Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6A.71/2001
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6A.71/2001/gnd

               K A S S A T I O N S H O F
               *************************

             Sitzung vom 13. November 2001

Es wirken mit: Bundesrichter Schubarth, Präsident des
Kassationshofes, Bundesrichter Wiprächtiger, Karlen und
Gerichtsschreiber Kipfer Fasciati.

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                       In Sachen

A.________, Beschwerdeführer,

                         gegen

Amt für Justizvollzug des Kantons  Z ü r i c h,
Abteilung Bewährungs- und Vollzugsdienste, Stauffacher-
strasse 94-96, Postfach, Zürich, Beschwerdegegner,

                       betreffend

           Widerruf der bedingten Entlassung
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Ver-
waltungsgerichts des Kantons Zürich vom 18. Mai 2001
[VB.2001.00087]),

hat sich ergeben:

     A.- Am 21. November 1990 verurteilte das Oberge-
richt des Kantons Zürich A.________ wegen Vermögens- und
Urkundendelikten zu einer Zuchthausstrafe von zwölf
Monaten. Nach der Verbüssung von zwei Dritteln dieser
Strafe wurde A.________ am 13. Mai 1992 unter Aufer-
legung einer Probezeit von drei Jahren bedingt aus dem
Strafvollzug entlassen.

     B.- Am 19. April 1999 verurteilte das Kantonsge-
richt St. Gallen A.________ erneut wegen Vermögens- und
Urkundendelikten zu einer Gefängnisstrafe von neun Mona-
ten.

     C.- Mit Schreiben vom 14. Juni 1999 stellte das Amt
für Justizvollzug des Kantons Zürich beim Kantonsgericht
St. Gallen den Antrag auf Strafausscheidung. Darauf
teilte das Kantonsgericht St. Gallen mit, die gewünschte
Strafausscheidung könne noch nicht vorgenommen werden,
weil eine staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil
vom 19. April 1999 eingereicht worden sei.

        Am 25. April 2000 informierte das Kantonsge-
richt St. Gallen das Amt für Justizvollzug des Kantons
Zürich über die Abweisung der staatsrechtlichen Be-
schwerde. Gleichzeitig teilte es mit, dass eine Straf-
ausscheidung nicht vorgenommen werden müsse, weil alle
Delikte, für welche A._______ schuldig gesprochen worden

sei, in die Probezeit der bedingten Entlassung fallen
würden.

     D.- Weil die beurteilten Delikte alle innerhalb der
Probezeit der bedingten Entlassung lagen, ordnete das
Justizvollzugsamt des Kantons Zürich am 10. Mai 2000 den
Vollzug des nicht verbüssten Strafrestes von 123 Tagen
der Strafe vom 21. November 1990 an. Unter explizitem
Hinweis auf die "gegebene Eile" verfügte das Justizvoll-
zugsamt den Vollzug des Strafrestes ohne A.________ vor-
her das rechtliche Gehör zu gewähren: Die
Verjährungsfrist von fünf Jahren für den Rückversetzung-
sentscheid gemäss Art. 38 Ziff. 4 Abs. 6 StGB wäre be-
reits am 12. Mai 2000 abgelaufen.

     E.- A.________ erhob gegen diesen Entscheid unter
anderem wegen Verletzung seines Anspruchs auf rech-
tliches Gehör rechtzeitig Rekurs. Er stellte ausserdem
das Gesuch um Akteneinsicht und er beantragte Frist, um
die Rekursschrift nach Einsicht in die Akten gegebe-
nenfalls zu ergänzen. Die Justizdirektion des Kantons
Zürich wies den Rekurs mit Verfügung vom 27. Juli 2000
ab. Die Akten stellte es dem Rekurrenten erst nachträg-
lich zur Verfügung.

     F.- Auf Beschwerde von A.________ hin hob das Ver-
waltungsgericht des Kantons Zürich am 6. Oktober 2000
diesen Entscheid wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs
durch die Rekursinstanz auf und wies die Sache an die
Rekursinstanz zurück.

     G.- Nachdem der Beschwerdeführer Einsicht in die
Akten genommen und die Rekursschrift ergänzt hatte, wies
die Justizdirektion den Rekurs mit Verfügung vom 31. Ja-
nuar 2001 erneut ab.

     H.- Die dagegen von A.________ erhobene Beschwerde
wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich am
18. Mai 2001 ab.

     I.- Ohne anwaltliche Vertretung führt A.________
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vor Bundesgericht mit den
Anträgen, der Entscheid des Verwaltungsgerichts sei auf-
zuheben und der Beschwerde sei aufschiebende Wirkung zu-
zuerkennen. Sinngemäss beantragt er den Verzicht auf den
Vollzug des Strafrestes von 123 Tagen. Ebenfalls
sinngemäss stellt er das Gesuch um unentgeltliche Rechts-
pflege.

     K.- Das Verwaltungsgericht beantragt die Abweisung
der Beschwerde.

          Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Letztinstanzliche kantonale Entscheide über
Fragen des nachträglichen Strafvollzugs unterliegen ge-
mäss Art. 98 lit. g OG der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
an das Bundesgericht. Der Beschwerdeführer hat als un-

mittelbar Betroffener ein schutzwürdiges Interesse an
der Aufhebung des angefochtenen Entscheids, weshalb er
zur Beschwerde legitimiert ist (Art. 103 lit. a OG). Die
Beschwerde ist rechtzeitig erhoben worden. Auf die Be-
schwerde ist daher einzutreten.

        b) Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann
die Verletzung von Bundesrecht aller Stufen, also auch
von Bundesverfassungsrecht, sowie Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens, nicht aber Unangemessenheit
gerügt werden (Art. 104 OG). Nachdem als Vorinstanz eine
richterliche Behörde entschieden hat, ist das Bundesge-
richt an die Feststellung des Sachverhaltes gebunden,
soweit dieser nicht offensichtlich unrichtig, unvoll-
ständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrens-
vorschriften ermittelt worden ist (Art. 105 Abs. 2 OG).

     2.- a) Soweit der Beschwerdeführer rügt, die kan-
tonalen Instanzen hätten vor dem Hintergrund seiner ge-
lungenen Resozialisierung und der langen Zeitdauer seit
den der Strafe zu Grunde liegenden Delikten vom Vollzug
der Reststrafe absehen sollen, ist die Beschwerde abzu-
weisen. Er unterstellt damit den kantonalen Behörden
einen Ermessensspielraum, welche diese im Rahmen von
Art. 38 Ziff. 4 StGB sowohl nach dem Wortlaut der Vor-
schrift wie auch nach dem Willen des Gesetzgebers nicht
haben. Sofern die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt
sind, ist der Vollzug einer Reststrafe zwingend und ohne
Rücksicht auf die persönlichen Verhältnisse des Betrof-
fenen anzuordnen. Es steht fest, dass die Voraussetzun-
gen für den Vollzug der Reststrafe am 10. Mai 1999 er-
füllt waren. Insoweit ist der vorinstanzliche Entscheid

nicht zu beanstanden. Vorliegend rügt der Beschwerdefüh-
rer jedoch in erster Linie, er sei in seinem in Art. 29
Abs. 2 BV kodifizierten Anspruch auf rechtliches Gehör
verletzt worden, weil er sich vor dem Rückversetzungs-
entscheid nicht habe äussern können.

        b) Einleitend stellt die Vorinstanz fest, dass
sich die Verjährungsfrist von fünf Jahren nach einhelli-
ger Auffassung von Lehre und Rechtsprechung auf den An-
ordnungszeitpunkt des Rückversetzungsentscheides be-
ziehe, nicht auf dessen Rechtskraft. Weiter stellt die
Vorinstanz fest, dass die verfügende Behörde den Be-
schwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör
verletzt habe, indem sie seine Rückversetzung in den
Strafvollzug  anordnete, ohne ihn vorher anzuhören. Das
Verwaltungsgericht geht jedoch unter Hinweis auf die
bundesgerichtliche Rechtsprechung davon aus, dass dieser
Verfahrensmangel, welcher die Anfechtbarkeit der fragli-
chen Verfügung, nicht aber deren Nichtigkeit zur Folge
habe, ausnahmsweise und unter bestimmten Umständen heil-
bar sei: Wenn die Rekursinstanz die Sache mit derselben
Kognition beurteile wie die verfügende Behörde und wenn
der Gehörsanspruch in einem Punkt verletzt sei, der auf
den Ausgang des Verfahrens keinen Einfluss habe. Diese
Bedingungen seien in casu erfüllt. Ausserdem habe der
verfügenden Behörde für den Rückversetzungsentscheid
kein Ermessen zugestanden, und der Beschwerdeführer habe
weder in der ergänzten Rekursschrift noch in der Be-
schwerde an das Verwaltungsgericht relevante und zu
berücksichtigende Gründe vorgebracht, welche gegen den
Vollzug der Reststrafe sprechen würden.

        c) Dagegen wendet der Beschwerdeführer ein,
dass der Vollzug des Strafrestes ausdrücklich ohne Ge-

währung des rechtlichen Gehörs verfügt worden sei; die-
ser Mangel sei nachträglich nicht heilbar, weil bei
rechtskonformem Vorgehen die Rückversetzung wegen Ver-
jährung nicht mehr hätte angeordnet werden können. Die
nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs sei eine
Alibiübung, die allein den Zweck habe, die offensicht-
liche Rechtsbeugung durch das Justizvollzugsamt nach-
träglich zu legalisieren.

     3.- a) Der in Art. 29 Abs. 2 BV statuierte Anspruch
auf rechtliches Gehör berechtigt eine Partei unter ande-
rem, sich vor Erlass eines in ihre Rechtsstellung ein-
greifenden Entscheids zu äussern.

        Grundsätzlich gilt der Gehörsanspruch nach bun-
desgerichtlicher Rechtsprechung als unbedingter formel-
ler Anspruch, dessen Verletzung die Aufhebung eines
diesbezüglich mangelhaften Entscheides zur Folge hat. In
bestimmten Konstellationen und unter bestimmten Bedin-
gungen ist es jedoch möglich, dass eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs im Verfahren vor einer oberen Instanz
geheilt werden kann (vgl. BGE 124 II 132 E. 2d; 118 Ib
111 E. 4b; 117 Ib 87 E. 4, mit Hinweisen). Diese Praxis
wird in der Wissenschaft teilweise kritisiert (vgl.
Georg Müller, Rechtsgleichheit, Kommentar zu Art. 4 BV,
Überarbeitung 1995, Rz. 103; Imboden/Rhinow/Krähenmann,
Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Nr. 87 B III;
zusammenfassende Darstellung bei Lorenz Kneubühler, Ge-
hörsverletzung und Heilung, ZBl 99/1998 S. 97-120).

        Die Heilung des Verfahrensmangels kommt jedoch
nur dann in Betracht, wenn dem Betroffenen durch die

erst nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs kein
Rechtsnachteil erwachsen ist. Eine Behörde darf nicht
unter gezielter Verletzung des rechtlichen Gehörs ein
Resultat erreichen, zu dem sie bei korrektem Vorgehen
nicht gelangen könnte. Genau dies macht der Beschwerde-
führer geltend, indem er ausführt, dass die Behörde bei
korrektem Vorgehen ab dem 10. Mai 2000 und vor Eintritt
der Verjährung die Rückversetzung in den Strafvollzug
gar nicht mehr hätte anordnen können. Es ist deshalb
vorfrageweise zu prüfen, ob das Amt für Justizvollzug
die Rückversetzung des Beschwerdeführers in den Straf-
vollzug am 10. Mai 2001 überhaupt noch rechtlich ein-
wandfrei hätte anordnen können. Nur wenn dies zu bejahen
wäre, müsste geprüft werden, ob in casu der Verfahrens-
mangel der Gehörsverletzung nachträglich geheilt worden
ist. Für den Fall, dass vor Eintritt der Verjährung am
12. Mai 2000 die rechtlich korrekte Anordnung der Rück-
versetzung gar nicht mehr möglich gewesen wäre, hätte
der Beschwerdeführer durch das unkorrekte Vorgehen der
Behörde einen schwerwiegenden Rechtsnachteil erlitten;
die Heilbarkeit der Gehörsverletzung fiele dann zum
vornherein ausser Betracht.

        b) Stehen erhebliche Interessen auf dem Spiel
und ist Gefahr im Verzug, so kann die zuständige Behörde
eine superprovisorische Verfügung erlassen, das heisst
ohne dem Betroffenen vorgängig das rechtliche Gehör zu
gewähren (vgl. Kölz/Bosshart/Röhl, Kommentar zum Verwal-
tungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Auflage
1999, § 6 Rz. 23, § 8 Rz. 45). Diesfalls genügt die
nachträgliche Gewährung des Gehörs den verfassungsrecht-
lichen Erfordernissen.

        Ob die für den Rückversetzungsentscheid dro-
hende Verjährung ein erhebliches Interesse ist, welches
den Erlass einer superprovisorischen Verfügung recht-
fertigen würde, muss in casu nicht entschieden werden.
Zwar war die zeitliche Dringlichkeit am 10. Mai 2001
offensichtlich gegeben, doch haben es allein die be-
teiligten Behörden zu vertreten, dass über die Rück-
versetzung des Beschwerdeführers in den Strafvollzug
erst an diesem Tag entschieden wurde und deshalb nur
noch unter Aufschub des Gehörsanspruchs des Betroffenen
überhaupt entschieden werden konnte: Der Vollzug der
Reststrafe hätte im ordentlichen Verfahren und mit vor-
gängiger Gewährung des rechtlichen Gehörs bereits un-
mittelbar im Anschluss an das Urteil des Kantonsgerichts
St. Gallen, auf jeden Fall aber im Laufe des Jahres 1999
angeordnet werden können. Die Einreichung einer staats-
rechtlichen Beschwerde hindert die Rechtskraft eines
kantonal letztinstanzlichen Strafurteils nicht. Auch
wäre die vom Amt für Justizvollzug im Juni 1999 bean-
tragte Strafausscheidung - die sich im Nachhinein über-
dies als gegenstandslos herausstellte, weil alle Delikte
während der Probezeit begangen worden waren - bereits im
Juni 1999 möglich gewesen. Unter diesen Umständen recht-
fertigt es sich nicht, auf das Institut der superprovi-
sorischen Verfügung zurückzugreifen, um die drohende
Verjährung abzuwenden. Wenn die Rückversetzung in den
Strafvollzug am 10. Mai 2000 in einem rechtlich korrek-
ten Verfahren gar nicht mehr möglich war, kann eine
nachträgliche Heilung der Gehörsverletzung nicht ange-
nommen werden. Es kann offen bleiben, wie zu entscheiden
wäre, wenn die Behörden den Eintritt der verjährungs-
rechtlich dringlichen Situation nicht zu vertreten
hätten.

        Anzumerken bleibt, dass eine Behörde, welche
eine superprovisorische Verfügung erlässt, das recht-
liche Gehör nachträglich so schnell wie möglich selbst
gewähren muss und nicht auf die Heilung in einem Rechts-
mittelverfahren vertrauen darf.

        Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen. Der
nachträgliche Vollzug der Reststrafe des Urteils vom
21. November 1990 ist wegen Eintritts der Verjährung
nicht mehr möglich.

     4.- Mit dem Entscheid in der Sache ist das Gesuch
um aufschiebende Wirkung für die Beschwerde hinfällig.
Bei diesem Verfahrensausgang ist auch das Gesuch um un-
entgeltliche Rechtspflege als gegenstandslos abzuschrei-
ben. Es sind keine Kosten zu erheben und keine Entschä-
digungen auszurichten.

           Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutge-
heissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Zürich vom 18. Mai 2001 aufgehoben. Der nach-
trägliche Vollzug des Strafrestes des Urteils vom
21. November 1990 wird wegen Eintritts der Verjährung
nicht mehr angeordnet.

     2.- Es werden keine Kosten erhoben.

     3.- Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwal-
tungsgericht (4. Abteilung) des Kantons Zürich sowie dem
Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement
schriftlich mitgeteilt.

                       _________

Lausanne, 13. November 2001

              Im Namen des Kassationshofes
           des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                     Der Präsident:

                 Der Gerichtsschreiber: