Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 269/2001
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U 269/01

Urteil vom 20. August 2002
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin
Bollinger

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstras-
se 1, 6004 Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

H.________, 1938, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur.
Andreas Hebeisen, Löwenstrasse 12, 8280 Kreuzlingen

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 25. April 2001)

Sachverhalt:

A.
H. ________, geboren 1938, erlitt am 9. Oktober 1995 einen Berufsunfall, der
eine bleibende Augenschädigung zur Folge hatte. Nach medizinischen und
erwerblichen Abklärungen sprach ihm die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) mit Verfügung vom 19. Februar 1998
basierend auf einer Erwerbsunfähigkeit von 33 1/3 % eine monatliche
Invalidenrente von Fr. 1'832.- sowie eine Integritätsentschädigung von Fr.
29'160.-, entsprechend einem Integritätsschaden von 30 % zu. Sie stützte sich
dabei im Wesentlichen auf Berichte der Klinik für Augenkrankheiten am
Kantonsspital X.________ vom 2. April und 9. Oktober 1997. Diese Verfügung
erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

Im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren wurde unter Bezugnahme auf
einen Bericht des Zentrums Y.________ vom Mai 1998 eine Erwerbsunfähigkeit
von 70 % festgestellt (Vorbescheid vom 2. November 1998; Verfügung vom 14.
Januar 1999). Unter Hinweis auf den Vorbescheid liess H.________ am 2.
Dezember 1998 ein Revisionsbegehren, eventualiter ein Wiedererwägungsgesuch
stellen und subeventualiter die Ausrichtung einer dem Hauptantrag
entsprechenden Rente von mindestens 70 %, spätestens ab 1. Juni 1998
beantragen. Die SUVA lehnte mit Verfügung vom 15. Dezember 1998 das Gesuch
auf Revision bzw. Wiedererwägung ab. Hiegegen liess H.________ Einsprache
erheben. In der Folge befragte die SUVA den Versicherten und ordnete eine
erneute Untersuchung in der Klinik für Augenkrankheiten am Kantonsspital
X.________ an. Gestützt auf die dabei erhobenen Befunde (Bericht vom 26.
August 1999) wies sie die Einsprache mit Entscheid vom 5. November 1999 ab.

B.
H.________ liess hiegegen Beschwerde erheben unter Erneuerung der im
SUVA-Verfahren gestellten Rechtsbegehren.

Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wies am 25. April 2001 die
Beschwerde hinsichtlich des Revisionsbegehrens ab, hiess sie dagegen
bezüglich des Wiedererwägungsgesuchs gut und wies die Sache zur Durchführung
eines korrekten Wiedererwägungsverfahrens an die SUVA zurück.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA die Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids, soweit er die Beschwerde hinsichtlich des
Wiedererwägungsgesuchs gutheisst und die Sache zur Durchführung eines
korrekten Wiedererwägungsverfahrens zurückweist, sowie die Bestätigung des
Einspracheentscheids vom 5. November 1999.

H. ________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Stellungnahme.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist einzig, ob die Voraussetzungen für eine
Wiedererwägung der in Rechtskraft erwachsenen Verfügung der SUVA vom 19.
Februar 1998 gegeben sind.

2.
Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen für die Vornahme einer
Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verwaltungsverfügungen (BGE 126 V 23
Erw. 4b, 46 Erw. 2b, 400 Erw. 2b/aa, je mit Hinweisen sowie BGE 125 V 389
Erw. 3 mit Hinweisen), für die Durchführung des Wiedererwägungsverfahrens
(BGE 125 V 389 Erw. 3 mit Hinweisen) und bezüglich des Stellenwerts
ärztlicher Berichte bei der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4)
zutreffend dargestellt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 In ihrer Verfügung vom 19. Februar 1998 erachtete die SUVA den
Versicherten, wesentlich gestützt auf die Berichte der Klinik für
Augenkrankheiten am Kantonsspital X.________ vom 2. April und 9. Oktober
1997, als 100 % arbeitsfähig. Nach Eingang des Wiedererwägungs- bzw.
Revisionsgesuchs liess sie eine erneute medizinische Abklärung in derselben
Klinik durchführen. Die zuständigen Ärzte stellten am 26. August 1999 fest,
die Befundkonstellation habe sich gegenüber dem früheren Bericht vom 9.
Oktober 1997 nicht verschlechtert, aber auch nicht verbessert. Die
invalidenversicherungsrechtliche Abklärung sei zweckmässig erfolgt, jedoch
gehe aus den Aufzeichnungen nicht hervor, mit welcher Nahkorrektur die
manuellen Tätigkeiten ausgeführt worden seien. Es sei zu empfehlen, eine
monofokale Nahbrillenkorrektur durchzuführen, weil eine Multifokalbrille im
Nahbereich eine Blicksenkung erfordere, von welcher Sehstörungen zu erwarten
seien. Die Feststellungen im Abklärungsbericht des Zentrums Y.________,
insbesondere die Schlussfolgerung, der Versicherte sei "stark eingeschränkt",
könnten nicht nachvollzogen werden. Aus augenärztlicher Sicht sei von einer
"eingeschränkten" Leistungsfähigkeit auszugehen; Bürotätigkeiten an einem
entsprechend ausgestatteten Arbeitsplatz in Verbindung mit einer adäquaten
Nahbrillenkorrektur seien zumutbar, wobei das Ausmass durch eine
entsprechende Abklärung ermittelt werden müsse. Ausgehend von diesen
Feststellungen und gestützt auf die Ausführungen des Dr. med. F.________ vom
Ärzteteam Unfallmedizin (medizinische Beurteilung vom 10. November 1997) wies
die SUVA die Einsprache ab mit der Begründung, der unveränderte Befund lasse
darauf schliessen, dass sich hinsichtlich der zumutbaren Tätigkeiten keine
wesentlichen Änderungen ergeben hätten. Das im Jahre 1997 ermittelte
Zumutbarkeitsprofil wie auch die Erwerbsunfähigkeit von 33 1/3 % erwiesen
sich angesichts der von Dr. med. F.________ geschätzten Erwerbsunfähigkeit
(gemeint wohl: Arbeitsunfähigkeit) von 15 % nicht als zweifellos unrichtig,
woran auch die beruflichen Abklärungen der Invalidenversicherung nichts zu
ändern vermöchten, zumal diese unfallfremde Faktoren massgeblich
berücksichtigten. Damit ist die SUVA auf das Wiedererwägungsgesuch
eingetreten und hat es materiell behandelt.

3.2 Die Vorinstanz hat geprüft, ob sich die ursprüngliche Verfügung vom 19.
Februar 1998 als zweifellos unrichtig erweist. Im Ergebnis erachtete sie das
Wiedererwägungsgesuch für berechtigt und wies die Sache zur Durchführung
eines korrekten Wiedererwägungsverfahrens an die SUVA zurück. Zur Begründung
führte sie an, die Aktenlage sei hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit des
Versicherten unklar, widersprüchlich und lasse die von der SUVA getroffene
Annahme einer 100 %igen bzw. um 15 % verminderten Arbeitsfähigkeit (Verfügung
vom 19. Februar 1998; Einspracheentscheid vom 5. November 1999) nicht zu.
Indem die SUVA auf die dürftige ärztliche Stellungnahme vom 26. August 1999
abgestellt, die darin angesprochene weitere Abklärung unterlassen und nur
ungenügende erwerbliche Abklärungen vorgenommen habe, sei sie ihrer Pflicht
zur korrekten Durchführung des Wiedererwägungsverfahrens nicht nachgekommen.
Dieser Auffassung ist beizupflichten. Die Ausführungen im Bericht des
Kantonsspitals X.________ vom 26. August 1999, wonach die Leistungsfähigkeit
nicht "stark eingeschränkt", sondern nur "eingeschränkt" sei, ermöglichen
keine Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und der erwerblichen Möglichkeiten.
Indem die SUVA gestützt auf diese Auskünfte und ohne nachgewiesene
erwerbliche Abklärungen die mit Verfügung vom 19. Februar 1998 als zumutbar
erachteten Arbeiten weiterhin für massgeblich hielt, kam sie ihrer Pflicht
zur Abklärung rechtserheblicher Tatsachen nicht genügend nach. Dass die Ärzte
am Kantonsspital X.________ keine Veränderung des Gesundheitszustands
feststellten, ist deshalb nicht entscheidwesentlich, weil bei der Beurteilung
eines Wiedererwägungsgesuchs vom ursprünglichen Sachverhalt auszugehen ist,
wie er im Zeitpunkt des Verfügungserlasses bestanden hat. Indem die
zuständigen Ärzte im Bericht vom 26. August 1999, abweichend von der
Beurteilung im Jahre 1997, von einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit
ausgingen, bestätigten sie entgegen den Ausführungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwede die damalige Erhebung (100 %ige
Arbeitsfähigkeit) gerade nicht.

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass sich nach derzeitiger Aktenlage
die Frage nach der zweifellosen Unrichtigkeit der ursprünglichen Verfügung
nicht beantworten lässt, weshalb der vorinstanzliche Rückweisungsentscheid zu
Recht ergangen ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 500.- wird der Beschwerdeführerin
zurückerstattet.

4.
Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt hat dem Beschwerdegegner für
das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 20. August 2002
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: