Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 172/2001
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U 172/01

Urteil vom 13. März 2003
II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Renggli

K.________, 1937, Deutschland, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokatin
Gertrud Baud, Rümelinsplatz 14, 4001 Basel,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt

(Entscheid vom 24. Januar 2001)

Sachverhalt:

A.
K. ________, geboren 1937, arbeitete von 1960 bis Ende 1984 als
Prüffeldingenieur bei der Firma H.________ AG und war obligatorisch gegen die
Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten
versichert. Seit 1986 bezieht er aufgrund einer 100%igen Erwerbsunfähigkeit
Invalidenrenten der AHV/IV und der Berufsvorsorgeeinrichtung.

Am 30. Januar 1995 teilte die Krankenkasse X.________ (Deutschland), der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) mit, aufgrund eines
ärztlichen Gutachtens bestehe der Verdacht, dass K.________ durch beruflich
bedingten Kontakt mit toxischen Stoffen (Lösungsmittel) in seiner Gesundheit
beeinträchtigt sei. Die SUVA veranlasste daraufhin ärztliche Untersuchungen,
Befragungen des Versicherten und Abklärungen bei der H.________ AG sowie
anderen ehemaligen Arbeitgebern. Mit Verfügung vom 16. Juni 1995 verneinte
die SUVA das Vorliegen einer Berufskrankheit. Die daraufhin erhobene
Einsprache wurde mit Einspracheentscheid vom 31. Juli 1995 abgewiesen.

B.
Dagegen liess K.________ beim Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt
(ab 1. April 2002 Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt) Beschwerde führen,
welche mit Entscheid vom 24. Januar 2001 abgewiesen wurde.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt K.________ beantragen, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben, seine Gesundheitsbeeinträchtigungen
seien als Berufskrankheit anzuerkennen und die Sache sei zur Festsetzung der
Leistungen an die SUVA zurückzuweisen. Eventualiter wird die Anordnung
zusätzlicher ärztlicher Abklärungen und subeventualiter die Zurückweisung an
die Vorinstanz zur Einholung weiterer medizinischer Informationen beantragt.

Während die SUVA auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die streitige Verwaltungsverfügung wurde vor Inkrafttreten (1. Juni 2002)
des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren
Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit erlassen. Dieses
Abkommen, insbesondere dessen Anhang II, der die Koordinierung der Systeme
der sozialen Sicherheit regelt, muss demnach im vorliegenden Verfahren
unberücksichtigt bleiben (zur Publikation in der Amtlichen Sammlung
vorgesehenes Urteil S. vom 9. August 2002, C 357/01, Erw. 1).

1.2 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Unfallversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids
eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im
vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen
anwendbar.

1.3 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die Berufskrankheiten
(Art. 9 UVG; Art. 14 UVV; Anhang 1 zur UVV) und die dazu ergangene
Rechtsprechung (BGE 117 V 354 Erw. 2 mit Hinweisen, vgl. auch BGE 126 V 186
Erw. 2b mit Hinweisen, SVR 2000 UV Nr. 22 S. 75 Erw. 1 mit Hinweisen) richtig
dargelegt, sodass diesbezüglich auf dessen Entscheid verwiesen werden kann.

2.
2.1 Streitig ist, ob die Gesundheitsprobleme des Beschwerdeführers als
Berufskrankheit gemäss Art. 9 Abs. 2 UVG (Generalklausel) zu werten sind. Der
Vorinstanz ist darin zuzustimmen, dass eine Anwendung von Art. 9 Abs. 1 UVG,
welcher Krankheiten erfasst, die bei der beruflichen Tätigkeit
ausschliesslich oder vorwiegend durch schädigende Stoffe oder bestimmte
Arbeiten verursacht worden sind, nicht in Betracht kommt, nachdem der
Beschwerdeführer keine beruflich bedingten Kontakte mit Stoffen hatte, die in
der vom Bundesrat in Wahrnehmung der ihm in Art. 9 Abs. 1 UVG eingeräumten
Kompetenz erstellten Liste enthalten sind. Eine Belastung mit Quecksilber -
einem in der Liste figurierenden Stoff - wird in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht mehr geltend gemacht. Bezüglich des
Umgangs mit Toluol ist, wie von der Vorinstanz zutreffend ausgeführt, auf die
Aussagen des Zeugen R.________ abzustellen, welcher vor derselben ausgeführt
hat, dass der Beschwerdeführer diesem Stoff nicht ausgesetzt war.

Zu beurteilen ist demnach die Frage, ob die beim Versicherten festgestellten
Krankheiten ausschliesslich oder stark überwiegend durch die berufliche
Tätigkeit verursacht worden sind. Gemäss der Rechtsprechung (Erw. 1.3) ist
die Voraussetzung des "ausschliesslichen oder stark überwiegenden"
Zusammenhanges gemäss Art. 9 Abs. 2 UVG erfüllt, wenn die Krankheit
mindestens zu 75 % auf die berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist.

2.2 Die Vorinstanz hat zur Klärung dieser Frage durch Dr. med. L.________,
Institut für Hygiene und Arbeitsphysiologie, ein Gutachten erstellen lassen.
Dieses wurde am 9. Februar 2000 abgeliefert. Dr. L.________ gibt in seinen
Schlussbemerkungen an, es bestehe eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür,
dass die Krankheiten des Exploranden berufsbedingt seien (Gutachten S. 82).
Dennoch ist die Vorinstanz zum Schluss gekommen, der Zusammenhang zwischen
dem Gesundheitszustand des Beschwerdeführers und seiner beruflichen Tätigkeit
sei nicht rechtsgenüglich nachgewiesen.

Bei Gerichtsgutachten weicht das Gericht nach der Praxis nicht ohne zwingende
Gründe von der Einschätzung der medizinischen Fachleute ab, deren Aufgabe es
ist, ihre Fachkenntnisse der Gerichtsbarkeit zur Verfügung zu stellen, um
einen bestimmten Sachverhalt medizinisch zu erfassen. Ein Grund zum Abweichen
kann vorliegen, wenn die Gerichtsexpertise widersprüchlich ist oder wenn ein
vom Gericht eingeholtes Obergutachten in überzeugender Weise zu andern
Schlussfolgerungen gelangt. Abweichende Beurteilung kann ferner
gerechtfertigt sein, wenn gegensätzliche Meinungsäusserungen anderer
Fachleute dem Gericht als triftig genug erscheinen, die Schlüssigkeit des
Gerichtsgutachtens in Frage zu stellen, sei es, dass es die Überprüfung durch
eine weitere Fachperson im Rahmen einer Oberexpertise für angezeigt hält, sei
es, dass es ohne eine solche vom Ergebnis des Gerichtsgutachtens abweichende
Schlussfolgerungen zieht (BGE 125 V 352 Erw. 3b/aa mit Hinweisen).

Das Gutachten L.________ leidet unter diversen Mängeln. Eine genaue Diagnose
nach ICD fehlt. Zudem wird nicht genügend zwischen Feststellungen Dritter und
eigenen Angaben unterschieden. Inhaltlich fällt eine wiederholte
Relativierung gemachter Angaben und gezogener Schlussfolgerungen auf. So wird
auf Seite 44 des Gutachtens gesagt, der Explorand sei am Arbeitsplatz
Lösungsmitteln und Quecksilber ausgesetzt gewesen, was bezüglich des
Quecksilbers auf Seite 69 stark relativiert wird, indem erklärt wird, er habe
wahrscheinlich weder Quecksilberdämpfe eingeatmet noch Quecksilber durch die
Haut aufgenommen. Besonders ins Gewicht fallen die widersprüchlichen Aussagen
zum Zusammenhang zwischen den festgestellten gesundheitlichen
Beeinträchtigungen und der Arbeitstätigkeit. Bezüglich einer zentralnervösen
Schädigung und einer Polyneuropathie werden die vorliegenden Symptome als mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit mit einer toxischen Einwirkung vereinbar
erachtet; die Symptomatiken werden beide als unspezifisch und für eine
toxische Verursachung nicht beweisend bewertet (Gutachten Seiten 72 und 73).
Trotzdem wird wenige Seiten später behauptet, das heutige Krankheitsbild sei
fast zu 100 % durch die berufliche Schadstoffexposition bedingt (Seite 78).
In den abschliessenden Bemerkungen wiederum wird darauf hingewiesen, dass die
Fakten nur unvollständig bekannt seien, die Beurteilung daher auf unsicheren
Voraussetzungen beruhe und ein Irrtum nicht ausgeschlossen werden könne.
Wörtlich wird hinzugefügt: "Die Aussage ist also unsicher." (Seite 81) Auf
der nächsten Seite wird dennoch eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der
Berufsbedingtheit der Erkrankung postuliert - nicht ohne erneuten Hinweis auf
die Unsicherheit der Daten.

Der Experte setzte sich auch mit Fachfragen auseinander, für deren
Beurteilung ihm die fachliche Kompetenz fehlt. So wird die psychiatrische
Diagnose einer anankastischen Persönlichkeit mit fixierter neurotischer
Entwicklung auf Seite 55 des Gutachtens stark in Frage gestellt, obwohl sie
von Fachärzten gestellt worden ist, und der Gutachter selbst nicht über eine
entsprechende Ausbildung verfügt.

Die Schlussfolgerungen des Gutachters sind nicht plausibel. Sie sind zunächst
einmal schwer fassbar, da in sich widersprüchlich. Sie stehen weiter im
Widerspruch zur Beurteilung durch die Dres. med. S.________ und U.________
von der Neurologischen Poliklinik des Spitals Y.________ vom 26. April 1999,
welche einen Zusammenhang zwischen der Polyneuropathie und toxischen
Einwirkungen als nicht wahrscheinlich erachteten. Dieser Widerspruch ist
nicht bearbeitet worden. Unerklärt bleiben auch die Progredienz der Symptome
des Versicherten nach dem Ende der beruflichen Tätigkeit und damit der
Schadstoffexposition und das Fehlen einer zeitliche Korrelation zwischen
Schadstoffexposition und Symptomintensität während der Berufstätigkeit.

2.3 Bei dieser Sachlage stellt sich die Frage, ob, den Eventualanträgen
entsprechend, weitere medizinische (und eventuell auch die berufliche
Tätigkeit betreffende) Abklärungen anzuordnen seien. Auf eine solche
Erweiterung des Beweisverfahrens ist zu verzichten, weil wesentliche Faktoren
einer Abklärung nicht mehr zugänglich sind: Der damalige Arbeitsplatz des
Beschwerdeführers besteht nicht mehr und die ehemaligen Mitarbeiter und
Materiallieferanten sind kaum mehr eruierbar. Allfälligen doch noch
erhältlichen Zeugenaussagen käme infolge des Zeitablaufs nur noch eine
beschränkte Beweiskraft zu. Eine nachträgliche Exploration des psychischen
Zustandes des Versicherten in den Jahren 1960 bis 1984 ist praktisch
unmöglich. Da die erhofften Klärungen nicht mehr herbeigeführt werden können,
kann auf die beantragten zusätzlichen Untersuchungen verzichtet werden
(antizipierte Beweiswürdigung: SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b mit Hinweisen
auf BGE 124 V 94 Erw. 4b und 122 V 162 Erw. d).

2.4 Damit muss es bei der vorinstanzlichen Feststellung bleiben, dass ein
allfälliger Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit und der
Erkrankung des Beschwerdeführers nicht rechtsgenüglich nachgewiesen und eine
Leistungspflicht der SUVA nicht dargetan ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht  Basel-Stadt
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 13. März 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: