Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 243/2001
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2001
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2001


U 243/01

Urteil vom 1. Oktober 2002
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiberin
Hofer

P.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Dr. Alfred
Koch-Geissmann, Kirchenrain 8, 5610 Wohlen

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 30. Mai 2001)

Sachverhalt:

A.
Der 1940 geborene P.________ war seit 1984 bei der H.________ AG,  als Maurer
tätig und über diese Arbeitgeberin bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfall und
Berufskrankheit versichert. Am 19. Juli 1990 erlitt er einen Arbeitsunfall,
bei dem er sich eine Ruptur der Quadrizeps-Sehne und eine partielle
Amputation der rechten zweiten Zehe zuzog. Die SUVA kam für die
Heilbehandlung auf und richtete Taggelder aus. Nach Abklärung der
medizinischen Situation sprach sie dem Versicherten mit Verfügung vom 13.
Oktober 1993 mit Wirkung ab 1. August 1992 eine Invalidenrente basierend auf
einer Erwerbsunfähigkeit von 25% sowie eine Integritätsentschädigung aufgrund
einer Integritätseinbusse von 5% zu. Nachdem der damalige Rechtsvertreter
dagegen Einsprache erhoben hatte, führten die Parteien
Vergleichsverhandlungen. Als deren Ergebnis hielt die SUVA mit Verfügung vom
7. September 1995 fest, die Rente werde auf 50% und die
Integritätsentschädigung auf 25% erhöht. Diese Verfügung erwuchs
unangefochten in Rechtskraft.

Am 31. März 1996 wurde P.________ erneut Opfer eines Unfalles, in dessen
Folge eine Unterschenkelamputation vorgenommen werden musste. Damit er die
Forderung gegenüber der Haftpflichtversicherung beziffern könne, ersuchte
sein derzeitiger Rechtsvertreter die SUVA mit Schreiben vom 7. August 1996 um
Einsicht in die Akten, welche zur Verfügung vom 7. September 1995 geführt
hätten. Am 15. September 1998 ersuchte dieser die SUVA alsdann unter Hinweis
auf das von ihm in Auftrag gegebene Gutachten des Orthopäden Dr. med.
W.________ von der Rehaklinik Y.________ vom 13. März 1998 um Abänderung der
Verfügung vom 7. September 1995. Nachdem es die SUVA mit Verfügung vom 6.
Oktober 1998 abgelehnt hatte, auf das Wiedererwägungsgesuch einzutreten,
teilte ihr der Rechtsvertreter des Versicherten mit, seine Eingabe sei als
Revisionsgesuch zu betrachten. Mit Verfügung vom 16. November 1998, bestätigt
mit Einspracheentscheid vom 27. Juli 1999, wies die SUVA das Revisionsgesuch
ab, weil keine neuen Tatsachen oder Beweismittel vorlägen, die zu einer
anderen rechtlichen Beurteilung zu führen vermöchten.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 30. Mai 2001 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt P.________ beantragen, entsprechend
der Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons Aargau vom 4. November 1994 sei
ihm bei einem Invaliditätsgrad von 100% eine volle Invalidenrente
zuzusprechen, und die Integritätsentschädigung sei auf 50% zu erhöhen;
"eventuell seien die Akten zur Beseitigung der Verfahrensmängel, zur Abnahme
weiterer Beweismittel und zu neuer Entscheidung zurück zu weisen".
Die SUVA beantragt, auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei nicht
einzutreten, eventuell sei diese abzuweisen; sodann sei eine angemessene
Ordnungsbusse auszufällen. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet
auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die SUVA hält dafür, auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei wegen
ungebührlicher Äusserungen und übermässiger Weitschweifigkeit nicht
einzutreten. Zudem sei in Anwendung von Art. 31 OG eine Ordnungsbusse
aufzuerlegen. Von einer Rückweisung der Beschwerdeschrift zur Verbesserung im
Sinne von Art. 30 Abs. 3 OG und der Auferlegung einer Busse kann in diesem
Fall jedoch abgesehen werden. Es besteht daher auch kein Anlass, aus den von
der SUVA geltend gemachten formellen Gründen auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht einzutreten.

2.
Die SUVA hat in Bestätigung der Verfügung vom 16. November 1998 mit
Einspracheentscheid vom 27. Juli 1999 das Gesuch des Beschwerdeführers um
prozessuale Revision der Verfügung vom 7. September 1995 abgewiesen. In Bezug
auf diesen Entscheid ist lediglich zu prüfen, ob sie es zu Recht abgelehnt
hat, die in formelle Rechtskraft erwachsene Verfügung vom 7. September 1995
in Revision zu ziehen. Auf den in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
gestellten Hauptantrag auf Zusprechung von gesetzlichen Leistungen ist daher
nicht einzutreten, da es mangels (rechtzeitig angefochtener) Verfügung
insoweit an einem Anfechtungsgegenstand und damit an einer
Sachurteilsvoraussetzung fehlt (BGE 125 V 414 Erw. 1a, 119 Ib 36 Erw. 1b, je
mit Hinweisen).

3.
Das in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde formulierte Eventualbegehren ist,
unter Mitberücksichtigung der Ausführungen in der Begründung der
Rechtsschrift, dahingehend zu verstehen, dass der Beschwerdeführer geltend
macht, die Voraussetzungen für die prozessuale Revision der Verfügung vom 7.
September 1995 seien erfüllt. Streitig ist demzufolge, ob SUVA und
Vor-instanz zu Recht das Vorliegen dieser Voraussetzungen verneint haben.

3.1 Nach der Rechtsprechung ist die Verwaltung verpflichtet, im Rahmen einer
so genannten prozessualen Revision auf eine formell rechtskräftige Verfügung
zurückzukommen, wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden,
die geeignet sind, zu einer anderen rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE
126 V 24 Erw. 4b, 46 Erw. 2b, je mit Hinweisen).

Das kantonale Gericht hat unter Hinweis auf die Rechtsprechung zu den
Begriffen der neuen Tatsache und des neuen Beweismittels (BGE 110 V 141 Erw.
2, 108 V 168 Erw. 2b und 171 Erw. 1) in einlässlicher Würdigung der
medizinischen Akten richtig festgestellt, dass das Gutachten des Dr. med.
W.________ vom 13. März 1998 mit Bezug auf das Ereignis vom 19. Juli 1990
keine neuen und vorbestandenen rechtserheblichen Tatsachen enthält, welche
eine abweichende Beurteilung der Unfallfolgen zuliessen. Der Vorinstanz ist
beizupflichten, dass die Voraussetzungen einer prozessualen Revision der auf
einer vergleichsweisen Einigung beruhenden und in Verfügungsform
festgehaltenen Leistungszusprechung - unabhängig von der
Verwirkungsproblematik (vgl. hiezu RKUV 1994 Nr. U 191 S. 145) - schon
deshalb nicht erfüllt sind, weil unter diesem Rückkommenstitel nur solche
Tatsachen erheblich sind, welche zur Zeit der rechtskräftigen
Verwaltungsverfügung bereits bestanden haben, jedoch unverschuldeterweise
unbekannt waren oder unbewiesen blieben (BGE 122 V 273 Erw. 4, 108 V 168) und
sich solche der nachträglich erstellten Expertise nicht entnehmen lassen. In
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden keine stichhaltigen Einwendungen
vorgebracht, die die vorinstanzliche Auffassung in diesem entscheidenden
Punkt als falsch erscheinen liessen. Die Vorbringen erschöpfen sich zudem in
weiten Teilen in Hinweisen auf die näheren Umstände im Zusammenhang mit dem
Zustandekommen der Verfügung vom 7. September 1995 und einer Kritik am
damaligen Rechtsvertreter.

3.2 Die Vorinstanz hat geprüft, ob die behauptete Tatsache, dass der
Vergleich ohne jegliches Wissen des Beschwerdeführers abgeschlossen worden
sei, einen Revisionsgrund darstelle. Sie verneinte dies, weil für den
derzeitigen Rechtsvertreter die genaueren Umstände, welche zur fraglichen
Verfügung geführt hatten, spätestens im Sommer 1996 erkennbar gewesen seien,
ohne dass er darauf innert vernünftiger Frist reagiert hätte. Hinzu komme,
dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass dem Beschwerdeführer ohne die
Vereinbarung höhere Leistungen zugesprochen worden wären. Diesbezüglich wird
auf die zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid verwiesen.
Beizufügen bleibt, dass fehlende Kenntnis des Vergleichsabschlusses seitens
des Beschwerdeführers von vornherein keine revisionsbegründende Tatsache
bildet. Sein damaliger Rechtsvertreter war ordnungsgemäss bevollmächtigt.
Soweit in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde unter Hinweis auf eine lediglich
in Kopie bei den Akten liegende Vollmacht versucht wird, dies in Zweifel zu
ziehen, sticht der Einwand nicht. Immerhin hat der Beschwerdeführer mit von
ihm unterzeichnetem Schreiben vom 30. Mai 1996 dem Vertreter das Mandat
ausdrücklich entzogen, was nicht notwendig gewesen wäre, wenn er ihn nicht
ebenfalls als rechtmässig bevollmächtigt betrachtet hätte. Dessen
prozessuales Handeln muss er sich anrechnen lassen (vgl. BGE 112 V 104 Erw.
3b). Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer nicht bestreitet, die gestützt
auf das Vergleichsergebnis und gemäss Verfügung vom 7. September 1995
zusätzlich zugesprochenen Leistungen tatsächlich überwiesen erhalten zu
haben. Bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit hätte er sich daher über Grund und
Berechtigung des Leistungsbezugs erkundigen müssen, wenn er über den
Vergleich und die gestützt darauf ergangene Verfügung nicht informiert
gewesen wäre. Demzufolge ist nicht weiter zu prüfen, ob die Verfügung
rechtmässig zugestellt worden ist. Mit dem untätigen Zuwarten ist eine
Anfechtung jedenfalls längst verwirkt. Auch wenn der damalige Rechtsvertreter
wegen beruflicher Delinquenzen verurteilt worden ist, bestehen bezogen auf
die streitige Verfügung nicht die geringsten Anhaltspunkte, dass sich
strafrechtlich relevantes Verhalten auf die Erledigung des Versicherungsfalls
ausgewirkt hätte. Es steht keineswegs fest, dass der Beschwerdeführer, hätte
er die Verfügung und damit den Vergleich angefochten, die von ihm nunmehr
gestützt auf das Gutachten des Dr. med. W.________ vom 13. März 1998 geltend
gemachten Leistungen zugesprochen erhalten hätte.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 1. Oktober 2002

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: