Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 195/2001
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U 195/01 Vr

                        II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter
Ursprung; Gerichtsschreiberin Fleischanderl

                  Urteil vom 6. Mai 2002

                         in Sachen

SWICA Versicherungen AG, Lagerhausstrasse 3, 8400 Winter-
thur, Beschwerdeführerin,
                           gegen

F.________, 1971, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechts-
anwalt Dr. Bruno Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,

                            und

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

     A.- Der 1971 geborene F.________ war seit 1. März 1999
als Küchengehilfe im Hotel X.________ angestellt, als er am
3. Juni 1999 während eines Motorbootausfluges auf dem Vor-
deck sitzend ins Wasser fiel und, durch die drehende
Schiffsschraube erfasst, schwere multiple Verletzungen am
Oberkörper, an den Armen, am Hals und im Gesicht, nament-
lich am linken Auge, erlitt. Die zuständige SWICA Ver-
sicherungen AG (nachfolgend: SWICA) anerkannte grundsätz-
lich ihre Leistungspflicht, kürzte jedoch nach Einsicht-
nahme in die Akten der gegen den Schiffsführer P.________

erhobenen Strafuntersuchung die Taggeldleistungen für die
Dauer von zwei Jahren wegen grobfahrlässiger Herbeiführung
des Unfalles um 20 % (Verfügung vom 28. Juli 1999). Daran
hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom
18. Oktober 1999).

     B.- Die von F.________ dagegen erhobene Beschwerde
hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern gut und hob
den angefochtenen Einspracheentscheid auf (Entscheid vom
24. April 2001).

     C.- Die SWICA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit
dem Rechtsbegehren, die Ziffern 1 (Gutheissung der Be-
schwerde und Aufhebung des Einspracheentscheides vom
18. Oktober 1999) sowie 3 (Zusprechung einer Parteient-
schädigung für das kantonale Verfahren an F.________ zu
Lasten der SWICA) des vorinstanzlichen Entscheides seien
aufzuheben.
     F.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungs-
gerichtsbeschwerde schliessen und um Gewährung der un-
entgeltlichen Verbeiständung ersuchen. Das kantonale
Gericht beantragt ebenfalls deren Abweisung, während das
Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- Die Vorinstanz hat die massgebende gesetzliche
Bestimmung über die Kürzung der Taggeldleistungen bei grob-
fahrlässig durch den Versicherten herbeigeführtem Unfall
(Art. 37 Abs. 2 UVG in der seit 1. Januar 1999 in Kraft
stehenden, vorliegend anwendbaren Fassung) sowie die Recht-
sprechung zum Begriff der Grobfahrlässigkeit (BGE 121 V 45
Erw. 3b mit Hinweisen; Rumo-Jungo, Die Leistungskürzung
oder -verweigerung gemäss Art. 37-39 UVG, Diss. Freiburg
1993, S. 85 f., S. 99 und S. 136 ff. mit Hinweisen) richtig

wiedergegeben. Zutreffend dargelegt wurde namentlich, dass
die Fahrlässigkeit aus einer objektiven und subjektiven,
nach ihrer Schwere graduell abzustufenden Verschuldens-
komponente besteht, wobei sich der Grad der Fahrlässigkeit
primär nach dem Grad des subjektiven Verschuldens beurteilt
(Rumo-Jungo, a.a.O., S. 136). Darauf ist zu verweisen. Zu
verdeutlichen bleibt, dass das Verhalten, um - durch Ver-
letzung elementarster Vorsichtsgebote - Rechtsnachteile zu
gewärtigen, Unverständnis, Kopfschütteln und Tadel aus-
lösen, eine moralische Verurteilung nach sich ziehen und
die Grenze des Tolerierbaren überschreiten muss (Riemer-
Kafka, Die Pflicht zur Selbstverantwortung, Habilitations-
schrift Freiburg 1999, S. 131).

     2.- Gemäss Polizeirapport vom 4. Juli 1999 kann davon
ausgegangen werden, dass der Schwager des Beschwerde-
gegners, P.________, am Unfalltag bei sonnigem Wetter und
günstigen Windverhältnissen mit seinem Motorboot von
Y.________ her kommend in Richtung Z.________ fuhr, wobei
die Geschwindigkeit gemäss Angaben des Schiffführers ca.
43 km/h betrug. Der Beschwerdegegner sass, die Beine je-
weils links und rechts über die Bordwand hängen lassend,
seit einem kleinen Zwischenhalt in Y.________ auf dem weder
mit einer Reling noch einem Bugkorb bestückten Vordeck des
Bootes. Auf der Höhe Q.________, etwa 210 m vom Ufer
entfernt, kreuzte P.________ mit unverminderter Geschwin-
digkeit von einem Kursschiff herrührende Bugwellen, wodurch
das Motorboot durch eine erste Welle angehoben wurde und
trotz sofort eingeleitetem Bremsmanöver heftig auf eine
nachfolgende Welle aufschlug. Durch den Aufprall stürzte
der Beschwerdegegner über die steuerbordseitige Bordwand in
den See, geriet unter das Motorboot und wurde von der noch
drehenden Schiffsschraube erfasst, wodurch er schwere Ver-
letzungen erlitt.

     3.- a) Wie das kantonale Gericht zutreffend erkannt
hat, sind, um zu beurteilen, ob das Verhalten des Be-

schwerdegegners als grobfahrlässig im Sinne des Art. 37
Abs. 2 UVG sowie der darauf gründenden Rechtsprechung und
Literatur einzustufen ist, die verschiedenen Argumente, die
für oder gegen eine Grobfahrlässigkeit sprechen, gewissen-
haft gegeneinander abzuwägen. Zu beachten ist hierbei, dass
sich die im Einzelfall gebotene Sorgfalt nach objektiven
Kriterien bemisst, die sich entweder geschriebenen Normen
und Satzungen oder einem von der Praxis entwickelten objek-
tivierten Massstab des Handelns entnehmen lassen. Gemäss
diesem ist von einem hypothetischen Menschenbild auszuge-
hen, wobei das Handeln des Schädigers mit dem eines durch-
schnittlich sorgfältigen vernünftigen Menschen in der
gleichen Situation und unter den gleichen Gegebenheiten
verglichen wird. Existiert keine Verhaltenspflicht durch
objektives Recht, so kann aber nur dann von Grobfahrlässig-
keit gesprochen werden, wenn das erwartete Verhalten von
einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen ist (RKUV
1994 Nr. U 198 S. 220; Riemer-Kafka, a.a.O., S. 105 mit
weiteren Hinweisen auf Judikatur und Lehre).

     b) Unbestrittenermassen bestehen keine gesetzlichen
Vorschriften, die es einer Person verbieten würden, auf dem
- gesicherten oder ungesicherten - Vordeck eines fahrenden
Motorbootes zu sitzen. Im angefochtenen Entscheid wird
ferner ausgeführt, dass ein entsprechendes Verhalten an
schönen Tagen auf Schweizer Seen gebräuchlich sein dürfte,
weshalb nicht von einem "breiten gesellschaftlichen Kon-
sens" gesprochen werden könne, welcher derartige Vorkomm-
nisse als sehr gefährlich und demnach als gemeinhin zu
unterlassen bewerte. Dieser Beurteilung ist nur bedingt
beizupflichten, trifft sie in ihrem allgemeinen Aussage-
gehalt doch wohl nur für sich nicht oder nur sehr langsam
fortbewegende Boote zu. Vorliegend fuhr das Motorschiff
indes nachweislich mit einer erhöhten, den äusseren Gege-
benheiten nicht angepassten Geschwindigkeit von 43 km/h
(vgl. Strafverfügung des Amtsstatthalteramtes). Überdies
existieren auf dem Schiffsbug offensichtlich weder eine

Sitzgelegenheit noch genügende Haltevorrichtungen (Reling,
Bugkorb, Haltegriffe), welche es dem Beschwerdegegner
erlaubt hätten, sich auch bei schnellerer Fahrt sicher auf
dem - zweifellos nassen und glitschigen - Bug aufhalten zu
können. Die nach dem Unfall das Boot wie auch dessen Fahr-
eigenschaften überprüfende Wasserpolizei kam samt Schiffs-
experten denn auch protokollarisch zum Schluss, der Auf-
enthalt auf dem Vordeck des Schiffes sei während der Fahrt
als sehr gefährlich einzustufen. Das Verhalten des Ver-
sicherten stellt angesichts der konkreten Umstände somit
eine Verletzung elementarer Vorsichtsregeln dar.

     4.- a) Zu prüfen bleibt, ob den Beschwerdegegner auch
in subjektiver Hinsicht ein Verschulden trifft bzw. ihm
sein - objektiv grobfahrlässiges - Verhalten vorzuwerfen
ist. Dies ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz aus
folgenden Gründen zu bejahen:

     aa) Der Beschwerdegegner verfügte über keinerlei Er-
fahrung im Umgang mit Motorbooten und nahm am Unfalltag zum
ersten Mal an einem Ausflug mit seinem Schwager teil.
Gerade weil er aber infolge seiner Unkenntnis nicht in der
Lage war, mögliche Gefahren richtig vorauszusehen und ein-
zuschätzen, hätte er besondere Vorsicht walten lassen
müssen. Angesichts des durch die rasante Fahrt zusehends
offenkundig instabil gewordenen Aufenthalts auf dem Vordeck
des Schiffes musste auch ihm als nautischem Laien die damit
verbundene Selbstgefährdung in Form eines Sturzes und da-
durch - trotz guter Schwimmkenntnisse - verursachten Ver-
letzungen ohne weiteres erkennbar sein. Der Umstand, dass
der Beschwerdegegner weder über Detailwissen hinsichtlich
der Konsequenzen des Kreuzens von durch grössere Schiffe
hervorgerufenen Bugwellen bei ungedrosselter Geschwindig-
keit verfügte, noch sich allenfalls der Sogwirkung einer
rotierenden Schiffsschraube bewusst war, ändert daran
nichts. Dies gilt umso mehr, als auf Grund der Akten davon

auszugehen ist, dass der Versicherte während des Bootsaus-
flugs schon vor dem Unfall Gelegenheit hatte, die mit sei-
ner Sitzposition verbundene Gefahr zu erfahren und danach
zu handeln, indem er sich aus dem Gefahrenbereich entfernt
hätte. Wie insbesondere der polizeilich festgehaltenen Aus-
sage des Beschwerdegegners vom 28. Juni 1999 zu entnehmen
ist, sass dieser bereits vor dem in Y.________ vorge-
nommenen Zwischenhalt auf dem Vordeck des Schiffes. Da
nicht anzunehmen ist, dass erst nach dieser Pause in be-
schleunigtem Tempo gefahren wurde, hätte er anlässlich des
Zwischenstopps ausreichend Zeit und Gelegenheit gehabt,
seinen - auch ohne Überquerung von Wellen - gefährlichen
Sitzplatz aufzugeben.
     Da das Verhalten des im Unfallzeitpunkt immerhin schon
28 Jahre zählenden Versicherten, der eine normale Schul-
bildung genossen hat und geistig sowie körperlich voll-
kommen gesund ist, nicht jugendlichem Leichtsinn zuge-
schrieben werden kann und auch keine weiteren möglichen
subjektiven Entlastungsgründe (vgl. hierzu Riemer-Kafka,
a.a.O., S. 124 ff., S. 340) auszumachen sind - das Mit-
verschulden eines Dritten, hier des Bootsführers (vgl.
Erw. 4a/bb hienach), stellt keinen Schuldmilderungsgrund
dar (Riemer-Kafka, a.a.O., S. 129) -, ist neben der ob-
jektiven auch die subjektive Verschuldenskomponente zu be-
jahen.

     bb) Unstreitig ist ferner, dass der Bootsführer,
welcher für die Sicherheit an Bord verantwortlich war und
den Beschwerdegegner entgegen den geltenden Vorschriften
hat gewähren lassen, in erheblichem Masse mitverantwortlich
für den Unfall und dessen Folgen zeichnet. Mit Straf-
verfügung des Amtsstatthalteramtes vom 28. September 1999
wurde P.________ denn auch u.a. des Unterlassens der
allgemeinen Sorgfaltspflichten als Schiffsführer für
schuldig befunden. Indessen ist das Mitverschulden eines
Dritten grundsätzlich nur zu berücksichtigen, wenn es aus-
nahmsweise derart intensiv ist, dass dadurch der ursäch-

liche Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Versicherten
und dem Unfall nicht mehr adäquat, d.h. erheblich erscheint
und damit als unterbrochen gilt (Urteil K. vom 20. Februar
2002, U 186/01; SZS 1986 S. 251 Erw. 3c; Rumo-Jungo,
a.a.O., S. 202 mit weiteren Hinweisen; Riemer-Kafka,
a.a.O., S. 332). Hievon kann vorliegend jedoch nicht die
Rede sein, hat der Schwager den Sitzplatz doch nicht aus-
drücklich zugewiesen, sondern das Verhalten des Beschwerde-
gegners bloss stillschweigend hingenommen bzw. diesen
glaublich sogar - wenn auch erst unmittelbar vor dem Unfall
und damit zu spät - gewarnt.

     b) Das Verhalten des Beschwerdegegners ist nach dem
Gesagten als grobfahrlässig einzustufen, weshalb es finan-
zielle Einbussen nach sich zieht (BGE 121 V 45; Rumo-Jungo,
a.a.O., S. 137 in fine; Riemer-Kafka, a.a.O., S. 130 f.).
Der durch die Beschwerdeführerin vorgenommene Kürzungssatz
von 20 % ist in Anbetracht der konkreten Umstände nicht zu
beanstanden und trägt den Verhältnissen angemessen Rech-
nung.

     5.- Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungs-
leistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichts-
kosten zu erheben. Die unentgeltliche Verbeiständung kann
gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da
die Bedürftigkeit aktenkundig ist und die Vertretung ge-
boten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit
Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152
Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei
der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu im Stande ist.

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wer-
     den Ziff. 1 und 3 des Entscheides des Verwaltungsge-
     richts des Kantons Luzern vom 24. April 2001 auf-
     gehoben.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung
     wird Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, Luzern, für das
     Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
     eine Entschädigung (einschliesslich Mehrwertsteuer)
     von Fr. 2500.- ausgerichtet.

 IV. Die Akten werden dem Verwaltungsgericht des Kantons
     Luzern zugestellt, damit es über das Gesuch um unent-
     geltliche Verbeiständung für das kantonale Verfahren
     entscheide.

  V. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsge-
     richt des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtli-
     che Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversiche-
     rung zugestellt.

Luzern, 6. Mai 2002

                    Im Namen des
         Eidgenössischen Versicherungsgerichts
             Der Präsident der II. Kammer:

               Die Gerichtsschreiberin: