Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 298/2001
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U 298/01

Urteil vom 24. Juni 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Widmer

Schweizerische National-Versicherungsgesellschaft, Steinengraben 41, 4003
Basel, Beschwerdeführerin,

gegen

M.________, 1951, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Advokatin Gertrud Baud,
Rümelinsplatz 14, 4001 Basel

Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft, Liestal

(Entscheid vom 28. März 2001)

Sachverhalt:

A.
Die 1951 geborene M.________ ist seit 1974 als Musiklehrerin bei der
Einwohnergemeinde T.________ angestellt und damit bei der Schweizerischen
National Versicherungs-Gesellschaft (im Folgenden: National) gegen Unfälle
versichert. Am 1. September 1993 wurde sie als Radfahrerin von einem
Personenwagen angefahren und zu Fall gebracht. Laut Bericht des Spitals
B.________ vom 24. September 1993, wo sie am Unfalltag behandelt wurde, zog
sich M.________ beim Sturz vom Fahrrad eine Radiusfraktur links sowie
Kontusionen der Stirn und des linken Knies zu. Im Rahmen einer
Rückfallmeldung berichtete Dr. med. G.________ am 13. Juli 1994, die
Versicherte habe beim Unfall zusätzlich ein Distorsionstrauma der
Halswirbelsäule (HWS) erlitten und diagnostizierte u.a. ein posttraumatisches
Cervico-Cephalsyndrom, welches sich durch Therapie sukzessive gebessert habe.
Am 22. November 1994 ergänzte Dr. G.________, dass die Versicherte seit dem
Unfallereignis psychisch labil sei. Die National, welche die gesetzlichen
Leistungen erbrachte, veranlasste wegen der anhaltenden Beschwerden
umfangreiche medizinische Abklärungen. U.a. holte sie polydisziplinäre
Expertisen des Zentrums für medizinische Begutachtungen (ZMB) vom 3. März
1997 und 8. September 1998 ein. M.________ ihrerseits reichte Gutachten des
Neurologen Dr. med. R.________ vom 14. Dezember 1998 und des Neuropsychologen
Dr. phil. H.________ vom 31. März 1999, der die Versicherte bereits früher
(Bericht vom 14. Mai 1995) untersucht hatte, ein. Mit Verfügung vom 20.
August 1999 stellte die National ihre Leistungen rückwirkend ab 1. Juli 1998
ein, weil keine somatischen Unfallfolgen mehr vorlägen, welche die
Arbeitsfähigkeit einschränkten, während die psychischen Beschwerden in keinem
adäquaten Kausalzusammenhang zum Unfall stünden. Auf Einsprache von
M.________ hin hielt die National mit Entscheid vom 11. Februar 2000 an ihrem
Standpunkt fest.

B.
Die von M.________ hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft (heute: Kantonsgericht
Basel-Landschaft) in dem Sinne gut, dass es den angefochtenen
Einspracheentscheid aufhob, die National verpflichtete, der Versicherten die
gesetzlichen Leistungen ab 1. Juni 1998 weiterhin auszurichten und die Sache
zur Festlegung der entsprechenden Leistungen an die National zurückwies.
Ferner sprach es M.________ zu Lasten der Unfallversicherung eine
Parteientschädigung zu. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab (Entscheid vom
28. März 2001).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die National zur Hauptsache, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.

Während M.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt und um die Bewilligung der unentgeltlichen Verbeiständung ersucht,
verzichten das Bundesamt für Sozialversicherung und die als Mitinteressierte
beigeladene KPT Versicherung auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz hat die Rechtsprechung zu dem für die Leistungspflicht der
Unfallversicherung zunächst vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang
zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität,
Tod) zutreffend dargelegt (BGE 119 V 337 Erw. 1, 117 V 360 Erw. 4 und 376
Erw. 3a). Richtig wiedergegeben hat sie ferner auch die Rechtsprechung zur
Beurteilung des weiter vorausgesetzten adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen
einem Unfallereignis und der in der Folge eintretenden psychischen
Fehlentwicklung, welche die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit der versicherten
Person beeinträchtigt (BGE 115 V 133), einem Unfall mit Schleudertrauma der
HWS oder äquivalentem Verletzungsmechanismus (RKUV 2000 Nr. U 395 S. 317 Erw.
3) ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle und anhaltenden Beschwerden
mit Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit (BGE 117 V 359) sowie zur
Adäquanzbeurteilung bei Unfällen mit Schädel-Hirntrauma (BGE 117 V 369).
Korrekt ist schliesslich auch der Hinweis auf BGE 123 V 99 Erw. 2a, wonach
der adäquate Kausalzusammenhang nach der für psychische Fehlentwicklungen
massgebenden Rechtsprechung (BGE 115 V 133) zu beurteilen ist, wenn die zum
typischen Beschwerdebild eines Schleudertraumas der HWS gehörenden
Beeinträchtigungen zwar teilweise gegeben sind, im Vergleich zur vorliegenden
ausgeprägten psychischen Problematik aber ganz in der Hintergrund treten. Auf
diese Erwägungen kann verwiesen werden.

2.
Obwohl vom erstbehandelnden Spital B.________ (das hauptsächlich mit der
Primärversorgung der Armfraktur links befasst war) im Bericht vom 24.
September 1993 nicht dokumentiert, ist im Sinne von BGE 119 V 340 Erw. 2b aa
durch zuverlässige ärztliche Angaben gesichert, dass die Beschwerdegegnerin
beim Unfall vom 1. September 1993 eine mit einem Schleudertrauma
vergleichbare Distorsionsverletzung der HWS erlitten hat. Wie dem Gutachten
des ZMB vom 3. März 1997 zu entnehmen ist, traten rund eine Woche nach dem
Unfall Nacken-Schulterschmerzen rechts auf, weshalb die Versicherte am 9.
September 1993 erstmals Dr. med. G.________ aufsuchte, der ein
Distorsionstrauma der HWS und ein posttraumatisches Cervico-Cephalsyndrom
diagnostizierte (Bericht vom 13. Juli 1994). In den Gutachten des ZMB findet
sich die Diagnose eines wahrscheinlichen Distorsionstraumas der HWS mit
residuellem Cervicalsyndrom leichten Grades. Im ersten ZMB-Gutachten wird
dies dahin erläutert, dass zwar kein typischer Unfallmechanismus vorliege,
die Diagnose indessen auf Grund der Beschwerden abzuleiten sei; das Intervall
sei durchaus möglich angesichts der zu Beginn im Vordergrund stehenden
Verletzungen. Ebenso ausgewiesen sind auf Grund der ärztlichen Angaben die
Folgen der HWS-Distorsion, indem bei der Versicherten das typische
Beschwerdebild nach einer solchen Verletzung (vgl. BGE 119 V 338 oben)
vorliegt. Gemäss Gutachten des ZMB vom 3. März 1997 bestehen Nacken- und
Kopfschmerzen. Damit einher gehen Konzentrationsstörungen, gelegentliche
Schwindelerscheinungen sowie Einschlafstörungen. In der zweiten Expertise des
ZMB (vom 8. September 1998) werden ähnliche Beschwerden festgehalten;
zusätzlich wird eine raschere Ermüdbarkeit erwähnt. Dabei besteht seitens der
Gutachter Einigkeit darüber, dass die geklagten Beschwerden zumindest
teilweise auf den Unfall zurückzuführen sind, was für die Bejahung des
natürlichen Kausalzusammenhangs praxisgemäss genügt (BGE 119 V 338, 117 V 360
Erw. 4b).

Ob die Beschwerdegegnerin zusätzlich zur Distorsion der HWS ein
Schädel-Hirntrauma erlitten hat, wie dies namentlich der Privatgutachter Dr.
R.________ postuliert, der mehr als fünf Jahre nach dem Ereignis "eine milde
traumatische Gehirnverletzung" diagnostizierte (Bericht vom 14. Dezember
1998), kann offen bleiben, zumal ein direkter wissenschaftlicher Beweis nicht
geführt werden kann (BGE 117 V 380). Denn die Beurteilung der Adäquanz des
Kausalzusammenhangs nach der hier anwendbaren, zu Schleudertraumen der HWS
entwickelten Rechtsprechung (BGE 117 V 359) deckt sich mit der für
Schädel-Hirntraumen geltenden Praxis gemäss BGE 117 V 369. Der Umstand, dass
im ZMB-Gutachten vom 8. September 1998 des Weiteren eine protrahiert
verlaufende Anpassungsstörung diagnostiziert wird und sich schon sehr bald
nach dem Unfall eine reaktive Depression manifestiert hat, ist mit Bezug auf
die Adäquanzbeurteilung nicht ausschlaggebend. Zwar ist nicht zu verkennen,
dass die Beschwerdegegnerin auf die nicht von ihr verschuldete und sie
unvorbereitet treffende Verletzung ihrer körperlichen Integrität
(Vorderarmfraktur) kurze Zeit nach dem Ereignis auffälligerweise mit einer
psychischen Störung reagiert hat und diese über die Jahre mehr oder weniger
stark erhalten geblieben ist; indessen kann unter Berücksichtigung des
gesamten Verlaufs vom Unfall bis zum Beurteilungszeitpunkt (RKUV 2002 Nr. U
465 S. 439 Erw. 3b) nicht gesagt werden, die übrigen Komponenten des
typischen Beschwerdebildes nach Distorsionstrauma der HWS seien durch die
psychische Reaktion auf den Unfall derart in den Hintergrund gedrängt worden,
dass die Adäquanzbeurteilung im Sinne von BGE 123 V 99 Erw. 2a nach der
Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133) vorzunehmen
wäre.

3.
3.1 Beim Unfall vom 1. September 1993 wurde die Beschwerdegegnerin, die sich
mit dem Fahrrad auf dem Arbeitsweg befand, von einem Personenwagen
angefahren, kam zu Fall und zog sich nebst einer Radiusfraktur sowie einer
Knie- und Stirnkontusion namentlich ein Distorsionstrauma der HWS zu. Die
äusserlichen Verletzungen wurden ambulant im Spital B.________ behandelt. Auf
Grund des augenfälligen Geschehensablaufs und der Verletzungen, welche sich
die Beschwerdegegnerin zugezogen hat, ist der Unfall im Rahmen der
Einteilung, wie sie für die Belange der Adäquanzbeurteilung praxisgemäss
vorzunehmen ist (BGE 117 V 366 Erw. 6a), dem mittleren Bereich zuzuordnen.
Angesichts der wenig gravierenden Verletzungen und der Tatsache, dass die
Unfallfolgen keine stationäre Behandlung erforderlich machten, ist das
Ereignis zu den leichteren Unfällen im mittleren Bereich zu zählen. Damit die
Adäquanz des Kausalzusammenhangs bejaht werden könnte, müsste eines der bei
Unfällen im mittleren Bereich heranzuziehenden unfallbezogenen Kriterien
gemäss BGE 117 V 366 f. Erw. 6a in besonders ausgeprägter Weise erfüllt, oder
die Kriterien müssten in gehäufter oder auffallender Weise gegeben sein (BGE
117 V 367 Erw. 6b).

3.2 Dies trifft hier nicht zu. Nicht zu verkennen ist wohl, dass die ärztliche
Behandlung lange andauerte. Immerhin waren die Therapien auch immer wieder
erfolgreich. Erfüllt ist auch das Kriterium des Grades und der Dauer der
Arbeitsunfähigkeit (vgl. die Zusammenstellung in RKUV 2001 Nr. U 442 S. 544),
allerdings ebenfalls nicht in besonders ausgeprägter Weise. Nach anfänglich
voller Arbeitsunfähigkeit folgte ab Ende Februar 1994 eine längere Periode
uneingeschränkter Leistungsfähigkeit (bis Anfang Mai 1995). Anschliessend
wurde der Beschwerdegegnerin hälftige Arbeitsunfähigkeit (bis Juni 1995) und
hernach eine solche von 10 % (bis Juni 1996) bescheinigt. Seit 1. Juli 1996
beträgt die Arbeitsunfähigkeit durchgehend 30 %. Die übrigen unfallbezogenen
Kriterien sind allesamt nicht gegeben. Es kann weder von einer besonderen
Eindrücklichkeit des Unfalls noch einem schwierigen Heilungsverlauf mit
erheblichen Komplikationen oder von einer ärztlichen Fehlbehandlung, welche
die Unfallfolgen erheblich verschlimmerte, die Rede sein. Ebenfalls nicht
erfüllt ist das Kriterium der besonderen Art der erlittenen Verletzung. Das
Distorsionstrauma der HWS, das die Beschwerdegegnerin erlitten hat,
unterscheidet sich nicht von analogen Verletzungen, wie sie im
Strassenverkehr bei Auffahrkollisionen täglich auftreten. In seinen
Auswirkungen auf die Persönlichkeit, den Alltag und die berufliche Tätigkeit
der Versicherten war das Trauma nicht dermassen gravierend, dass eine
besondere Art der Verletzung bejaht werden müsste. Schliesslich leidet die
Beschwerdegegnerin wiederkehrend an Beschwerden. Diese sind jedoch nicht
ausgeprägt, und die Versicherte kann sich mit Hilfe verschiedener
therapeutischer Techniken Entlastung verschaffen, weshalb auch das Kriterium
der Dauerbeschwerden nicht erfüllt ist.

Auf Grund dieser Gesamtwürdigung kommt dem Unfall vom 1. September 1993 keine
massgebende Bedeutung für die über den 1. Juli 1998 hinaus anhaltenden
Beschwerden und die damit verbundene Einschränkung in der Arbeits- und
Erwerbsfähigkeit zu. Die National hat ihre Leistungspflicht ab diesem
Zeitpunkt somit im Ergebnis zu Recht verneint.

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die obsiegende National hat als
eine mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute Organisation keinen
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 2 OG BGE 122 V 330 Erw.
6, 112 V 49 Erw. 3). Dem Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche
Verbeiständung kann entsprochen werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135
OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist und die Vertretung geboten war (BGE
125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen
ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 28. März 2001
aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Advokatin Gertrud
Baud, Basel, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Die Akten werden dem Kantonsgericht Basel-Landschaft zugestellt, damit es
über das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das kantonale Verfahren
entscheide.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, dem
Bundesamt für Sozialversicherung und der Krankenkasse KPT zugestellt.

Luzern, 24. Juni 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: