Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 277/2001
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U 277/01 Vr

                        II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter
Ursprung; Gerichtsschreiber Ackermann

                 Urteil vom 29. April 2002

                         in Sachen

M.________, 1940, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechts-
anwalt Dr. Ulrich Weiss, Tösstalstrasse 23, 8402 Winter-
thur,
                           gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmatt-
strasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin,

                            und

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

     A.- M.________, geboren 1940, war als selbstständig-
erwerbender "Bau-Consultant" freiwillig bei der Schweize-
rischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen Unfälle
versichert. Am 9. November 1998 meldete er der SUVA, er sei
am 7. August 1998 beim Verlassen des Hauses am Schuhkratzer
ausgerutscht und hingefallen; der Hausarzt med. pract.
L.________ diagnostizierte mit Bericht vom 2. November 1998
generalisierende Beschwerden nach einem Supinationstrauma
im linken oberen Sprunggelenk. Die SUVA zog diverse Arzt-

berichte bei und stellte mit Verfügung vom 17. März 1999
fest, dass M.________ ab dem 11. März 1999 vollständig
arbeitsfähig sei; sinngemäss stellte sie auf diesen Zeit-
punkt die Taggeldleistungen ein. Nachdem nochmals mehrere
Arztberichte eingeholt worden waren, bestätigte die SUVA
mit Einspracheentscheid vom 4. Februar 2000 ihre leis-
tungseinstellende Verfügung von März 1999.

     B.- Die dagegen - unter Beilage zweier Arztberichte -
erhobene Beschwerde des M.________ wies das Sozial-
versicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom
19. Juni 2001 ab.

     C.- M.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde
führen mit den Anträgen, unter Aufhebung des vorinstanz-
lichen Entscheides und des Einspracheentscheides seien ihm
über den 5. Januar 1999 hinaus Rentenleistungen (inkl. Ver-
zugszins) entsprechend einer Arbeitsunfähigkeit von 100 %,
eventualiter 50 %, zuzusprechen. Subeventualiter beantragt
er die Erstellung eines Obergutachtens, subsubeventualiter
Rückweisung an die Vorinstanz zu weiterer Sachverhaltsab-
klärung und neuem Entscheid.
     Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungs-
gerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialver-
sicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) In formeller Hinsicht stellt sich zunächst die
Frage, ob überhaupt über das Rentenbegehren entschieden
werden kann, da der Einspracheentscheid vom 4. Februar 2000
- entsprechend dem Rechtsbegehren in der Einsprache vom
16. April 1999 - implizit nur die Taggeldberechtigung be-
schlägt und Rentenleistungen erstmals mit der vorinstanz-
lichen Beschwerde beantragt worden sind.

     b) Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Ver-
sicherungsgerichts kann das verwaltungsgerichtliche Ver-
fahren aus prozessökonomischen Gründen auf eine ausserhalb
des Anfechtungsgegenstandes, d.h. ausserhalb des durch die
Verfügung bestimmten Rechtsverhältnisses liegende spruch-
reife Frage ausgedehnt werden, wenn diese mit dem bisheri-
gen Streitgegenstand derart eng zusammenhängt, dass von
einer Tatbestandsgesamtheit gesprochen werden kann, und
wenn sich die Verwaltung zu dieser Streitfrage mindestens
in Form einer Prozesserklärung geäussert hat (BGE 122 V 36
Erw. 2a mit Hinweisen).
     Dies ist hier der Fall, da der - sowohl für Taggeld-
leistungen wie auch für die Rentenberechtigung notwendige -
natürliche Kausalzusammenhang streitig ist (vgl. Erw. 3
hienach). Die SUVA hat sich zudem im vorinstanzlichen Ver-
fahren auf die Rentenfrage eingelassen und sich damit zur
Streitfrage geäussert. Das kantonale Gericht hat deshalb zu
Recht über die Invalidenrente befunden, sodass in der Folge
auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten ist.

     2.- Die Vorinstanz hat die Rechtsprechung zu dem für
die Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten
natürlichen Kausalzusammenhang (BGE 119 V 337 Erw. 1, 118 V
289 Erw. 1b, 117 V 376 Erw. 3a mit Hinweisen) zwischen dem
Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit,
Invalidität, Tod) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für
die Qualifikation des natürlichen Kausalzusammenhanges als
Tatfrage, der nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahr-
scheinlichkeit nachzuweisen ist (BGE 119 V 338 Erw. 1 mit
Hinweis). Darauf kann verwiesen werden.

     3.- Streitig ist, ob ein natürlicher Kausalzusammen-
hang zwischen dem Unfall vom 7. August 1998 und dem geltend
gemachten Gesundheitsschaden, der die Arbeits- und Erwerbs-
fähigkeit beeinträchtige, vorliegt.

     a) Das kantonale Gericht hat primär auf die beiden
Aktengutachten des SUVA-Arztes Dr. med. V.________,
Facharzt FMH für Chirurgie, Ärzteteam Unfallmedizin, vom
28. Januar 2000 und vom 10. Juli 2000 abgestellt und das
Vorliegen eines natürlichen Kausalzusammenhanges verneint.
Der Beschwerdeführer bringt demgegenüber vor, dass Ärzte,
die ihn - im Gegensatz zu Dr. med. V.________ - unter-
suchten, auf eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % geschlossen
hätten; entweder sei direkt auf diese Stellungnahmen abzu-
stellen oder es seien weitere Abklärungen nötig.

     b) Das Bundesrecht schreibt nicht vor, wie die ein-
zelnen Beweismittel zu würdigen sind. Für das gesamte Ver-
waltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt
der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in
Verbindung mit Art. 19 VwVG; Art. 95 Abs. 2 OG in Verbin-
dung mit Art. 113 und 132 OG). Danach haben Versicherungs-
träger und Sozialversicherungsrichter die Beweise frei -
d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln - sowie um-
fassend und pflichtgemäss zu würdigen. Für das Beschwerde-
verfahren bedeutet dies, dass der Sozialversicherungs-
richter alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie
stammen, objektiv zu prüfen und zu entscheiden hat, ob die
verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des
streitigen Rechtsanspruches gestatten. Insbesondere darf er
bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den
Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu
würdigen und die Gründe anzugeben, warum er auf die eine
und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hin-
sichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist also
entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange
umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch
die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der
Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurtei-
lung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung
der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schluss-
folgerungen des Experten begründet sind. Ausschlaggebend

für den Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die Her-
kunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der einge-
reichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Be-
richt oder Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3a, AHI 2001
S. 113 Erw. 3a, je mit Hinweis).

     c) Der SUVA-Arzt Dr. med. V.________ hat die Gutachten
vom 28. Januar 2000 und 10. Juli 2000 rein aufgrund der
Aktenlage erstellt, ohne den Versicherten persönlich unter-
sucht zu haben.
     Ein Aktengutachten ist nicht an sich als unzuverlässig
zu betrachten; entscheidend ist, ob schon genügend Unter-
lagen aufgrund anderer persönlicher Untersuchungen vor-
liegen. Aktengutachten sind praxisgemäss nicht zu bean-
standen, wenn die Akten ein vollständiges Bild über Anam-
nese, Verlauf und gegenwärtigen Status ergeben und diese
Daten unbestritten sind. Ferner ist erforderlich, dass der
Untersuchungsbefund lückenlos vorliegt und der Experte sich
aufgrund vorhandener Unterlagen ein gesamthaft lückenloses
Bild machen kann (RKUV 1988 Nr. U 56 S. 370 Erw. 5b mit
Hinweisen auf die Literatur, bestätigt in den nicht ver-
öffentlichten Urteilen S. vom 2. April 1993, U 9/92, sowie
K. vom 20. Januar 1995, U 100/94). Diese Rechtsprechung
wurde im Urteil A. vom 17. September 2001, U 129/00, inso-
weit präzisiert, als ein sich "beinahe ausschliesslich" auf
Literatur und statistische Angaben stützendes Gutachten den
vom Unfallversicherer zu erbringenden Beweis des Dahin-
fallens jeder kausalen Bedeutung unfallbedingter Ursachen
nicht zu erbringen vermöge. Eine weitere Relativierung
betreffend reiner Aktengutachten erfolgte in RKUV 2001 Nr.
U 438 S. 346 (mit Hinweis auf BGE 127 I 57 ff. Erw. 2e-g),
wo festgehalten wurde, dass psychiatrische Gutachten sich
grundsätzlich auf eine persönliche Untersuchung abzustützen
hätten.
     Der SUVA-Arzt Dr. med. V.________ erstattete seine
Gutachten in Kenntnis aller medizinischen Akten, die ein
vollständiges Bild über Anamnese, Verlauf und gegenwärtigen

Status ergeben, wobei diese grundlegenden Daten unbestrit-
ten sind, auch wenn sich die beteiligten Ärzte über die
Diagnose nicht einigen können. Überdies standen ihm genü-
gend Arztberichte zur Verfügung, die aufgrund persönlicher
Untersuchungen des Beschwerdeführers verfasst worden waren.
Die Verwendung von Literatur und Statistik erfolgt nur
hilfsweise zur Begründung der aktenmässigen Sachlage; eine
rein statistisch-theoretische Abhandlung liegt nicht vor,
vielmehr sind die Einzelheiten des Falles berücksichtigt
und in den Kontext von Literatur und Statistik gestellt
worden. Die Voraussetzungen, unter denen auf ein Akten-
gutachten abgestellt werden kann, sind damit erfüllt.

     d) Die Aktengutachten des Dr. med. V.________ vom
28. Januar 2000 und 10. Juli 2000 stellen grundsätzlich
eine Bestätigung der durch den SUVA-Kreisarzt vorgenommenen
Beurteilung dar. Diese Expertisen sind umfassend, berück-
sichtigen die allseitigen Untersuchungen der anderen Ärzte
und insbesondere auch die geklagten Beschwerden, sind in
Kenntnis der Vorakten abgegeben worden und in der Beur-
teilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizi-
nischen Situation einleuchtend; zudem sind die Schluss-
folgerungen begründet (BGE 125 V 352 Erw. 3a). Der Experte
setzt sich zudem ausführlich mit abweichenden Meinungen
auseinander; entgegen der Auffassung in der Verwaltungs-
gerichtsbeschwerde ist im Übrigen nicht ersichtlich, in-
wiefern Dr. med. V.________ von einer Aggravation ausgehen
sollte. Demgegenüber erfolgt im Bericht der Frau Dr. med.
A.________, Oberärztin der Rheumaklinik und des Instituts
für Physiotherapie mit Poliklinik des Spitals X.________,
vom 31. Mai 2000 einzig eine medizinische Würdigung des
Sachverhaltes; auf abweichende Meinungen anderer Ärzte wird
- mit Ausnahme zu den Bemerkungen der konsiliarisch bei-
gezogenen Frau Dr. med. P.________, Orthopädische Chirurgie
FMH - nicht eingegangen. Zwar wird im Bericht der Ärztin
vom 31. Mai 2000 festgehalten, die linksseitigen Fuss-
schmerzen seien "vereinbar mit den sonographisch, radio-

logisch und MR-mässig dokumentierten Befunden", jedoch
fehlt eine Begründung, weshalb dies so sein soll. Zudem ist
nicht ganz klar, ob die Ausführungen der Ärztin in Kenntnis
aller Vorakten abgegeben worden sind, wird doch betreffend
persönlicher Anamnese bloss auf die "ausführliche Zuwei-
sungsdokumentation" verwiesen. Damit kann auf die Beurtei-
lung des Gesundheitszustandes durch Frau Dr. med.
A.________ weder abgestellt werden noch liegt damit ein
geeignet konkretes Indiz vor, das gegen die Zuverlässigkeit
der Auffassung des Dr. med. V.________ sprechen würde (BGE
125 V 353 Erw. 3b/ee) und das zu einem Absehen von dessen
Meinung oder zu weiteren Abklärungen führen könnte. Die
Ausführungen in den drei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
des Hausarztes Dr. med. B.________, Facharzt FMH für Innere
Medizin, vom 10. Dezember 1999, vom 25. Juli 2000 sowie vom
24. November 2000 führen mangels Begründung ebenso wenig
wie sein Überweisungsschreiben vom 26. September 1999 an
einen orthopädischen Chirurgen zu einer anderen Schluss-
folgerung.

     e) Somit kann auf die Ausführungen des Dr. med.
V.________ (der seinerseits die früheren Annahmen des
SUVA-Kreisarztes bestätigt) abgestellt werden und das
Vorliegen von unfallkausalen Beschwerden verneint werden;
weitere Abklärungen sind nicht nötig. Daran ändert auch der
Einwand des Versicherten nichts, dass die Veränderung am
linken Talus kein vorbestehendes Enchondrom oder intra-
ossäres Ganglion sei, hält doch Dr. med. V.________ klar
fest, dass diese - mit "grosser Wahrscheinlichkeit" vor-
bestehende und von der kompakten Knochenmasse des Talus
umgebene - Läsion durch das Supinationstrauma nachweislich
nicht traumatisiert worden sei.

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversiche-
     rungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
     Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 29. April 2002

                    Im Namen des
         Eidgenössischen Versicherungsgerichts
             Der Präsident der II. Kammer:

                Der Gerichtsschreiber: