Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Anklagekammer 8G.14/2001
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8G.14/2001/hev

               A N K L A G E K A M M E R
               *************************

                      15. Mai 2001

Es wirken mit: Bundesrichter Corboz, Präsident der
Anklagekammer, Bundesrichter Nay, Raselli und Gerichts-
schreiber Küng.

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                       In Sachen

Bezirksstatthalteramt  A r l e s h e i m, Gesuchsteller,

                         gegen

Generalprokurator des Kantons  B e r n, Gesuchsgegner,

                       betreffend
             Bestimmung des Gerichtsstandes
                 in Sachen B.________;

     A.- Die Behörden des Kantons Basel-Landschaft füh-
ren seit Oktober 2000 eine Strafuntersuchung gegen
B.________ insbesondere wegen Diebstahls, Betruges und
Veruntreuung.

        Die Behörden des Kantons Basel-Stadt führen
ebenfalls seit Oktober 2000 gegen B.________ eine Straf-
untersuchung insbesondere wegen mehrfacher Zechprelle-
rei. Dieses Verfahren wurde am 28. März 2001 durch das
Bezirksstatthalteramt Arlesheim/BL übernommen.

        Die Behörden des Kantons Bern führen gegen
B.________ seit längerem eine Strafuntersuchung wegen
sexueller Nötigung (Art. 189 Abs. 1 StGB), eventuell
Versuchs dazu, und Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 1 StGB),
angeblich begangen 1996, eventuell 1997. Gestützt auf
den übereinstimmenden Überweisungsbeschluss der Untersu-
chungsrichterin und des Prokurators vom 11. Januar 2001
sprach das Kreisgericht VIII Bern-Laupen B.________ we-
gen dieser Delikte mit Urteil vom 23./24. Oktober 2000
im Sinne eines Schuldinterlokutes im Sinne von Art. 294
StrV/BE schuldig.

     B.- Am 21. Dezember 2000 ersuchte das Bezirksstatt-
halteramt Arlesheim/BL die Behörden des Kantons Bern,
das bisher durch dieses Amt geführte Verfahren zu über-
nehmen. Am 5. Januar 2001 lehnte der Generalprokurator
des Kantons Bern eine Übernahme des Verfahrens ab. Ein
Meinungsaustausch zwischen den beiden Behörden führte zu
keiner Einigung in der Frage des Gerichtsstandes.

     C.- Mit Gesuch vom 28. März 2001 beantragt das Be-
zirksstatthalteramt Arlesheim/BL, die Strafverfolgungs-
behörden des Kantons Bern berechtigt und verpflichtet zu
erklären, die B.________ vorgeworfenen strafbaren Hand-
lungen zu verfolgen und zu beurteilen.

        Der Generalprokurator des Kantons Bern bean-
tragt, das Gesuch abzuweisen und die Strafverfolgungs-
behörden des Kantons Basel-Landschaft zuständig zu er-
klären.

                  Aus den Erwägungen:
                   ___________________

     2.- a) Wird jemand wegen mehrerer, an verschiedenen
Orten verübter strafbarer Handlungen verfolgt, so sind
die Behörden des Ortes, wo die mit der schwersten Strafe
bedrohte Tat verübt worden ist, auch für die Verfolgung
und Beurteilung der anderen Taten zuständig (Art. 350
Ziff. 1 Abs. 1 StGB).

        b) Die mit der schwersten Strafe bedrohte, dem
Beschuldigten vorgeworfene strafbare Handlung ist die
von ihm angeblich im Kanton Bern verübte Vergewaltigung.
Dass der Beschuldigte damit in Anwendung von Art. 350
Ziff. 1 StGB im Kanton Bern zu verfolgen wäre, ist un-
bestritten. Der Gesuchsgegner vertritt jedoch die Auf-
fassung, es sei im Kanton Bern mit dem Schuldspruch vom
24. Oktober 2000 bereits ein Strafurteil ergangen, womit
diese Vergewaltigung bei Anhebung des Meinungsaustau-
sches betreffend den Gerichtsstand am 21. Dezember 2000
im Kanton Bern nicht mehr verfolgt worden sei.

        c) Der Gesuchsteller beruft sich demgegenüber
auf BGE 111 IV 45. Nach diesem Urteil gilt der Täter
wegen der ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen
erst dann nicht mehr als verfolgt, wenn ein Sachurteil
vorliegt, mit anderen Worten wenn über den Schuld- und
den Strafpunkt entschieden und damit das Verfahren min-
destens vor einer Instanz abgeschlossen ist. In jenem
Urteil erkannte die Anklagekammer des Bundesgerichts,
ein solcher Verfahrensabschluss liege nicht vor, wenn
das Gericht das Urteil aussetze, bis ein Gutachten über
die Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten vorliege und
damit über die Sanktion entschieden werden könne; dies
gelte auch, wenn der Beschuldigte in den Erwägungen des
Gerichts im Sinne der Anklage schuldig gesprochen worden
sei; der Beschuldigte müsse auch in diesem Fall noch als
verfolgt gelten. Die Anklagekammer des Bundesgerichts
begründete dies damit, dass sich erst auf Grund des Ex-
pertenberichts entscheiden lasse, ob das Verfahren ohne
neue Hauptverhandlung abgeschlossen werden könne; das
Gutachten stelle nämlich ein neues Beweismittel dar, mit
welchem neue Tatsachen ins Verfahren eingeführt werden
könnten, zu denen der Angeklagte Anspruch auf Stellung-
nahme habe.

        Der Gesuchsteller ist nun der Auffassung, auch
im vorliegenden Fall sei mit dem Teilurteil über die
Folgen des Schuldspruches noch nicht entschieden worden,
da noch das Ergebnis eines in Auftrag gegebenen psychi-
atrischen Obergutachtens abgewartet werden soll. Auch
der Umstand, dass nach bernischem Recht das gefällte
Teilurteil erst nach dem noch zu erlassenden ganzen
Urteil durch Rechtsmittel weitergezogen werden könne,
spreche dafür, dass der Beschuldigte noch als verfolgt
im Sinne von Art. 350 StGB zu gelten habe.

        d) Mit dem Schuldinterlokut im Sinne von
Art. 294 StrV/BE wird in einer ersten Verhandlung und
Beratung ein Teilurteil über die Schuldfrage und damit
über die Frage der Tatbegehung gefällt. In einem zweiten
Urteil wird sodann nur noch über die Folgen des Schuld-
oder Freispruches verhandelt und beraten. Gegenstand des
Schuldinterlokutes ist somit die reine Tatfeststellung,
das heisst die Feststellung, ob der Beschuldigte die ihm
zur Last gelegte Tat begangen habe (Beatrice Biland-
Zimmermann, Das Schuldinterlokut in der Hauptverhand-
lung, Diss. Zürich 1975, S. 2). In diesem ersten Ver-
handlungsabschnitt werden nach einhelliger Auffassung
der objektive und subjektive Tatbestand sowie Vorsatz
oder Fahrlässigkeit beurteilt; auch Rechtfertigungs-
gründe sind hier zu erörtern (Beat Wolffers, Das Schuld-
interlokut in der Schweiz, insbesondere im Kanton Bern,
ZStrR 117 [1999], S. 225; Biland-Zimmermann, a.a.O.,
S. 75 f.). In der Praxis von Bedeutung ist das Schuld-
interlokut vor allem in Fällen, in denen besondere Be-
weiserhebungen zur Festsetzung der Strafe erfolgen müs-
sen, wie etwa die nachträgliche Anordnung einer psychi-
atrischen Expertise (Biland-Zimmermann, a.a.O., S. 114).
Im Kanton Bern hat das (zudem sehr selten zur Anwendung
gelangende) Schuldinterlokut absolute Bindungswirkung,
das heisst, alle Prozessbeteiligten sind an den Ent-
scheid gebunden und ein Zurückkommen darauf ist im lau-
fenden Verfahren ausgeschlossen (Wolffers, a.a.O.,
S. 226 mit Hinweis auf Jürg Aeschlimann, Einführung in
das Strafprozessrecht, Bern 1997, Rz. 1554, und Thomas
Maurer, Das neue bernische Strafverfahren, Bern 1996,
S. 85).

        e) Die in Art. 349 und 350 StGB umschriebenen
Gerichtsstände sind Erscheinungsformen eines vom Gesetz
zwar nicht ausdrücklich aufgestellten, aber doch voraus-

gesetzten prozessualen Vereinigungsprinzips, das einer-
seits auf dem Gebot der prozessualen Zweckmässigkeit be-
ruht (einheitliche Beweisführung und Verteidigung etc.)
und andererseits eine einheitliche Anwendung der mate-
riell-rechtlichen Strafzumessungsgrundsätze ermöglichen
und erlauben soll, dass insbesondere die in Art. 68
Ziff. 1 StGB vorgesehene Gesamtstrafe ausgesprochen wer-
den kann (vgl. Art. 350 Ziff. 2 StGB). Der Gerichtsstand
ist daher grundsätzlich so zu bestimmen, dass dieses
Ziel erreicht werden kann. Das Vereinigungsprinzip fin-
det nur dort eine Einschränkung, wo seine Beachtung
nicht mehr die bezweckte Erleichterung, sondern eine Er-
schwerung des Verfahrens bewirkt und prozessual unzweck-
mässig ist (Schweri, a.a.O., N 10).

        Dass das bernische Schuldinterlokut nach Auf-
fassung der oben erwähnten Autoren grundsätzlich abso-
lute Bindungswirkung entfaltet, ändert nichts daran,
dass mit dem Schuldspruch allein das erstinstanzliche
Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Solange die
Strafe noch nicht festgelegt ist, kann immer noch eine
einheitliche Strafzumessung für neu bekannt gewordene
strafbare Handlungen des Beschuldigten erreicht werden.
Die Bindungswirkung des Schuldinterlokuts betrifft al-
lein die Delikte, die Gegenstand der ihm zu Grunde lie-
genden Anklage bildeten. Sie steht daher einer Beurtei-
lung anderer strafbarer Handlungen auf Grund einer neuen
und zusätzlichen Anklage in der zweiten oder im zweiten
Teil der Hauptverhandlung nicht entgegen. Es muss daher
auch beim Schuldinterlokut - wo stets noch eine Haupt-
verhandlung bzw. ein zweiter Abschnitt derselben statt-
findet (Art. 294 StrV/BE; Robert Hauser/Erhard Schweri,
Schweizerisches Strafprozessrecht, 4. Auflage, Basel
1999, § 82 N 29) - dabei bleiben, dass der Täter erst

nicht mehr als verfolgt gelten kann, wenn auch über den
Strafpunkt erstinstanzlich entschieden ist. Dies ent-
spricht nicht nur am besten dem Vereinigungsprinzip,
sondern stellt in aller Regel auch die prozessökono-
mischere Lösung dar.

        Das Argument des Gesuchsgegners, anders als in
BGE 111 IV 45, wo noch kein Teilurteil gefällt worden
sei, sei im vorliegenden Fall eine gemeinsame Beurtei-
lung aller dem Beschuldigten zur Last gelegten straf-
baren Handlungen in einem Gerichtsverfahren nicht mehr
möglich, da sich nach dem Schuldinterlokut auch im Kan-
ton Bern ein neues Gericht mit den noch nicht beurteil-
ten und zu übernehmenden strafbaren Handlungen - die
zudem ausschliesslich in einem anderen Kanton verübt
worden seien - befassen müsste, ist unbehelflich. Denn
Art. 350 StGB gilt auch innerkantonal (BGE 113 Ia 165
E. 3) und geht allfälligen entgegenstehenden kantonalen
Bestimmungen vor (BGE 122 IV 250 E. 3b). Damit sind auch
die durch den Beschuldigten in den Kantonen Basel-Stadt
und Basel-Landschaft verübten Delikte durch dasselbe
bernische Gericht zu beurteilen, welches die Delikte
dieses Täters bereits mit dem Schuldinterlokut beur-
teilte.

        f) Triftige Gründe für ein Abweichen vom ge-
setzlichen Gerichtsstand werden nicht geltend gemacht
und sind auch nicht ersichtlich. Denn nachdem zunächst
noch eine psychiatrische (Ober-)Begutachtung des Täters
erforderlich ist, um die Sanktion festlegen zu können,
könnten auch die Behörden des Kantons Basel-Landschaft
das bisher durch sie geführte Verfahren nicht durch Ur-
teil zum Abschluss bringen, bevor dieses Obergutachten
vorliegt.

Lausanne, den 15. Mai 2001