Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 116/2001
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U 116/01

Urteil vom 5. Februar 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin
Durizzo

H.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Hebeisen,
Löwenstrasse 12, 8280 Kreuzlingen,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 21. Dezember 2000)

Sachverhalt:

A.
H. ________, geboren 1964, war seit 1991 als Betriebsmitarbeiter bei der
Firma I.________ AG, angestellt und bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Berufs- und
Nichtberufsunfall versichert, als er am 3. Juni 1994 an seinem Arbeitsplatz
von einer herabstürzenden Holzpalette getroffen wurde und eine
Berstungsfraktur des zwölften Brustwirbelkörpers, eine Kompressionsfraktur
des dritten Lendenwirbelkörpers sowie eine Nasenbeinfraktur erlitt. Per 1.
Mai 1995 reduzierte die SUVA sein Taggeld auf 50 % (Verfügung vom 20.
September 1995 und Einspracheentscheid vom 22. Januar 1996); die hiegegen
erhobenen Beschwerden wiesen das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
mit Entscheid vom 20. März 1997 und das Eidgenössische Versicherungsgericht
mit Urteil vom 9. Juli 1999 ab, wobei nur die somatischen
Gesundheitsschädigungen, nicht aber die psychischen Beschwerdebilder mit
Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen waren.

B.
Mit Verfügung vom 12. November 1996 stellte die SUVA die Ausrichtung von
Taggeldern unter Annahme einer Arbeitsfähigkeit von 75 % per 1. September
1996 ein und hielt an ihrer Auffassung auch auf Einsprache hin fest
(Einspracheentscheid vom 13. Mai 1997).

C.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen mit Entscheid vom 21. Dezember 2000 teilweise gut und sprach
H.________ ab dem 1. September 1996 bei einer Arbeitsunfähigkeit von 50 %
weiterhin ein halbes Taggeld zu.

D.
H.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Zusprechung von
Taggeldern entsprechend einer Arbeitsunfähigkeit von 100 % ab 1. September
1996 beantragen.

Während die SUVA auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Mit Urteil vom 9. Juli 1999 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
entschieden, dass sich - unter somatischen Gesichtspunkten - die von der SUVA
verfügte (Einspracheentscheid vom 22. Januar 1996) und vorinstanzlich
bestätigte (Entscheid vom 20. März 1997) Reduktion des Taggeldes auf 50 % ab
1. Mai 1995 nicht beanstanden lasse. Bewusst nicht entschieden wurde (wegen
des für die richterliche Überprüfungsbefugnis massgebenden Zeitpunktes des
Einspracheentscheides, BGE 116 V 248 Erw. 1a mit Hinweisen) die Frage, ob es
sich - im Hinblick auf die Höhe des Taggeldanspruchs - bei den geltend
gemachten psychischen Beschwerdebildern mit Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit um eine natürliche und adäquate Folge des Unfalles vom 3.
Juni 1994 handelt.

1.2 Streitig im vorliegenden Verfahren ist auf Grund des
Einspracheentscheides vom 13. Mai 1997 und des kantonalen Entscheides vom 21.
Dezember 2000 der Taggeldanspruch ab 1. September 1996.

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Anspruch und die Höhe des
Taggeldes (Art. 16 und 17 Abs. 1 UVG, Art. 25 Abs. 3 UVV) richtig dargelegt.
Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft
getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall
nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des
streitigen Einspracheentscheides (hier: 13. Mai 1997) eingetretene Rechts-
und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht
berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).

3.
Zu Recht hat die Vorinstanz erwogen, dass unter Berücksichtigung des
somatischen und des psychischen Gesundheitszustandes auch nach dem 1.
September 1996 eine Arbeitsfähigkeit von 50 % für eine leidensangepasste
Tätigkeit besteht. Auf ihre zutreffenden, sorgfältigen Erwägungen kann
vollumfänglich verwiesen werden. Sie stützt sich dabei zunächst auf die
ärztlichen Berichte des Dr. med. J.________, Innere Medizin FMH, vom 27.
November 1996 sowie vom 27. Juli 1997 und des Dr. med. G.________, Innere
Medizin FMH, speziell Rheumakrankheiten, Medizinisches Zentrum X.________,
vom 31. Juli 1997. Die psychischen Störungen, unter denen der
Beschwerdeführer unbestrittenerweise leidet, stehen auf Grund der
medizinischen Berichte in natürlichem Kausalzusammenhang mit dem Unfall. Die
Frage nach der Adäquanz hat die Vorinstanz offen gelassen. Sie ist indessen
zu bejahen, ist der erlittene Unfall doch angesichts der besonderen
Eindrücklichkeit - aus drei Metern Höhe herabstürzende, beladene Holzpalette
von angeblich 431 kg Gewicht - den schwereren im mittleren Bereich zuzuordnen
und leidet der Beschwerdeführer ausserdem an körperlichen - chronischen
lumbalen und thorakalen - Dauerschmerzen (BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa). Daraus
folgt jedoch nicht ein höherer Grad der Arbeitsunfähigkeit. Dieser lässt
sich, wie die Vorinstanz ebenfalls richtig erwogen hat, nicht einfach durch
eine Addition von einzelnen physischen und psychischen Beeinträchtigungen
ermitteln. Mit dem kantonalen Gericht ist in Bezug auf die zumutbare
leidensangepasste Tätigkeit dem umfassenden Gutachten der Medizinischen
Abklärungsstelle (MEDAS), vom 8. Oktober 1998 der Vorzug vor dem Bericht des
Hausarztes Dr. med. S.________, vom 11. August 1997 zu geben, sagen doch
Hausärzte mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung
in Zweifelsfällen eher zu Gunsten ihrer Patienten aus (BGE 125 V 353 Erw.
3b/cc). Die Ärzte der MEDAS attestieren dem Versicherten unter
Berücksichtigung des rheumatologischen wie des psychiatrischen Aspektes eine
Arbeitsunfähigkeit von 50 %. Ihr Gutachten genügt den rechtsprechungsgemässen
Anforderungen (BGE 125 V 352 Erw. 3) und es kann ohne Weiteres darauf
abgestellt werden.

4.
Daran vermögen die Einwände des Beschwerdeführers nichts zu ändern.

4.1 Arbeitsunfähigkeit ist grundsätzlich die auf Grund ärztlicher
Feststellungen ermittelte tatsächliche Unfähigkeit, am angestammten
Arbeitsplatz nutzbringend tätig zu sein, nicht hingegen die bloss
medizinisch-theoretische Schätzung der Arbeitsunfähigkeit (BGE 111 V 239 Erw.
1b; vgl. auch BGE 114 V 283 Erw. 1c; RKUV 1987 Nr. U 27 S. 394 Erw. 2b, je
mit Hinweisen). Der Grad der Arbeitsunfähigkeit ist indessen nur solange
unter Berücksichtigung des bisherigen Berufs festzusetzen, als von der
versicherten Person vernünftigerweise nicht verlangt werden kann, ihre
restliche Arbeitsfähigkeit in einem andern Berufszweig zu verwerten.
Versicherte, die ihre restliche Arbeitsfähigkeit nicht verwerten, obgleich
sie hiezu unter Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage und gegebenenfalls
einer bestimmten Anpassungszeit in der Lage wären, sind nach der beruflichen
Tätigkeit zu beurteilen, die sie bei gutem Willen ausüben könnten (BGE 115 V
133 f. Erw. 2 mit Hinweisen); das Fehlen des guten Willens ist nur dort
entschuldbar, wo es auf einer Krankheit beruht. Bei langdauernder
Arbeitsunfähigkeit im angestammten Beruf hat die versicherte Person daher
andere ihr offenstehende Erwerbsmöglichkeiten auszuschöpfen, und zwar
solange, als man dies unter den gegebenen Umständen von ihr verlangen kann
(in RKUV 2000 Nr. U 366 S. 92 nicht publizierte Erwägung 1; BGE 114 V 283
Erw. 1d; RKUV 1987 Nr. U 27 S. 394 f. Erw. 2b).

4.2 Nach dem unter Erwägung 3 Gesagten ist dem Beschwerdeführer eine
leidensangepasste Tätigkeit im Umfang eines 50 %-Pensums zumutbar. Angesichts
der umfassenden - physischen und psychischen - Abklärung des relevanten
medizinischen Sachverhaltes mit Berichten aus verschiedenen Sachbereichen
über die Entwicklung des Gesundheitszustandes seit dem Unfall erübrigen sich
Aktenergänzungen.

4.3 Die ärztlich attestierte Restarbeitsfähigkeit ist auch praktisch
verwertbar, da die dem Beschwerdeführer zumutbaren Tätigkeiten einerseits
Gegenstand von Angebot und Nachfrage auf dem ihm offen stehenden,
ausgeglichenen Arbeitsmarkt sind (vgl. BGE 110 V 276 Erw. 4b; ZAK 1991 S. 320
Erw. 3b) und der Versicherte anderseits nicht derart eingeschränkt ist, dass
der allgemeine Arbeitsmarkt die entsprechenden Stellen praktisch nicht kennt
oder eine Beschäftigung nur unter nicht realistischem Entgegenkommen eines
Arbeitgebers möglich wäre (Urteil Z. vom 14. April 2000, U 241/99).

5.
Für den Taggeldanspruch massgebend sind jedoch die erwerblichen Auswirkungen
der gesundheitlichen Beeinträchtigung (BGE 114 V 284 ff. Erw. 2c, 3, 4; RKUV
1994 Nr. K 935 S. 113). Da der Beschwerdeführer seinen angestammten Beruf
nicht mehr ausüben und seine Restarbeitsfähigkeit im Rahmen der
Schadenminderungspflicht nur noch in einer leidensangepassten Tätigkeit
verwerten kann, bleibt daher zu prüfen, ob er dadurch eine Lohneinbusse
erleidet. Die Sache ist zu diesem Zweck an die SUVA zurückzuweisen, damit sie
einen Einkommensvergleich durchführe und den Taggeldanspruch gestützt auf die
Differenz zwischen dem ohne Unfall im bisherigen Beruf verdienten und dem mit
gesundheitlicher Beeinträchtigung  zumutbarerweise erzielbaren Lohn ermittle.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 21. Dezember
2000 und der Einspracheentscheid der SUVA vom 13. Mai 1997 aufgehoben werden
und die Sache an die SUVA zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Taggeldanspruch des
Beschwerdeführers neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die SUVA hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 5. Februar 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: