Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 10/2001
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U 10/01

Urteil vom 16. Juli 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber
Attinger

K.________, 1949, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher  Franz
Hollinger, Stapferstrasse 28, 5201 Brugg AG,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 22. November 2000)

Sachverhalt:

A.
Die 1949 geborene K.________ war seit dem 27. April 1992 als Büroangestellte
bei der Firma S.________ AG erwerbstätig und bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen Unfälle versichert. Am 19. Juni 1992
verursachte sie als Autolenkerin einen Selbstunfall, indem sie aus
Unachtsamkeit von der Fahrbahn auf die angrenzende Böschung geriet, wo sich
ihr Fahrzeug überschlug und auf dem Dach liegend zum Stillstand kam. Die
Versicherte wurde mit dem Ambulanzfahrzeug ins Spital X.________
transportiert. Dort gab sie Parästhesien an den Händen und
Sensibilitätsstörungen am linken Oberschenkel an; radiologisch konnten keine
ossären Läsionen der Halswirbelsäule (HWS) oder des Schädels nachgewiesen
werden. Die Klinikärzte diagnostizierten ein HWS-Schleudertrauma, eine
Commotio cerebri, eine Distorsion der linken Schulter sowie eine Kontusion
der Lendenwirbelsäule und des Steissbeins. Die Versicherte klagte in der
Folge insbesondere über Kopf- und Nackenschmerzen. Die SUVA übernahm die
Heilbehandlung und erbrachte Taggeldleistungen; ab 17. August 1992 bestand
wieder volle Arbeitsfähigkeit. Nach einem ersten, im Februar 1996 gemeldeten
Rückfall kam der Unfallversicherer bis Mitte März 1997 erneut für die
Heilbehandlung von HWS-Beschwerden auf (eine Arbeitsunfähigkeit bestand
nicht).

Im Juli 1998 wurde der SUVA erneut ein Rückfall gemeldet. Gegenüber ihrem
Hausarzt Dr. P.________, Spezialist für Innere Medizin, gab K.________ an,
sie leide unter Schwindel, Gefühlsstörungen in der rechten Hand und Schmerzen
im Nackenbereich (Bericht vom 5. August 1998). Der genannte Arzt erhob den
Befund eines paravertebralen Hartspanns der Muskulatur und einer
eingeschränkten Beweglichkeit "allseits der Halswirbelsäule". SUVA-Kreisarzt
Dr. W.________ bescheinigte eine leichte Zervikalgie und ein leichtes
Rotationsdefizit der HWS nach rechts (Untersuchungsbericht vom 2. November
1998). Er ordnete eine radiologische Verlaufsuntersuchung der HWS im
Röntgeninstitut X.________ sowie eine zusätzliche Abklärung durch den
Neurologen Dr. M.________ an. Auf den Röntgenbildern vom 18. November 1998
lassen sich u.a. auf Höhe C4/5 minime Chondrosefrühzeichen sowie auf Höhe
C5/6 eine fortgeschrittene Osteochondrose mit reaktiver Spondylose und eine
leichte Retrolisthese durch Gefügelockerung erkennen; der Befund erweist sich
im Vergleich zu den Aufnahmen vom Unfalltag als in zeitentsprechendem Ausmass
progredient (Beurteilung Dr. Z.________ vom Röntgeninstitut X.________).
Anlässlich der neurologischen Untersuchung durch Dr. M.________ vom 8.
Dezember 1998 gab die Versicherte ein "Taubheitsgefühl occipital mit
Ausbreitung in die linke Gesichtshälfte und in die linksseitige Lippenpartie"
an; manchmal würden Artikulationsschwierigkeiten auftreten (Arztbericht vom
15. Dezember 1998). Sobald zervikale Schmerzen vorhanden seien, bestehe "auch
eine Energielosigkeit, Ausstrahlungen in das Sternum und weniger Gefühl in
der rechten Hand (es werden manchmal Gegenstände fallengelassen),
gleichzeitig trümlig und Schweregefühl im linken Bein". Die beschriebenen
Gefühlsstörungen gehören laut Dr. M.________ zu den tendomyotischen
Reaktionen; sie liessen sich durch Druck auf bestimmte Triggerpunkte
beeinflussen. Für eine Pathologie im Bereiche von Hirnstamm oder Zervikalmark
bestünden keine Anhaltspunkte. Schliesslich gelangt Dr. M.________ zum
Schluss, dass die angegebenen Beschwerden per se nicht unfallspezifisch
seien, "ein Zusammenhang mit dem Ereignis von 1992 ist jedoch möglich".
Gestützt auf die beiden von ihm veranlassten ergänzenden Untersuchungen
erachtete Kreisarzt Dr. W.________ die Unfallkausalität als erloschen
(Beurteilung vom 29. Dezember 1998): Einerseits seien in den Röntgenaufnahmen
vom Unfalldatum keine frischen unfallspezifischen Befunde festzustellen und
anderseits hat sich "der Befund C5/C6 (...) in den letzten 6 Jahren (zwar)
verschlechtert, allerdings nicht stark, so dass meiner Ansicht nach der
Status quo sine wahrscheinlicher ist als eine richtungsweisende
unfallbedingte Verschlimmerung". Somit sei der "Befund an der HWS C5/C6 heute
höchstens noch im möglichen, aber nicht mehr im wahrscheinlichen
Unfallzusammmenhang zu sehen". Unter Hinweis auf die unmittelbar hievor
genannten ärztlichen Stellungnahmen Dr. M.________ und Dr. W.________
verneinte die SUVA einen Anspruch von K.________ auf
Unfallversicherungsleistungen (Verfügung vom 11. Januar 1999 und
Einspracheentscheid vom 2. Dezember 1999).

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 22. November 2000
ab.

C.
K.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag auf
Zusprechung der gesetzlichen Leistungen. Überdies lässt sie um Bewilligung
der unentgeltlichen Verbeiständung ersuchen. Entsprechend ihrem weiteren
Antrag auf Sistierung des Verfahrens bis zum Vorliegen eines ärztlichen
Berichtes des Neurologen Dr. D.________ reichte sie in der Folge dessen
Stellungnahme vom 10. April 2001 ein. Darin gelangte Dr. D.________ zum
Schluss, dass "die feststellbare Osteochondrose als klinisch stummer
Vorzustand gewertet werden (müsse) und dementsprechend dem Unfall bezüglich
des cervicalen Beschwerdekomplexes eine richtungsweisende Verschlimmerung
eines vorher klinischen Zustandes" zuzuschreiben sei. Neben diesem
zervikalen, zervikozephalen und zervikobrachialen Symptomenkomplex bestehe
eine weitere Problematik, indem die Versicherte bis heute anhaltende
verschiedene verhaltensneurologische und neuropsychologische Störungen
angebe. Insgesamt erscheine es überwiegend wahrscheinlich, dass "die heutige
Problematik auf das Unfallereignis von 1992 zurückzuführen" sei.

Während die SUVA auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid die von der Rechtsprechung für
die Leistungspflicht des Unfallversicherers entwickelten Grundsätze über den
erforderlichen natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem
Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden, insbesondere bei Schleudertraumen
der HWS und bei psychischen Beeinträchtigungen nach Unfällen (BGE 122 V 415,
119 V 335, 117 V 359, 115 V 133), zutreffend wiedergegeben. Zu ergänzen ist,
dass die Rechtsprechung zum natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang bei
Verletzungen nach klassischem Schleudertrauma auch auf Verletzungen nach
einem dem Schleudertrauma äquivalenten Mechanismus (Kopfanprall mit
Abknickung der HWS; SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 Erw. 2) und bei Vorliegen eines
Schädel-Hirntraumas anwendbar ist, wenn und soweit sich dessen Folgen mit
jenen eines Schleudertraumas vergleichen lassen (BGE 117 V 369).

Das kantonale Gericht hat überdies richtig dargelegt, dass die Beurteilung
der Adäquanz in denjenigen Fällen, in welchen die zum typischen
Beschwerdebild eines Schleudertraumas der HWS (oder eines
Schädel-Hirntraumas) gehörenden Beeinträchtigungen zwar teilweise gegeben
sind, im Vergleich zur vorliegenden ausgeprägten psychischen Problematik aber
ganz in den Hintergrund treten, nach der für psychische Fehlentwicklungen
nach Unfällen geltenden Rechtsprechung (BGE 115 V 133) vorzunehmen ist (BGE
123 V 99 Erw. 2a mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

2.
Was die von Dr. D.________ im neurologischen Bericht vom 10. April 2001 als
zervikaler, zervikozephaler und zervikobrachialer Symptomenkomplex
bezeichneten Beschwerden anbelangt, ist auf die Beurteilung des weiteren
Neurologen Dr. M.________ (vom 15. Dezember 1998) sowie des Kreisarztes Dr.
W.________ (vom 29. Dezember 1998) abzustellen, wonach hinsichtlich der
namentlich auf Höhe C5/6 bestehenden degenerativen Veränderungen rund sechs
Jahre nach dem versicherten Unfall vom 19. Juni 1992 mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit der status quo sine erreicht war. Der SUVA-Kreisarzt hat
diese Auffassung überzeugend damit begründet, dass zum einen in den
Röntgenaufnahmen vom Unfalltag keine frischen unfallspezifischen Befunde
auszumachen und zum andern die degenerativen Veränderungen bis zur
röntgenologischen Untersuchung vom 18. November 1998 lediglich in
zeitentsprechendem Ausmass fortgeschritten sind (vgl. Beurteilung des
Röntgeninstitutes X.________). Eine richtungsweisende Verschlimmerung des
HWS-Vorzustandes durch das Unfallereignis, wie sie Dr. D.________ ohne nähere
Begründung annimmt, erscheint demgegenüber als unwahrscheinlich. Insofern
haben SUVA und Vorinstanz die natürliche Kausalität zu Recht verneint.

Was hingegen die vom letztgenannten Mediziner erwähnten
verhaltensneurologischen und neuropsychologischen Störungen im Sinne von
Vigilanzstörungen, Suppressionsstörungen mit emotionaler Labilität, Störungen
der (vorwiegend geteilten) Aufmerksamkeit und der Konzentrationsfähigkeit
sowie im Bereich der Gedächtnisleistungen betrifft, braucht die Frage nicht
beantwortet zu werden, ob diese (im Nachgang zur aktuellen Rückfallmeldung
weder gegenüber dem Hausarzt Dr. P.________ noch gegenüber dem SUVA-Kreisarzt
oder dem Neurologen Dr. M.________ geklagten) Beeinträchtigungen wenigstens
teilweise auf das erlittene Schleudertrauma der HWS (bzw. eine äquivalente
Verletzung) oder ein allfälliges Schädelhirntrauma zurückzuführen sind. Denn
selbst wenn der natürliche Kausalzusammenhang zwischen diesen - auf Grund der
gesamten medizinischen Aktenlage organisch nicht nachweisbaren - Beschwerden
und dem Verkehrsunfall vom 19. Juni 1992 zu bejahen wäre, fehlt es, wie
nachfolgend zu zeigen sein wird, an der Adäquanz des Kausalzusammenhangs.
Unter diesen Umständen kann auch von der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragten zusätzlichen medizinischen Begutachtung durch
Schleudertrauma-Spezialisten abgesehen werden, diente diese doch vorab der -
unter dem hier eingenommenen Blickwinkel eben nicht zu beantwortenden - Frage
nach der natürlichen Kausalität. Ebenso mag offen bleiben, ob die adäquate
Kausalität anhand der Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen (BGE 115
V 133) zu prüfen ist, weil - wie das kantonale Gericht offenbar annimmt - die
psychischen Beschwerden eindeutig dominieren. Wie nämlich im Folgenden
darzulegen sein wird, fällt das Ergebnis auch dann nicht zu Gunsten der
Beschwerdeführerin aus, wenn die Adäquanz - in Abweichung vom
vorinstanzlichen Entscheid - nach der Rechtsprechung zu den Schleudertraumen
der HWS (BGE 122 V 415, 117 V 359) bzw. den Schädel-Hirntraumen (BGE 117 V
369) beurteilt wird, d.h. ohne Differenzierung zwischen physischen und
psychischen Komponenten der unfallbezogenen Merkmale (BGE 117 V 367 Erw. 6a
in fine).

3.
Die Vorinstanz hat den Autounfall vom 19. Juni 1992 auf Grund des
augenfälligen Geschehensablaufs und der erlittenen Verletzungen zu Recht dem
Bereich der mittelschweren Unfälle und innerhalb dieses Rahmens nicht den
schwereren Fällen zugeordnet (vgl. hiezu RKUV 1999 Nr. U 330 S. 122; noch
nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichtes Urteil F. vom 25. Februar
2003, U 161/01). Für die Bejahung der adäquaten Kausalität wäre daher
erforderlich, dass zumindest ein einzelnes unfallbezogenes Kriterium in
besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist oder dass die praxisgemäss zu
berücksichtigenden Merkmale in gehäufter oder auffallender Weise gegeben sind
(BGE 117 V 367 Erw. 6b, 384 Erw. 4c, 115 V 140 Erw. 6c/bb, 409 Erw. 5c/bb).

Wie im angefochtenen Entscheid zutreffend ausgeführt wurde, ereignete sich
der Unfall bei objektiver Betrachtung weder unter besonders dramatischen
Begleitumständen, noch war er durch besondere Eindrücklichkeit
gekennzeichnet. Ferner kann weder von einer schweren noch von einer im
Hinblick auf die in Frage stehende Adäquanzbeurteilung besonders gearteten
Verletzung gesprochen werden. Auch Dauerbeschwerden können im Hinblick auf
die gegenüber Dr. D.________ angegebenen Beeinträchtigungen (neurologischer
Bericht vom 10. April 2001) nicht bejaht werden. Für eine ärztliche
Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert hätte, fehlen
jegliche Hinweise. Schliesslich ist auch das Kriterium der lang dauernden
Arbeitsunfähigkeit zu verneinen, konnte doch die Beschwerdeführerin bereits
zwei Monate nach dem Verkehrsunfall ihre Arbeit wieder vollständig ausüben.
Auch im Zusammenhang mit den beiden gemeldeten Rückfällen kam es nicht zu
länger dauernden Arbeitsunfähigkeitsperioden.

Ob tatsächlich von einer ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung
und einem schwierigen Heilungsverlauf gesprochen werden kann, braucht nicht
abschliessend beantwortet zu werden. Auf jeden Fall darf nicht ausser Acht
gelassen werden, dass sich die Beschwerdeführerin im unmittelbaren Anschluss
an den Unfall insofern zunächst relativ rasch erholte, als sie am
Arbeitsplatz schon bald wieder eine volle Leistung erbringen konnte (obwohl
weiterhin Heilbehandlungen nötig waren). Später waren immer wieder länger
dauernde Phasen zu verzeichnen, während derer keine medizinische Behandlung
erforderlich war. Sind mithin höchstens zwei der nach der Rechtsprechung
massgebenden unfallbezogenen Kriterien und diese in nicht auffallender Weise
erfüllt, ist die adäquate Kausalität zwischen dem Unfall vom 19. Juni 1992
und den hier zu beurteilenden gesundheitlichen Störungen der
Beschwerdeführerin nicht gegeben.

Nach dem Gesagten erfolgte die - vorinstanzlich bestätigte -
Leistungsablehnung der SUVA zu Recht.

4.
Dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung kann entsprochen
werden, da die hiefür nach Gesetz (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG)
und Rechtsprechung (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen)
erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Es wird indessen ausdrücklich
auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande
ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecher Franz
Hollinger, Brugg, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 16. Juli 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: