Sozialrechtliche Abteilungen U 160/2001
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U 160/01 Gb II. Kammer Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiberin Fleischanderl Urteil vom 23. April 2002 in Sachen Schweizerische National-Versicherungs-Gesellschaft, Stei- nengraben 41, 4003 Basel, Beschwerdeführerin, gegen P.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat Dominik Zehntner, Spalenberg 20, 4051 Basel, und Obergericht des Kantons Schaffhausen, Schaffhausen A.- Der 1943 geborene P.________ arbeitete seit 1969 als Trompetensolist des Orchesters X.________ und seit 1975 zusätzlich als Lehrer an der Musik-Akademie der Stadt Y.________. Über seine Arbeitgeberin, die Stiftung Z.________, war er bei der Schweizerischen National-Versi- cherungs-Gesellschaft (nachfolgend: National-Versicherung) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufs- unfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Mit ärztlichem Zeugnis vom 16. Juni 1994 diagnosti- zierte Dr. med. R.________, Spezialarzt für Neurochirurgie und Neurologie FMH, eine muskuläre Oberlippendystonie und attestierte P.________ vollständige Arbeitsunfähigkeit in seiner beruflichen Tätigkeit als Solotrompeter seit Novem- ber 1993. Nach weiteren ärztlichen Abklärungen, namentlich den Berichten des Dr. med. M.________, Spezialarzt für Neu- rologie FMH, Neurologie-Zentrum A.________, vom 4. Juli 1994, des Dr. med. R.________ vom 18. Januar 1995 sowie des Dr. med. V.________, Spezialarzt für Psychiatrie und Psy- chotherapie FMH, vom 26. Januar 1995, ersuchte die Amtsärz- tin des Gesundheitsamtes C.________ die National-Versiche- rung mit Schreiben vom 3. März 1995 unter Hinweis auf den Befund einer fokalen Dystonie im Bereich der rechten Ober- lippe ("Musikerkrampf") um Ausrichtung von Leistungen an den Versicherten. Die National-Versicherung holte in der Folge Stellungnahmen des Dr. med. B.________, Spezialarzt für Chirurgie FMH, speziell Handchirurgie, Medizinischer Dienst, Schweizerische Vereinigung privater Kranken- und Unfallversicherer, vom 23. März und 1. Juni 1995 sowie des Dr. med. V.________ vom 24. April 1995 ein. Gestützt darauf teilte sie P.________ am 25. Juli 1995 verfügungsweise mit, eine Leistungspflicht entfalle, da keine Berufskrankheit vorliege. An diesem Standpunkt hielt sie auf Einsprache hin auch nach Beizug von Berichten des Dr. med. M.________ vom 23. Januar 1996 und des Dr. med. B.________ vom 1. Juli 1998 sowie von Gutachten des Zahnarztes Dr. L.________ vom 22. Oktober 1997 und des Dr. med. D.________, Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 11. März 1998 mit Einspracheentscheid vom 13. Juli 1998 fest. Nachdem das Obergericht des Kantons Schaffhausen eine dagegen erhobene Beschwerde unter Aufhebung des angefochte- nen Einspracheentscheides teilweise gutgeheissen und die Sache zur weiteren Abklärungen sowie Neuentscheidung an die National-Versicherung zurückgewiesen hatte (Entscheid vom 16. April 1999), veranlasste diese ein Gutachten des Prof. Dr. med. E.________, Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin, vom 17. November 1999. Unter Berufung auf die gutachtlichen Schlussfolgerungen verneinte sie in der Folge mit Verfügung vom 10. Februar 2000, bestätigt durch Einspracheentscheid vom 17. August 2000, einen qualifizier- ten Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Dystonie und der beruflichen Musikertätigkeit. B.- Die hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Obergericht des Kantons Schaffhausen gut, hob den Einspra- cheentscheid vom 17. August 2000 auf und wies die Sache an die National-Versicherung zurück, damit sie P.________ die ihm zufolge Berufskrankheit zustehenden Versicherungsleis- tungen zuspreche (Entscheid vom 20. April 2001). C.- Die National-Versicherung führt Verwaltungsge- richtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche Ent- scheid sei aufzuheben. Während P.________ auf Abweisung der Verwaltungsge- richtsbeschwerde schliessen lässt, verzichten das Bundesamt für Sozialversicherung und der als Mitinteressierter beige- ladene Krankenversicherer, die Concordia Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung, auf eine Vernehmlassung. Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 1.- a) Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner weder an den Folgen eines versicherten Unfalles (Art. 6 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 UVV) noch an einer unfallähnlichen Körperschädigung (Art. 6 Abs. 2 UVG in Verbindung mit 9 Abs. 2 UVV) oder an einer Berufskrankheit gemäss Art. 9 Abs. 1 UVG in Verbindung mit dem Anhang 1 zur UVV leidet. In Betracht fällt als An- spruchsgrundlage einzig Art. 9 Abs. 2 UVG, wonach als Be- rufskrankheiten auch andere Krankheiten gelten, von denen nachgewiesen wird, dass sie ausschliesslich oder stark überwiegend durch berufliche Tätigkeit verursacht worden sind. b) Wie das kantonale Gericht richtig dargelegt hat, ist die Voraussetzung des ausschliesslichen oder stark überwiegenden Zusammenhanges gemäss Art. 9 Abs. 2 UVG nach ständiger Rechtsprechung erfüllt, wenn die Berufskrankheit mindestens zu 75 % durch die berufliche Tätigkeit verur- sacht worden ist (BGE 126 V 186 Erw. 2b mit Hinweis auf BGE 114 V 109). Die Anerkennung von Beschwerden im Rahmen die- ser von der Rechtsprechung als "Generalklausel" bezeichne- ten Anspruchsgrundlage ist an relativ strenge Beweisanfor- derungen gebunden. Sofern der Nachweis eines qualifizierten (zumindest stark überwiegenden [Anteil von mindestens 75 %]) Kausalzusammenhanges nach der medizinischen Empirie allgemein nicht geleistet werden kann (z.B. wegen der wei- ten Verbreitung einer Krankheit in der Bevölkerung, welche es ausschliesst, dass eine eine bestimmte versicherte Be- rufstätigkeit ausübende Person zumindest vier Mal häufiger von einem Leiden betroffen ist als die Bevölkerung im Durchschnitt), scheidet die Anerkennung im Einzelfall aus (BGE 126 V 186 Erw. 2b, 190 Erw. 4c, je mit Hinweisen). Verlangt wird, dass der Versicherte für eine gewisse Dauer einem typischen Berufsrisiko ausgesetzt ist (BGE 126 V 186 Erw. 2b mit Hinweis), wobei für die Beurteilung der Exposi- tion (oder Arbeitsdauer) die gesamte, gegebenenfalls auch die schon vor dem 1. Januar 1984 (Inkrafttreten des UVG) ausgeübte Berufstätigkeit zu berücksichtigen ist (BGE 119 V 200). 2.- a) Der Beschwerdegegner ist mehrfach medizinisch umfassend untersucht worden, wobei die Diagnose der betei- ligten Ärzte, namentlich der neurologischen Fachexperten, von Anfang an übereinstimmend auf einen so genannten "Musi- kerkrampf", d.h. auf eine beschäftigungsabhängige Muskel- dystonie im rechten Oberlippenbereich lautete (vgl. ärztli- ches Zeugnis des Dr. med. R.________ vom 16. Juni 1994; Be- richte des Dr. med. M.________ vom 4. Juli 1994 und 23. Ja- nuar 1996, des Dr. med. R.________ vom 18. Januar 1995, der Amtsärztin des Gesundheitsamtes C.________ vom 3. März 1995 und des Dr. med. V.________ vom 24. April 1995; Gutachten des Dr. L.________ vom 22. Oktober 1997). b) In seinem von der Beschwerdeführerin veranlassten Gutachten vom 17. November 1999, welchem - mit Ausnahme ge- wisser Schlussfolgerungen (vgl. Erw. 3b hienach) - voller Beweiswert zukommt, da es alle rechtsprechungsgemässen Kri- terien für beweiskräftige ärztliche Entscheidungsgrundlagen erfüllt (BGE 125 V 352 Erw. 3 mit Hinweisen), diagnosti- zierte Prof. Dr. med. E.________ im Einklang mit den Vor- akten eine tätigkeitsspezifische fokale Dystonie (sog. An- satzdystonie) bei Berufstrompeter. Eine psychische Ursäch- lichkeit des Leidens wie auch das Bestehen eines krankhaf- ten Vorzustandes, der eine psychische Fehlentwicklung be- wirkt oder zumindest begünstigt hätte, schloss der Fachspe- zialist - im Gegensatz zu den vorhergehenden Einschätzungen durch die Dres. med. V.________ (Berichte vom 26. Januar und 24. April 1995), B.________ (Berichte vom 23. März und 1. Juni 1995 sowie 1. Juli 1998) und D.________ (Gutachten vom 11. März 1998) - aus. Diese Beurteilung, der auch die National-Versicherung im Rahmen des zweiten Verwaltungs- und Einspracheverfahrens (Verfügung vom 10. Februar 2000; Einspracheentscheid vom 17. August 2000) nicht mehr oppo- nierte, erscheint insbesondere mit Blick darauf überzeugend und nachvollziehbar, dass ihr u.a. eine eingehende psycho- logische bzw. psychiatrische Untersuchung des Beschwerde- gegners zu Grunde liegt. Prof. Dr. med. E.________ hat die Kausalität zwischen der beruflichen Tätigkeit des Versi- cherten als Berufstrompeter und dessen Erkrankung, nament- lich auch in Bezug auf die Ausweitung der gestörten Bewe- gungsprogramme zur unwillkürlichen Tonisierung und zur fokalen Tremoraktivität der Gesichtsmuskulatur, vor dem Hintergrund der ständigen beruflichen Belastung über Jahr- zehnte sowie auf Grund des Umstands bejaht, dass in der "sonstigen", das Trompetenspiel nicht professionell aus- übenden Bevölkerung keine derartigen Lippendystonien exis- tierten. 3.- a) Wie die Vorinstanz in sorgfältiger und korrek- ter Würdigung des Gutachtens des Prof. Dr. med. E.________ erkannt hat, ist in Nachachtung der in Erw. 1b hievor ge- nannten materiell- und beweisrechtlichen Anforderungen vor- liegend entscheidwesentlich, dass die fragliche Krankheit zum einen ausschliesslich in der Berufsgruppe des Beschwer- degegners vorkommt - und damit weit mehr als viermal häufi- ger auftritt als in der Bevölkerung im Allgemeinen - und dieser zum anderen während längerer Arbeitsdauer einer be- sonderen beruflichen Belastung mit spezifischer Auswirkung auf die betroffene Ansatzmuskulatur ausgesetzt war. Hieraus erhellt, dass die diagnostizierte tätigkeitsspezifische fokale Dystonie zumindest stark überwiegend durch die be- rufliche Tätigkeit verursacht worden ist und, da der Nach- weis eines im Sinne der Rechtsprechung qualifizierten Kau- salzusammenhanges erbracht ist, eine Berufskrankheit nach Art. 9 Abs. 2 UVG darstellt. b) Nicht beigepflichtet kann dem Gutachter insoweit, als er schlussfolgernd die Auffassung vertritt, angesichts der Tatsache, dass die Krankheit auch unter Berufstrompe- tern nur selten auftrete, müsse als massgebliche Mitursache eine bislang unbekannte schicksalsbedingte, im Organismus des Beschwerdegegners begründete Voraussetzung und somit ein durch die Forschung noch näher zu definierender persön- licher Risikofaktor angesehen werden, weshalb die berufli- che Verursachung in diesem Zusammenhang als unter 50 % an- zunehmen bzw. die Auslösung der Krankheit letztlich über- wiegend anlagebedingt sei. Wie im angefochtenen Entscheid zutreffend ausgeführt wurde, sind zum einen Art und spezifische Bedeutung des le- diglich vermuteten - anlagebedingten - persönlichen Risiko- faktors nicht bekannt; die berufliche Tätigkeit stellt den einzig konkret bekannten und mithin ursächlichen Faktor für das Leiden dar. Ferner sind auch innerhalb einer berufli- chen Risikogruppe nicht regelmässig alle Personen von einem bestimmten Leiden betroffen. Deren Anzahl variiert vielmehr in starkem Ausmass und kann deshalb letztlich nicht aus- schlaggebend für die Qualifikation als Berufskrankheit sein. Überdies beschäftigt vorliegend nicht primär die Fra- ge nach dem exakten Anteil der Betroffenen innerhalb der Risikogruppe, sondern ist in erster Linie relevant, ob die vom Beschwerdegegner geklagte gesundheitliche Beeinträchti- gung ausschliesslich oder stark überwiegend durch die be- rufliche Tätigkeit verursacht worden ist. Dies trifft ohne weiteres zu, wenn das Leiden - wie Prof. Dr. med. E.________ für das hier zu beurteilende Beschwerdebild glaubhaft darlegt - ausserhalb einer Berufsgruppe gar nicht auftritt. Der Kausalzusammenhang zwischen beruflicher Tä- tigkeit und Beschwerden ist vorliegend denn auch evident: Der Versicherte spielte seit seinem fünften Lebensjahr Trompete. Das muskuläre Leiden trat im Jahre 1993, mithin in seinem 50. Altersjahr bzw. nachdem er 45 Jahre lang Trompete gespielt hatte, auf. Der Beschwerdegegner war somit dem typischen, dauerhaften, wenn auch geringen Risiko der Erkrankung (BGE 116 V 144 Erw. 5d) während langer Zeit ausgesetzt gewesen. Hievon abweichende Ursachen (vorbestan- dene Gesundheitsschäden, andere, nicht beruflich belastende Tätigkeiten) können nach dem Gesagten medizinisch weder nachgewiesen noch zugeordnet werden. 4.- Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend hat der anwaltlich vertretene Beschwerdegegner Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG). Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. III. Die Schweizerische National-Versicherungs-Gesellschaft hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteient- schädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwert- steuer) zu bezahlen. IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen, dem Bundesamt für Sozialversi- cherung und der Concordia Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung zugestellt. Luzern, 23. April 2002 Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: