Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 139/2001
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U 139/01 Gb

                        II. Kammer

Präsident Lustenberger, Bundesrichter Ferrari und nebenamt-
licher Richter Bühler; Gerichtsschreiber Jancar

                Urteil vom 14. August 2001

                         in Sachen

W.________, Witwe des X.________ , 1956, gestorben am
28. Dezember 1998, Beschwerdeführerin, vertreten durch Für-
sprecher Marc Brügger-Kuret, Bahnhofstrasse 15, 8570 Wein-
felden,
                           gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmatt-
strasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin,

                            und

Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden

     A.- Der 1956 geborene X.________ arbeitete ab 1. April
1998 als Buchhalter/Sekretär auf dem Bezirksamt Z.________
und war gestützt auf dieses Arbeitsverhältnis bei der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die
Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Er

litt seit Jahren an einer chronisch depressiven Entwicklung
entsprechend einer Dysthymia auf dem Boden einer narzissti-
schen Neurose und an einer sekundären, chronischen Alkohol-
abhängigkeit. Nach einem Suizidversuch war er erstmals vom
22. Juni bis 7. Juli 1973 und ein zweites Mal wegen einer
suizidalen Krise vom 8. August 1991 bis 3. Juli 1992 in der
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Y.________ hospi-
talisiert. Danach stand er weiterhin in ambulanter psy-
chiatrischer Behandlung und setzte eine medikamentöse,
antidepressive Therapie fort. Am Montag, 28. Dezember 1998,
ca. 02.30 Uhr, erhängte er sich auf dem Sitzplatz seines
Einfamilienhauses. Die SUVA, welcher der Vorfall gemeldet
wurde, zog die Akten des Bezirksamtes Bischofszell bei,
liess durch ihren Aussendienst die Ehefrau des Versicherten
befragen und holte ärztliche Berichte des behandelnden Psy-
chiaters Dr. med. S.________ vom 17. März und 21. Juni
1999, des Hausarztes Dr. med. E.________ vom 25. März 1999,
der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Y.________
vom 22. Juni 1999 sowie ein Aktengutachten der anstaltsei-
genen Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Dr.
med. H.________, vom 25. November 1999 ein. Gestützt darauf
lehnte sie mit Verfügung vom 4. Januar 2000 die Ausrichtung
von Versicherungsleistungen - mit Ausnahme der Bestattungs-
kosten - ab. Die dagegen von der Ehefrau des Versicherten,
W.________, erhobene Einsprache wies sie mit Einspracheent-
scheid vom 19. Mai 2000 ab.

     B.- Beschwerdeweise liess W.________ die Rückweisung
der Sache an die SUVA zur Neubeurteilung, eventuell die Zu-
sprechung von Hinterlassenen- und Waisenrenten beantragen.
Mit Entscheid vom 21. Februar 2001 wies das Verwaltungsge-
richt des Kantons Thurgau die Beschwerde ab.

     C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt W.________
ihre vorinstanzlichen Rechtsbegehren erneuern, das vorin-
stanzliche Eventualbegehren nunmehr als Hauptbegehren und

umgekehrt; subeventuell lässt sie beantragen, es seien ihr
die Anwaltskosten des Rechtsmittelverfahrens zu entschä-
digen.
     Die SUVA beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichts-
beschwerde, während sich das Bundesamt für Sozialversiche-
rung nicht vernehmen lässt.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Nach Art. 108 Abs. 2 OG hat die Verwaltungsge-
richtsbeschwerde u.a. die Begehren und deren Begründung mit
Angabe der Beweismittel zu enthalten. Mit diesen Gültig-
keitserfordernissen soll dem Richter hinreichende Klarheit
darüber verschafft werden, worum es beim Rechtsstreit geht.
Die Begründung braucht nicht zuzutreffen, aber sie muss
sachbezogen sein. Der blosse Hinweis auf frühere Rechts-
schriften oder auf den angefochtenen Entscheid genügt
nicht. Fehlt eine in diesem Sinn rechtsgenügliche Begrün-
dung, so liegt keine gültige Beschwerde vor, weshalb darauf
nicht eingetreten werden kann (BGE 101 V 127; ZAK 1988
S. 519 Erw. 1; vgl. auch BGE 113 Ib 287 mit Hinweisen;
Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. A., S. 197 mit wei-
teren Hinweisen).

     b) Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin hat zur
Begründung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Wesentli-
chen diejenige der vorinstanzlichen Beschwerde - in Form
eines nochmaligen Computerausdruckes - wortwörtlich über-
nommen. Namentlich die Ziff. 1 und II-VI sowie zum grossen
Teil auch die Ziff. VII der Begründung stellen eine
wortlautgenaue Kopie der vorinstanzlichen Beschwerdebegrün-
dung dar. Insoweit besteht die Begründung der Verwaltungs-
gerichtsbeschwerde lediglich in einem (ausführlichen) Ver-
weis auf die erstinstanzliche Beschwerdeschrift und ist
daher ungültig. Lediglich in einzelnen Passagen von

Ziff. VII S. 16 und 17 der Begründung wird überhaupt auf
den vorinstanzlichen Entscheid Bezug genommen und enthält
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde eine sachbezogene Aus-
einandersetzung mit diesem. Nur insofern liegt eine rechts-
genügliche Beschwerdebegründung vor und kann auf das Haupt-
begehren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingetreten wer-
den.

     c) Die Beschwerdeführerin hat im vorinstanzlichen
Beschwerdeverfahren der SUVA eine Gehörsverletzung durch
Verletzung der Begründungspflicht vorgeworfen. Die Vorin-
stanz hat diese Rüge geprüft, als unbegründet beurteilt und
beigefügt, selbst wenn es sich anders verhielte, wäre ein
Begründungsmangel im verwaltungsgerichtlichen Beschwerde-
verfahren geheilt worden. In der Verwaltungsgerichtsbe-
schwerde befasst sich der Rechtsvertreter der Beschwerde-
führerin zur Begründung des Eventual- und Subeventualantra-
ges lediglich mit der Rechtsprechung des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts zur Heilung von Gehörsverletzungen im
Rechtsmittelverfahren. Mit der diesbezüglichen Hauptbegrün-
dung der Vorinstanz, nämlich dass die SUVA in ihrem Ein-
spracheentscheid die Begründungspflicht gar nicht verletzt
hat und somit das Einspracheverfahren nicht an einem Ver-
fahrensmangel leidet, setzt sich die Verwaltungsgerichtsbe-
schwerde nicht auseinander. In diesem Punkt fehlt es demge-
mäss an einer sachbezogenen Begründung, weshalb auf das
Eventual- und Subeventualbegehren der Verwaltungsgerichts-
beschwerde nicht einzutreten ist.

     2.- a) Die Vorinstanz hat unter Hinweis auf die im
vorliegenden Fall massgebenden Gesetzesbestimmungen
(Art. 37 Abs. 1 UVG; Art. 48 UVV) zutreffend dargelegt,
dass - mit Ausnahme der Bestattungskosten - ein Anspruch
auf Versicherungsleistungen im Falle der Selbsttötung nur
besteht, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Ver-
schulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln.

Gleichfalls hat sie richtig ausgeführt, dass eine Geistes-
krankheit oder schwere Störung des Bewusstseins, d.h. psy-
chopathologische Symptome mit überwiegender Wahrschein-
lichkeit belegt sein müssen, damit eine vollständige Ur-
teilsunfähigkeit des Versicherten im Zeitpunkt der Suizid-
handlung bejaht werden kann, was aufgrund der gesamten
Umstände zu beurteilen ist. Korrekt sind auch die Feststel-
lung, dass an den Nachweis der Urteilsunfähigkeit keine
strengen Beweisanforderungen gestellt werden dürfen sowie
die Ausführungen zu den im Sozialversicherungsrecht massge-
benden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, zum
Untersuchungsgrundsatz und zur Beweislast sowie zu den für
die Beweiswürdigung und den Beweiswert von ärztlichen
Berichten und Gutachten, namentlich auch solchen von versi-
cherungsinternen Ärzten, massgebenden Kriterien. Es kann
diesbezüglich auf die einlässlichen Erwägungen im angefoch-
tenen Entscheid sowie auf BGE 125 V 352 ff. Erw. 3 und RKUV
1996 Nr. U 267 S. 309 ff. verwiesen werden.
     Beizufügen ist, dass auch reinen Aktengutachten, die
ohne eigene Untersuchungen/Abklärungen des Gutachters er-
stattet worden sind, Beweiskraft zukommen kann. Entschei-
dend ist hiefür, ob schon genügend Unterlagen aufgrund
anderer Untersuchungen und Abklärungen vorliegen, diese
Daten unbestritten sind und der Gutachter sich demgemäss
aufgrund der vorhandenen Unterlagen ein vollständiges Bild
über Anamnese, Krankheitsverlauf und die medizinische
Situation im massgebenden Zeitpunkt verschaffen konnte
(RKUV 1988 Nr. U 56 S. 370 f. Erw. 5b; Fredenhagen, Das
ärztliche Gutachten, 2. A. 1985, S. 68).

     b) Die anstaltseigene, psychiatrische Spezialärztin
Dr. med. H.________ ist in ihrem Aktengutachten vom 25. No-
vember 1999 gestützt auf die Vorakten zum Schluss gelangt,
die Urteilsfähigkeit des Versicherten sei zur Zeit der Tat
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einge-
schränkt, jedoch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht

vollständig aufgehoben gewesen. Zu diesem Schluss gelangte
die Gutachterin, weil die Ehefrau des Versicherten in der
Nacht vom 27. auf den 28. Dezember 1998 bei ihrem Ehemann
weder psychotische Symptome noch eine "dramatische Zuspit-
zung der psychischen Verfasstheit" noch "sonstige Besonder-
heiten" festgestellt hatte. An jenem Abend hatte der Versi-
cherte auch nicht mehr Alkohol konsumiert, als er gewohnt
war. Das von ihm praktizierte Vorgehen - Aufforderung an
die Ehefrau, sich zu Bett zu begeben, Beschwichtigung der
Ehefrau, als sie seine Suizidvorbereitungen feststellte,
Demontage der Türsicherung der Sitzplatztüre - sprächen
ebenfalls für eine teilweise erhaltene Urteilsfähigkeit.
     Diese ärztliche Beurteilung der massgebenden Umstände
ist gut nachvollziehbar und schlüssig. Der Versicherte hat
in der Tat bei der Vorbereitung und Durchführung seiner
Selbsttötung ein zielgerichtetes Vorgehen an den Tag
gelegt, wie es für absichtliches Handeln kennzeichnend ist.
Anderseits fehlen sowohl in der Krankengeschichte als auch
insbesondere für die Nacht vom 27. auf den 28. Dezember
1999 Anhaltspunkte dafür, dass er von einer psychotischen
Realitätsverkennung oder von einem impulshaften, kurz-
schlüssigen Handlungstrieb beherrscht gewesen wäre. Dass er
aufgrund seiner depressiven Erkrankung von Verzweiflung und
Gefühlen der Ausweglosigkeit erfüllt war, genügt für den
Nachweis eines psychopathologischen Zustandes mit vollstän-
diger Aufhebung der Urteilsfähigkeit nicht.
     Vorinstanz und SUVA haben daher dem Aktengutachten vom
25. November 1999 zu Recht volle Beweiskraft beigemessen.
Was die Beschwerdeführerin dagegen vorbringt, dringt nicht
durch. Der Umstand, dass die Gutachterin die beim Versi-
cherten diagnostizierte Dysthymia noch als Geisteskrankheit
im Rechtssinne qualifiziert hat, begründet für sich allein
die Annahme einer vollständigen Urteilsunfähigkeit nicht.
Entscheidend sind vielmehr die Auswirkungen dieser Krank-
heit auf die psychopathologische Verfassung des Versicher-

ten im Zeitpunkt seiner Tat. Ebensowenig ist diesbezüglich
ausschlaggebend, dass der Versicherte keinen Abschiedsbrief
hinterlassen hat und für ihn die Weihnachtszeit seit jeher
psychisch besonders schwierig und bedrückend war.

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen,
     soweit darauf einzutreten ist.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsge-
     richt des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für So-
     zialversicherung zugestellt.

Luzern, 14. August 2001

                                  Im Namen des
                      Eidgenössischen Versicherungsgerichts
                          Der Präsident der II. Kammer:

                              Der Gerichtsschreiber: