Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 261/2001
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U 261/01

Urteil vom 9. Juli 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Attinger

C.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Werner
Kupferschmid, Beethovenstrasse 24, 8002 Zürich,

gegen

Basler Versicherungs-Gesellschaft, Aeschengraben 21, 4002 Basel,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Advokat Dr. Willy Fraefel, Peter
Merian-Strasse 28, 4052 Basel,

Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt

(Entscheid vom 16. Mai 2001)

Sachverhalt:

A.
Die 1954 geborene C.________ kollidierte am 27. November 1996 auf dem Weg zur
Arbeit als Lenkerin eines Personenwagens mit einem anderen Fahrzeug.
Gegenüber den Ärzten des Kreiskrankenhauses Lörrach klagte sie unmittelbar
nach dem Unfall über Schmerzen im Bereich des Kopfes und der Halswirbelsäule
(HWS). Äusserlich fanden sich keine Verletzungszeichen; überdies wurden weder
neurologische Ausfälle noch pathologische Reflexe konstatiert. An das
Unfallereignis selber konnte sich C.________ nicht erinnern. Eine
Röntgenuntersuchung von Schädel und HWS förderte keine knöcherne Verletzung
zu Tage. Die Spitalärzte diagnostizierten eine leichte Commotio cerebri sowie
eine HWS-Distorsion und ordneten eine stationäre Überwachung bis zum 29.
November 1996 an. Die Basler Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Basler)
übernahm in der Folge die Heilbehandlung und richtete UV-Taggelder aus, bevor
sie ihre Leistungen mit Verfügung vom 9. Juli 1997 rückwirkend auf Ende April
1997 einstellte, weil keine Unfallfolgen mehr vorhanden seien. Auf Einsprache
der Versicherten hin holte die Basler beim Rheumatologen Dr. S.________ ein
Gutachten vom 26. November 1997 ein. Gestützt auf dieses sowie den
Zusatzbericht von Dr. S.________ vom 6. März 1998 gelangte der
Unfallversicherer im abweisenden Einspracheentscheid vom 22. Juli 1998 zum
Schluss, dass die aktuellen Beschwerden (im Wesentlichen Nacken- und
Kopfschmerzen) nicht mehr auf den Autounfall vom 27. November 1996
zurückzuführen seien, sondern auf vorbestehende unfallfremde Leiden
(Zervikalsyndrom, Migräne). Dieser Einspracheentscheid erwuchs unangefochten
in Rechtskraft.

Unter Hinweis auf ein im Auftrag der Invalidenversicherung erstelltes
Gutachten des Neurologen Dr. B.________ vom 28. Mai 1999 sowie einen Bericht
der Klinik X.________ vom 29. Januar 1999, wo C.________ vom 17. November bis
15. Dezember 1998 hospitalisiert war, liess die Versicherte am 26. Juni 1999
beantragen, auf Grund "neuer Beweismittel" sei auf die Leistungseinstellung
zurückzukommen. Die Basler holte daraufhin bei Dr. O.________ eine
neurologische Expertise vom 1. November 1999 ein und gab anschliessend einem
weiteren Neurologen, Prof. Dr. W.________ den Auftrag für ein Aktengutachten,
welches am 25. Januar 2000 erstattet wurde. Mit Verfügung vom 28. Februar
2000 und Einspracheentscheid vom 11. Mai 2000 lehnte die Basler ein
Rückkommen auf ihren ursprünglichen Einspracheentscheid vom 22. Juli 1998 ab.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt (heute:
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt) wies die hiegegen erhobene Beschwerde
mit Entscheid vom 16. Mai 2001 ab.

C.
C.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag auf
Zusprechung der gesetzlichen Leistungen (insbesondere einer Invalidenrente
und einer Integritätsentschädigung); eventuell sei die Sache zur ergänzenden
medizinischen Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Überdies lässt sie
um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne der unentgeltlichen
Verbeiständung ersuchen.

Während die Basler auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichten sowohl das Bundesamt für Sozialversicherung als auch die als
Mitinteressierte beigeladene Concordia Schweizerische Kranken- und
Unfallversicherung auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid (zum Teil mittels
Verweisung auf den streitigen Einspracheentscheid) die von der Rechtsprechung
für die Leistungspflicht des Unfallversicherers entwickelten Grundsätze über
den erforderlichen natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem
Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden, insbesondere bei Schleudertraumen
der HWS und bei psychischen Beeinträchtigungen nach Unfällen (BGE 122 V 415,
119 V 335, 117 V 359, 115 V 133), zutreffend wiedergegeben.

Zu ergänzen ist, dass die Rechtsprechung zum natürlichen und adäquaten
Kausalzusammenhang bei Verletzungen nach klassischem Schleudertrauma auch auf
Verletzungen nach einem dem Schleudertrauma äquivalenten Mechanismus
(Kopfanprall mit Abknickung der HWS; SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 Erw. 2) und bei
Vorliegen eines Schädel-Hirntraumas anwendbar ist, wenn und soweit sich
dessen Folgen mit jenen eines Schleudertraumas vergleichen lassen (BGE 117 V
369). Ferner ist zu verdeutlichen, dass die Beurteilung der Adäquanz in
denjenigen Fällen, in welchen die zum typischen Beschwerdebild eines
Schleudertraumas der HWS (oder eines Schädel-Hirntraumas) gehörenden
Beeinträchtigungen zwar teilweise gegeben sind, im Vergleich zur vorliegenden
ausgeprägten psychischen Problematik aber ganz in den Hintergrund treten,
nach der für psychische Fehlentwicklungen nach Unfällen geltenden
Rechtsprechung (BGE 115 V 133) vorzunehmen ist (BGE 123 V 99 Erw. 2a mit
Hinweisen).

1.2
Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts kann die
Verwaltung eine formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht Gegenstand
materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, in Wiedererwägung ziehen,
wenn sie zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung
ist (BGE 127 V 469 Erw. 2c  mit Hinweisen).

Von der Wiedererwägung ist die so genannte prozessuale Revision von
Verwaltungsverfügungen zu unterscheiden. Danach ist die Verwaltung
verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen, wenn
neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden, die geeignet sind, zu
einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE 127 V 469 Erw. 2c mit
Hinweisen).

2.
2.1 Wie bereits erwähnt, stützte die Basler ihren leistungseinstellenden
ursprünglichen Einspracheentscheid vom 22. Juli 1998 auf die ärztlichen
Stellungnahmen des Rheumatologen Dr. S.________ (Gutachten vom 26. November
1997 und Zusatzbericht vom 6. März 1998). Die davon abweichende Bejahung des
natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis vom 27. November
1996 und den im Zeitpunkt des letztgenannten Einspracheentscheids bestehenden
Beschwerden (in erster Linie Nacken- und Kopfschmerzen) durch die Ärzte der
Klinik X.________ (Bericht vom 29. Januar 1999) und die beiden Neurologen Dr.
B.________ und Dr. O.________ (Gutachten vom 28. Mai 1999 bzw. 1. November
1999) beruht nicht auf neu entdeckten, schon im Zeitpunkt des früheren
Einspracheentscheids gegebenen Tatsachen. Vielmehr stellt sie (im Verhältnis
zur Beurteilung Dr. S.________) bloss eine andere Bewertung des
seinerzeitigen Sachverhalts dar und bleibt als solche
prozessualrevisionsrechtlich (vgl. Erw. 1.2 in fine hievor) von vorneherein
unbeachtlich (BGE 127 V 358 Erw. 5b, 110 V 141 Erw. 2 und 293 Erw. 2a).

2.2 Was die Wiedererwägung des ursprünglichen, formell rechtskräftigen
Einspracheentscheids (vgl. vorstehende Erw. 1.2 am Anfang) anbelangt, ist dem
kantonalen Gericht beizupflichten, dass sich angesichts des erneut
ablehnenden Sachentscheids (Einspracheentscheid vom 11. Mai 2000) der
Prüfungsgegenstand im nachfolgenden verwaltungsgerichtlichen
Beschwerdeverfahren auf die Frage beschränkt, ob die
Wiedererwägungsvoraussetzungen (zweifellose Unrichtigkeit des früheren
Einspracheentscheids sowie erhebliche Bedeutung der Berichtigung) gegeben
sind (BGE 116 V 62). Von einer zweifellos unrichtigen Rechtsanwendung
(einschliesslich einer zweifellos unrichtigen Tatsachenfeststellung des
Unfallversicherers im Sinne der Sachverhaltswürdigung; vgl. Meyer-Blaser, Die
Abänderung formell rechtskräftiger Verwaltungsverfügungen in der
Sozialversicherung, in: ZBl 1994, S. 337 ff., S. 352) kann im hier zu
beurteilenden Fall nicht die Rede sein. Entgegen den Vorbringen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde war das am 26. November 1997 erstattete und mit
Zusatzbericht vom 6. März 1998 ergänzte Gutachten Dr. S.________, auf welches
die Basler ihren früheren Einspracheentscheid vom 22. Juli 1998 stützte,
keineswegs unvollständig. Und anders als die Vorinstanz anzunehmen scheint,
verneinte dieser Spezialarzt für Rheumatologie die natürliche Kausalität
nicht etwa wegen des Fehlens organisch objektivierbarer Befunde (hätte der
Unfallversicherer seinem leistungseinstellenden Entscheid tatsächlich eine
solche Schlussfolgerung zu Grunde gelegt, wäre dieser, da im Widerspruch zur
Rechtsprechung stehend [BGE 119 V 340 Erw. 2b/aa, 117 V 360 Erw. 4b, 363 Erw.
5d/aa und 377 ff. Erw. 3c und e], zweifellos unrichtig). Vielmehr gelangte
Dr. S.________ in erster Linie unter Berücksichtigung eines "eindeutig
krankheitsbedingten Vorzustandes von Seiten der Halswirbelsäule (Cervicalgien
und Myogelosen)" sowie  einer "vorbestandenen Migräneanamnese" zum Ergebnis,
dass das streitige Unfallereignis vom 27. November 1996 zunächst eine
Verschlimmerung des krankhaften Vorzustandes bewirkt hat, dass aber -
erfahrungsgemäss - nach sechs Monaten der status quo ante wieder erreicht
worden ist.

2.3 Es bleibt, das Rückkommensgesuch der Beschwerdeführerin vom 26. Juni 1999
unter dem Blickwinkel der Neuanmeldung zu prüfen (RKUV 1994 Nr.U 189 S. 138).
Die medizinischen Stellungnahmen der Klinik X.________ vom 29. Januar 1999,
der Neurologen Dr. B.________ vom 28. Mai 1999, Dr. O.________ vom 1.
November 1999 und Prof. Dr. W.________ vom 25. Januar 2000 legen den Schluss
nahe, dass sich der Gesundheitszustand seit Erlass des ersten abweisenden
Einspracheentscheids vom 22. Juli 1998 verschlechtert hat. Auf die
letztgenannte Expertise ist allerdings nicht im gleichen Masse abzustellen,
da sie als reines Aktengutachten ohne persönliche Untersuchung der
Versicherten und überdies in Missachtung der sinngemäss auch für die Basler
geltenden Beweisvorschriften eingeholt worden ist (Art. 96 UVG in Verbindung
mit Art. 19 VwVG und Art. 57 ff. BZP; BGE 125 V 353 Erw. 3b/bb, 120 V 359).
In welchem fassbaren Ausmass es tatsächlich zu einer unfallkausalen
Verschlechterung des Gesundheitszustandes gekommen ist, bedarf mangels
entsprechender Fragestellung an die bisher involvierten Gutachter näherer
Prüfung. Angesichts der Dauer der Latenz erscheint eine auf den versicherten
Unfall zurückzuführende Verschlimmerung der gesundheitlichen Situation
zweifelhaft, kann aber vom Eidgenössischen Versicherungsgericht auf Grund der
vorliegenden Akten nicht abschliessend beurteilt werden. Die Sache ist daher
zur Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Neuanmeldung wegen einer (seit Erlass
des ursprünglichen Einspracheentscheids vom 22. Juli 1998 eingetretenen)
gesundheitlichen Verschlechterung im Sinne eines Rückfalls oder einer
Spätfolge an das kantonale Gericht zurückzuweisen, welches diesbezüglich eine
ergänzende Begutachtung anordnen wird.

3.
Anzumerken ist, dass erst nach dem Vorliegen des ergänzenden gerichtlichen
Gutachtens (im Falle der Bejahung der natürlichen Kausalität zwischen dem
Unfallereignis und einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes) beurteilt
werden kann, ob die Adäquanz des Kausalzusammenhangs anhand der
Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133; die Vorinstanz
hat auch die Frage nach der Anwendung von BGE 123 V 99 Erw. 2a [vgl. Erw. 1.1
in fine hievor] aufgeworfen) oder aber nach der Gerichtspraxis zu den
Schleudertraumen der HWS (BGE 122 V 415, 117 V 359) bzw. den
Schädel-Hirntraumen (BGE 117 V 369) zu prüfen ist, d.h. ohne Differenzierung
zwischen physischen und psychischen Komponenten der unfallbezogenen Merkmale
(BGE 117 V 367 Erw. 6a in fine). Entgegen der Auffassung des kantonalen
Gerichts gewichtet die Rechtsprechung die Adäquanzkritierien nicht in
Abhängigkeit von einem allfälligen Vorzustand.

4.
Dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens entsprechend steht der
Versicherten eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159
Abs. 1 OG); damit erweist sich ihr Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen
Verbeiständung als gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 16. Mai 2001
aufgehoben und die Sache an das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
zurückgewiesen, damit es, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen,
über die Beschwerde neu entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Basler Versicherungs-Gesellschaft hat der Beschwerdeführerin  für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt,
dem Bundesamt für Sozialversicherung und der Concordia Schweizerische
Kranken- und Unfallversicherung zugestellt.

Luzern, 9. Juli 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber:
i.V.