerhöhung ausgeglichen und damit eine mögliche
leichte Muskeldysbalance behoben werden. Unter diesen Umständen rechtfertigt
sich die Einholung eines zusätzlichen Gutachtens, woran die Einwendungen in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts ändern. Es wird Sache der
Beschwerdeführerin sein, das Gutachten unter Gewährung des rechtlichen Gehörs
zu veranlassen und hernach erneut über den Leistungsanspruch der
Beschwerdegegnerin zu verfügen.

3.
Im vorliegenden Verfahren geht es um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen, weshalb von der Auferlegung von Gerichtskosten
abzusehen ist (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend ist der
Beschwerdegegnerin eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege,
einschliesslich der unentgeltlichen Verbeiständung, erweist sich damit als
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Schweizerische National-Versicherungs-Gesellschaft hat der
Beschwerdegegnerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 16. Oktober 2002

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Der Gerichtsschreiber:

i.V.