Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 282/2001
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U 282/01 Bl

                        III. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichter Spira und Bundesrichterin
Widmer; Gerichtsschreiber Jancar

               Urteil vom 17. Dezember 2001

                         in Sachen

R.________, 1946, Beschwerdeführer,

                           gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmatt-
strasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin,

                            und

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

     A.- Der 1946 geborene R.________ arbeitete seit 1978
als Schleifer bei der Firma W.________ AG und war damit bei
der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen
die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert.
Er ist seit 1996 geschieden und Vater dreier Kinder, die
bei seiner Ex-Frau leben. Am 15. September 1998 um ca.
20.30 Uhr schoss er sich in alkoholisiertem Zustand
(1,86 Promille) im Schlafzimmer seiner Wohnung in Anwesen-

heit seiner Freundin mit einem Sturmgewehr 57 in die Ma-
gen-/Darmgegend. Dabei erlitt er eine Milz- und Zwerchfel-
lruptur sowie einen Magendurchschuss. Die SUVA liess durch
ihren Aussendienst den Versicherten befragen und zog die
Akten der Kantonspolizei X.________, Berichte des Spitals
B.________ (vom 21. und 22. September 1998 sowie 7. und
20. Oktober 1998), der Frau Dr. med. M.________, Fachärztin
FMH für Allgemeine Medizin (vom 16. April 1999), des Ex-
ternen Psychiatrischen Dienstes Y.________ (vom 22. Septem-
ber 1998) und der Psychiatrischen Klinik K.________ (vom
9. November 1998) bei. Gestützt auf diese Unterlagen ver-
neinte die SUVA ihre Leistungspflicht, da der Versicherte
den Gesundheitsschaden absichtlich herbeigeführt habe (Ver-
fügung vom 28. Juli 1999). Einspracheweise beantragte die
ASSURA Kranken- und Unfallversicherung die Aufhebung der
Verfügung, die Anerkennung des Ereignisses vom 15. Septem-
ber 1998 als Unfall und die Übernahme der damit zusammen-
hängenden Kosten durch die SUVA. Im Rahmen des Einsprache-
verfahrens zog die SUVA einen Bericht der Frau Dr. med.
H.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie,
Ärzteteam Unfallmedizin der SUVA (vom 22. November 1999),
bei. Mit Entscheid vom 20. Januar 2000 wies die SUVA die
Einsprache ab.

     B.- Die hiegegen vom Versicherten erhobene Beschwerde
wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Ent-
scheid vom 15. August 2001 ab.

     C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt der
Versicherte die Zusprechung der gesetzlichen Leistungen.
     Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsge-
richtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversiche-
rung auf eine Stellungnahme verzichtet. Die ASSURA Kranken-
und Unfallversicherung, die als Mitbeteiligte zur Vernehm-
lassung aufgefordert wurde, beantragt, die Verwaltungsge-

richtsbeschwerde sei abzuweisen und es sei allenfalls fest-
zulegen, ob sie als Krankenversicherer ihre Leistungen ver-
weigern bzw. kürzen könne.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- Im angefochtenen Entscheid werden die vorliegend
massgebenden gesetzlichen Bestimmungen über die Gewährung
von Versicherungsleistungen bei Unfällen (Art. 6 Abs. 1
UVG), den Begriff des Unfalls (Art. 9 Abs. 1 UVV), den Aus-
schluss von Versicherungsleistungen bei absichtlich herbei-
geführtem Gesundheitsschaden oder Tod (Art. 37 Abs. 1 UVG),
die Ausnahmebestimmung bei gänzlicher Unfähigkeit des Ver-
sicherten, im Zeitpunkt der Tat vernunftgemäss zu handeln
(Art. 48 UVV), sowie die hiezu ergangene Rechtsprechung
(BGE 120 V 352 mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Richtig
sind auch die Ausführungen zu dem im Sozialversicherungs-
recht geltenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrschein-
lichkeit (BGE 125 V 195 Erw. 2 mit Hinweisen), zum Grund-
satz der freien Beweiswürdigung und zum Beweiswert eines
Arztberichts (BGE 125 V 352 Erw. 3a; RKUV 2000 KV Nr. 124
S. 214) sowie zum Anspruch auf Durchführung einer öffent-
lichen Verhandlung (Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 30 Abs. 3 BV)
im erstinstanzlichen Rechtsmittelverfahren (BGE 122 V 54
Erw. 3). Darauf kann verwiesen werden.

     2.- Vorab ist festzuhalten, dass die Vorinstanz weder
Art. 30 Abs. 3 BV noch Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt hat, in-
dem sie die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung und
persönlichen Anhörung des Versicherten ablehnte. In diesem
Punkt kann auf die Begründung im kantonalen Entscheid ver-
wiesen werden.

     3.- Verwaltung und Vorinstanz haben ihren Entscheiden
die psychiatrische Beurteilung der Frau Dr. med. H.________
vom Ärzteteam Unfallmedizin vom 22. November 1999 zu Grunde
gelegt und ausgeführt, der Beschwerdeführer sei im Zeit-
punkt der Selbstschädigung vom 15. September 1998 nicht
gänzlich urteilsunfähig gewesen. Die Vorinstanz führte wei-
ter aus, Frau Dr. med. H.________ hätten sämtliche Versi-
cherungsakten, insbesondere die Berichte der Psychiatri-
schen Klinik K.________ vom 9. November 1998 und des Ex-
ternen Psychiatrischen Dienstes Y.________ vom 22. Septem-
ber 1998 zur Verfügung gestanden, weshalb nicht zu bemän-
geln sei, dass sie den Beschwerdeführer nicht auch noch
persönlich befragt habe.
     Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden. Frau
Dr. med. H.________ befragte im Zusammenhang mit der Ab-
fassung ihres Berichts weder den Beschwerdeführer noch se-
ine Angehörigen oder den Arbeitgeber. Im Rahmen einer me-
dizinischen Begutachtung ist aber die Erstellung einer
Anamnese unter Einschluss der persönlichen, familiären und
beruflich-sozialen Gesichtspunkte in der Regel unerlässlich
(Meyer-Blaser, Sozialversicherungsrecht und Medizin, in:
Hermann Fredenhagen, Das ärztliche Gutachten, 3. Aufl.,
Bern 1994, S. 24). Das gilt für psychiatrische Abklärungen
ganz besonders. Für die von einem psychiatrischen Sachver-
ständigen im Zusammenhang mit einem Suizidversuch zu beant-
wortenden Fragen nach der Art der psychischen Erkrankung
und dem Mass der Besinnungsfähigkeit des Suizidenten im
Zeitpunkt der Tat erscheint regelmässig eine Befragung des
Versicherten und der nächsten Angehörigen unverzichtbar,
und zwar auch dann, wenn der Unfallversicherer im Verwal-
tungsverfahren bereits entsprechende Befragungen durchge-
führt hat, wie dies zum Teil im vorliegenden Fall geschehen
ist. Denn den Aussendienstmitarbeitern der Unfallversiche-
rer fehlen jene medizinisch-psychiatrischen Kenntnisse, die
für eine umfassende Anamnese und die Feststellung der medi-

zinisch erheblichen Symptome, Beschwerden und Verhaltens-
weisen eines Versicherten erforderlich sind (unveröffent-
lichte Urteile D. vom 19. Dezember 1996, U 194/95, A. vom
10. September 1996, U 203/94, und B. vom 10. September
1996, U 165/94).
     Zu beachten ist weiter, dass die Frau Dr. med.
H.________ zur Verfügung stehenden Berichte des Externen
Psychiatrischen Dienstes Y.________ vom 22. September 1998
und der Psychiatrischen Klinik K.________ vom 9. November
1998 keine rechtsgenüglichen Angaben zur Urteilsfähigkeit
des Versicherten im Tatzeitpunkt enthalten. Während der
letztere Bericht hiezu keine Angaben enthält, beinhaltet
der Bericht vom 22. September 1998 diesbezüglich sogar eine
falsche Feststellung, indem darin festgehalten wird, der
Versicherte habe sich "in einem wahrscheinlich nüchternen
Zustand" befunden. Aktenmässig ist jedoch belegt, dass er
alkoholisiert war (1,86% Promille). Dies hat Frau Dr. med.
H.________ zwar berücksichtigt. Indessen beurteilte sie die
Frage der Auswirkungen des Blutalkoholgehalts anders als
dies im Austrittsbericht der Chirurgischen Klinik des Spi-
tals B.________ vom 20. Oktober 1998 geschah, wo der Versi-
cherte vom 15. September 1998 bis 7. Oktober 1998 hospita-
lisiert war. Während in diesem Bericht dargelegt wurde, der
seit ca. 25 Jahren massiv Alkohol trinkende Versicherte
verliere schon bei kleinen Mengen die Kontrolle, vertrat
Frau Dr. med. H.________ unter Würdigung von Leber-Laborbe-
funden die Auffassung, es spreche nichts dafür, dass er be-
reits nach dem Konsum kleiner Mengen Alkohol so schwer in-
toxikiert wäre, dass er nicht mehr urteilsfähig wäre.
     Im Weiteren ging Frau Dr. med. H.________ selber davon
aus, der Versicherte habe aufgrund einer chronischen Alko-
holabhängigkeit und einer mässigen Alkoholintoxikation
(F10.2 und F10.0 nach ICD-10) im Tatzeitpunkt an einer
Geistesschwäche im Sinne des Gesetzes gelitten. Gleichzei-

tig räumte sie aber ein, es bestünden widersprüchliche An-
gaben zur möglichen Depressivität und Suizidalität um die
Zeit des 15. September 1998 herum. Während im psychiatri-
schen Bericht vom 22. September 1998 von einer depressiven
Entwicklung über mehrere Wochen vor der Tat und einer ak-
tuell depressiven Symptomatik mit Suizidalität ausgegangen
wurde, war sowohl im Austrittsbericht der Chirurgischen
Klinik des Spitals B.________ vom 20. Oktober 1998 als auch
in demjenigen der Psychiatrischen Klinik K.________ vom
9. November 1998 von einem depressiven Syndrom keine Rede.
     Aufgrund dieser Aktenlage kann die Frage, ob der Be-
schwerdeführer zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich
urteilsunfähig war, mit dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit nicht beantwortet werden. Eine neue psy-
chiatrische Begutachtung ist daher unerlässlich.

     4.- Auf den Antrag der ASSURA Kranken- und Unfallver-
sicherung, es sei festzulegen, ob sie als Krankenversiche-
rer ihre Leistungen verweigern bzw. kürzen könne, ist nicht
einzutreten, da hierüber erst befunden werden kann, wenn
sie diesbezüglich verbindlich - in Form einer Verfügung -
Stellung genommen hat (BGE 125 V 414 Erw. 1a mit Hinwei-
sen).

     5.- Da die ASSURA Kranken- und Unfallversicherung mit
ihren Anträgen unterlegen ist, sind ihr die Gerichtskosten
aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG; BGE 127 V 111 Erw. 6b).

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbe-
     schwerde werden der Entscheid des Versicherungsge-
     richts des Kantons Aargau vom 15. August 2001 und der
     angefochtene Einspracheentscheid vom 20. Januar 2000
     aufgehoben, und es wird die Sache an die Schweize-
     rische Unfallversicherungsanstalt zurückgewiesen, da-
     mit diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Er-
     wägungen, neu verfüge.

 II. Auf den Antrag der ASSURA Kranken- und Unfallversiche-
     rung, es sei festzulegen, ob sie als Krankenversiche-
     rer ihre Leistungen verweigern bzw. kürzen könne, wird
     nicht eingetreten.

III. Die Gerichtskosten von Fr. 3000.- werden der ASSURA
     Kranken- und Unfallversicherung auferlegt.

 IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsge-
     richt des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialver-
     sicherung und der ASSURA Kranken- und Unfallversiche-
     rung zugestellt.

Luzern, 17. Dezember 2001

                   Im Namen des
         Eidgenössischen Versicherungsgerichts
             Der Präsident der III. Kammer:

                Der Gerichtsschreiber: