Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 27/2001
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U 27/01 Vr

                        IV. Kammer

Bundesrichter Borella, Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiber
Renggli

                Urteil vom 13. August 2001

                         in Sachen

Basler Versicherungs-Gesellschaft, Aeschengraben 21,
4002 Basel, Beschwerdeführerin, vertreten durch Advokat
Dr. Willy Fraefel, Peter Merian-Strasse 28, 4052 Basel,

                           gegen

G.________, 1951, Beschwerdegegnerin, vertreten durch
Advokatin Gertrud Baud, Rümelinsplatz 14, 4001 Basel,

                            und

Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt, Basel

     A.- G.________, geboren 1951, war seit dem 18. Septem-
ber 1989 im Alters- und Pflegeheim S.________ des Spitals
X.________ als Pflegehilfe beschäftigt und in dieser Eigen-
schaft bei der Basler Versicherungs-Gesellschaft (nach-
folgend: Basler) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs-
und Nichtberufsunfällen versichert. Am 4. November 1989 zog
sie sich bei einem Arbeitsunfall eine Stauchung der Becken-
gegend zu (Unfallmeldung vom 10. November 1989). Zwei Ver-

suche, die Arbeit teilzeitlich wieder aufzunehmen, mussten
wegen starker Schmerzen jeweils kurz nach Beginn wieder ab-
gebrochen werden. Am 16. November 1990 kündigte das Spital
X.________ das Arbeitsverhältnis. Seither geht G.________
keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Die Basler ordnete in
der Folge eine Expertise durch Dr. med. T.________, Neuro-
logie FMH, an. In seinem Gutachten vom 4. April 1991 diag-
nostizierte Dr. T.________ ein Sakroiliakalgelenks-Irrita-
tions-Syndrom, kompliziert durch eine traumatisch-induzier-
te lumbosakrale und sakroiliakale Ligamentopathie. Darauf-
hin verfügte die Basler am 6. Oktober 1993 die Ausrichtung
einer 70 %igen Rente rückwirkend ab 1. August 1991. Im
Rahmen der Abklärung eines Anspruches auf Integritätsent-
schädigung wurde das Zentrum für Medizinische Begutachtung
(ZMB) am 26. März 1998 mit der Ausarbeitung einer Expertise
beauftragt, welche am 26. August 1998 erstattet wurde. Die
Gutachter diagnostizierten eine dissoziative Störung ge-
mischt (psychosomatische Krankheit im Sinne einer Konver-
sionsstörung), die Entwicklung körperlicher Symptome aus
psychischen Gründen und ein lumbosakrales Schmerzsyndrom.
Objektivierbare somatische Unfallfolgen bestünden nicht
mehr. Mit Verfügung vom 2. Dezember 1998 stellte die Basler
fest, es bestehe kein Anspruch auf Leistungen, weder auf
eine Integritätsentschädigung noch auf Weiterausrichtung
einer Rente. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom
11. Oktober 1999 fest, wobei auf die Rückforderung bereits
ausgerichteter Leistungen verzichtet wurde.

     B.- Mit Beschwerde an das Versicherungsgericht des
Kantons Basel-Stadt liess G.________ die weitere Ausrich-
tung der Rente im bisherigen Umfang und die Zusprechung
einer Integritätsentschädigung beantragen. In teilweiser
Gutheissung der Beschwerde hob das angerufene Gericht den
Einspracheentscheid vom 11. Oktober 1999 "und die dadurch
geschützte Verfügung vom 2. Dezember 1998" im Rentenpunkt
auf. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab (Entscheid vom
8. November 2000).

     C.- Die Basler lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde
führen mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid des Versiche-
rungsgerichts vom 8. November 2000 sei insoweit aufzuheben,
als dieses auf Nicht-Aufhebung der mit Verfügung vom
6. Oktober 1993 zugesprochenen UVG-Rente erkannt habe, und
es sei der Einspracheentscheid vom 11. Oktober 1999 in
allen Teilen zu bestätigen; es seien keine ordentlichen
Kosten zu erheben und die ausserordentlichen Kosten seien
wettzuschlagen.
     G.________ lässt beantragen, die Verwaltungsgerichts-
beschwerde sei abzuweisen und es sei ihr eine angemessene
Parteientschädigung zuzusprechen. Eventualiter wird um die
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht. Das
Bundesamt für Sozialversicherung lässt sich nicht verneh-
men.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) In formellrechtlicher Hinsicht wird gerügt, die
Vorinstanz habe den Anspruch auf rechtliches Gehör ver-
letzt, insofern sie auf die Darlegungen der Versicherung
betreffend die Zulässigkeit der reformatio in peius gemäss
Art. 62 Abs. 2 VwVG überhaupt nicht eingegangen sei. Das
rechtliche Gehör als persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungs-
recht verlangt, dass die Behörde die Vorbringen der vom
Entscheid in ihrer Rechtsstellung betroffenen Person auch
tatsächlich hört, sorgfältig und ernsthaft prüft und in der
Entscheidfindung berücksichtigt (BGE 123 I 34 Erw. 2c; vgl.
auch BGE 126 V 80 Erw. 5b/dd mit Hinweisen; AHI 2001 S. 121
Erw. 1a). Da das kantonale Gericht sich zur Anwendbarkeit
von Art. 62 Abs. 2 VwVG nicht geäussert hat, ist die Rüge
an sich begründet.

     b) Nach der Rechtsprechung kann eine - nicht besonders
schwerwiegende - Verletzung des rechtlichen Gehörs als ge-
heilt gelten, wenn die betroffene Person die Möglichkeit

erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die
sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen
kann. Die Heilung eines - allfälligen - Mangels soll aber
die Ausnahme bleiben (BGE 126 I 72, 126 V 132 Erw. 2b, je
mit Hinweisen).

     c) Der Umstand, dass die Vorinstanz auf das erwähnte
Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht eingegangen ist,
stellt keine derart schwerwiegende Verletzung des recht-
lichen Gehörs dar, dass eine Heilung des Mangels ausge-
schlossen ist. Das Eidgenössische Versicherungsgericht kann
im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung
von Versicherungsleistungen in Anwendung von Art. 132 OG
die Rechtslage frei prüfen. Die Verletzung kann deshalb als
geheilt gelten.

     d) Materiell ist der mit der Rüge der Gehörsverletzung
vorgebrachte Einwand allerdings unbegründet, denn die übri-
gen registrierten Versicherer und die Ersatzkasse UVG sind
- im Unterschied zur Schweizerischen Unfallversicherungs-
anstalt - nicht dem VwVG unterstellt (BGE 126 V 120 Erw. 2b
mit Hinweisen).

     2.- Streitig und zu prüfen ist, ob die Basler die mit
Verfügung vom 6. Oktober 1993 für die Zeit ab 1. August
1991 zugesprochene Invalidenrente von 70 % mit Einsprache-
entscheid vom 11. Oktober 1999 aufheben durfte. Nicht
streitig ist dagegen, dass die Beschwerdegegnerin keinen
Anspruch auf Integritätsentschädigung hat.

     a) Ändert sich der Invaliditätsgrad des Rentenbezügers
erheblich, so wird die Rente für die Zukunft entsprechend
erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 22 Abs. 1 Satz 1
UVG). Nach den von der Rechtsprechung zu Art. 41 IVG ent-
wickelten Grundsätzen, die sinngemäss auch bezüglich
Art. 22 UVG gelten (RKUV 1987 Nr. U 32 S. 446), ist die In-
validenrente nicht nur bei einer wesentlichen Veränderung

des Gesundheitszustandes, sondern auch dann revidierbar,
wenn sich die erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich
gebliebenen Gesundheitszustandes erheblich verändert haben
(BGE 113 V 275 Erw. 1a mit Hinweisen; siehe auch BGE 112 V
372 Erw. 2b und 390 Erw. 1b). Anlass zur Rentenrevision
gibt somit jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen
Verhältnissen, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und
damit den Rentenanspruch zu beeinflussen.
     Ob eine solche Änderung eingetreten ist, beurteilt
sich durch Vergleich des Sachverhalts im Zeitpunkt der
ursprünglichen Rentenverfügung (oder gegebenenfalls eines
damaligen Einspracheentscheides) mit demjenigen bei Erlass
des die Revision betreffenden Einspracheentscheides (BGE
116 V 248 Erw. 1a, 109 V 265 Erw. 4a; RKUV 1989 Nr. U 65
S. 71 Erw. 1c, je mit Hinweisen).
     Der Revisionsordnung nach Art. 22 Abs. 1 UVG geht der
Grundsatz vor, dass die Verwaltung befugt ist, jederzeit
von Amtes wegen auf eine formell rechtskräftige Verfügung,
welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurtei-
lung gebildet hatte, zurückzukommen, wenn sich diese als
zweifellos unrichtig erweist und ihre Berichtigung von er-
heblicher Bedeutung ist. Unter diesen Voraussetzungen kann
die Verwaltung eine Rentenverfügung auch dann abändern,
wenn die Revisionsvoraussetzungen des Art. 22 Abs. 1 UVG
nicht erfüllt sind. Wird die zweifellose Unrichtigkeit der
ursprünglichen Rentenverfügung erst vom Richter festge-
stellt, so kann er die auf Art. 22 Abs. 1 UVG gestützte Re-
visionsverfügung der Verwaltung mit dieser substituierten
Begründung schützen (vgl. BGE 125 V 369 mit Hinweisen).

     b) Die Vorinstanz hat zutreffend dargelegt, dass die
Voraussetzungen zu einer materiellen Revision der Renten-
verfügung vom 6. Oktober 1993 nicht erfüllt sind. Das Gut-
achten des ZMB vom 26. August 1998 hält keinen gegenüber
dem Zeitpunkt der ursprünglichen Verfügung erheblich verän-
derten Gesundheitszustand fest. Die gestellten Diagnosen
waren der Basler zum Zeitpunkt der rentenzusprechenden Ver-

fügung bekannt; lediglich die ärztliche Würdigung der Ob-
jektivierbarkeit der Lumbosakralbeschwerden hat sich geän-
dert. Es wird dazu auf die entsprechenden Erwägungen im
angefochtenen Urteil verwiesen. Insgesamt liegt einzig eine
neue Bewertung des ursprünglichen Sachverhaltes vor, was
revisionsrechtlich unbeachtlich bleibt (vgl. BGE 112 V 372
Erw. 2b, 110 V 141 Erw. 2 und 293 Erw. 2a, je mit Hinwei-
sen).

     c) Indes ist davon auszugehen, dass sich die ursprüng-
liche Verfügung als zweifellos unrichtig erweist. Im Ein-
spracheentscheid der Basler vom 11. Oktober 1999 wird unter
Bezugnahme auf die Expertise des ZMB zutreffend dargelegt,
dass keine objektivierbaren Unfallfolgen mehr vorliegen und
dass die Folgen des Unfalles vom 4. November 1989 nach der
allgemeinen orthopädischen Erfahrung nach spätestens einem
Jahr abgeheilt sein sollten. Für die psychischen Beschwer-
den wird die natürliche Kausalität, wiederum in Anschluss
an den Bericht des ZMB, bejaht. Hingegen wird die Adäquanz
des Kausalzusammenhanges in richtiger Anwendung der in BGE
115 V 140 Erw. 6c entwickelten Kriterien verneint. Da für
die Leistungspflicht des Versicherers vorausgesetzt ist,
dass die gegebenen Gesundheitsbeeinträchtigungen in sowohl
natürlich als auch adäquat kausaler Beziehung zum Unfall
stehen, erweist sich die ursprüngliche Rentenverfügung als
zweifellos unrichtig. Die Berichtigung ist zudem von erheb-
licher Bedeutung, da es sich um die Ausrichtung periodisch
wiederkehrender Leistungen handelt, in welchem Fall das
Kriterium der Erheblichkeit nach der Rechtsprechung als er-
füllt zu betrachten ist (BGE 119 V 480 Erw. 1c mit Hinwei-
sen). Damit ist gemäss der oben erwähnten Rechtsprechung
(Erw. 2a) der Einspracheentscheid der Basler vom 11. Okto-
ber 1999 hinsichtlich der im Streit liegenden Einstellung
der Rente zu schützen.

     3.- a) Da es im vorliegenden Verfahren um Versiche-
rungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Ge-
richtskosten zu erheben.
     Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche
Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten
erweist sich daher als gegenstandslos. Die unentgeltliche
Verbeiständung kann ihr hingegen gewährt werden (Art. 152
in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit akten-
kundig ist und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202
Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indes-
sen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht,
wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu
leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

     b) Nach Art. 159 Abs. 2 OG darf im Verfahren der Ver-
waltungsgerichtsbeschwerde obsiegenden Behörden oder mit
öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen in
der Regel keine Parteientschädigung zugesprochen werden. In
Anwendung dieser Bestimmung hat das Eidgenössische Versi-
cherungsgericht der SUVA und den privaten UVG-Versicherern
sowie - von Sonderfällen abgesehen - den Krankenkassen
keine Parteientschädigungen zugesprochen, weil sie als Or-
ganisationen mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben zu quali-
fizieren sind (BGE 126 V 150 Erw. 4a mit Hinweisen).

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
     der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons
     Basel-Stadt vom 8. November 2000 aufgehoben.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Der Basler Versicherungs-Gesellschaft wird keine Par-
     teientschädigung zugesprochen.

 IV. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung
     wird Advokatin Gertrud Baud für das Verfahren vor dem
     Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichts-
     kasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliess-
     lich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

  V. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsge-
     richt des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für
     Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 13. August 2001

                Im Namen des
         Eidgenössischen Versicherungsgerichts
            Der Präsident der IV. Kammer:

               Der Gerichtsschreiber: