Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6A.49/2001
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6A.49/2001/fas

                 K A S S A T I O N S H O F
                 *************************

                      30. Oktober 2001

Es wirken mit: Bundesrichter Schubarth, Präsident des Kassa-
tionshofes, Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger, Kolly,
Bundesrichterin Escher und Gerichtsschreiber Luchsinger.
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                         In Sachen

A.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher
Dr. Josef Wyser, Bachstrasse 57, Aarau

                           gegen

Verwaltungsgericht des Kantons  A a r g a u

                         betreffend
    Führerausweisentzug, Fahren in angetrunkenem Zustand
                (Art. 17 Abs. 1 lit. b SVG),
    (Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des
     Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 4. Kammer,
                     vom 9. April 2001)

hat sich ergeben:

     A.- A.________, geb. 1964, wurde am 13. Dezember 1997
um 2.35 Uhr bei einer Verkehrskontrolle in Z.________ ange-
halten. Da in seinem Atem Alkoholgeruch auffiel, wurden ein
Atemlufttest vorgenommen, der positiv ausfiel, und eine
Blutprobe angeordnet, die eine rückgerechnete Blutalkohol-
konzentration (BAK) von mindestens 1,03 g/kg ergab.

        A.________ hat seinen Führerausweis 1983 erlangt.
Er war ihm 1986 für einen Monat wegen anderer Fahrfehler und
1991 für zwei Monate wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand
entzogen worden; 1994 erfolgte eine Verwarnung wegen Unacht-
samkeit.

     B.- Mit Urteil vom 1. Juli 1998 verurteilte das Be-
zirksgericht Aarau A.________ gestützt auf Art. 91 Abs. 1
SVG zu einer bedingten Gefängnisstrafe von fünf Tagen und
einer Busse von Fr. 1'000.--. Die von der Staatsanwaltschaft
und A.________ dagegen erhobenen Berufungen wies das Oberge-
richt des Kantons Aargau mit Urteil vom 4. November 1998 ab.

        Am 11. März 1999 verfügte das Strassenverkehrsamt
des Kantons Aargau einen Führerausweisentzug von acht Mona-
ten. Die von A.________ dagegen geführte Verwaltungsbeschwe-
rde wies das Departement des Innern des Kantons Aargau am
28. April 2000 ab. Auf kantonale Verwaltungsgerichtsbe-
schwerde hin setzte das Verwaltungsgericht die Entzugsdauer
mit Urteil vom 9. April 2001 auf sieben Monate herab.

     C.- A.________ führt eidgenössische Verwaltungsgericht-
sbeschwerde mit den Anträgen, das angefochtene Urteil sei
aufzuheben und die Entzugsdauer auf drei Monate festzu-
setzen. Er stellt ein Gesuch um aufschiebende Wirkung.

        Das Verwaltungsgericht hat unter Hinweis auf den
angefochtenen Entscheid auf Gegenbemerkungen verzichtet. Das
Bundesamt für Strassen (ASTRA) beantragt, die Beschwerde
gutzuheissen.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Der Beschwerdeführer bringt vor, die Vorinstanz
halte trotz Kritik des Bundesgerichts an der "Aargauer
Praxis" einer zeitlich gestaffelt abnehmenden Entzugsdauer
von 12 bis zwei Monaten nach Ablauf der Rückfallsfrist nach
Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG fest und bestimme die "Einsatz-
massnahme" nach diesem Schema, statt von einer Entzugsdauer
von zwei Monaten gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. b SVG auszu-
gehen. Damit verletze die Vorinstanz Bundesrecht.

        Sein Verschulden wiege eher leicht. Er habe die
strafbare Grenze der BAK um lediglich 0,23 %o überschritten
und ohne Fahrfehler eine kurze Innerortsstrecke von rund
1,5 km mit wenig Verkehr zurückgelegt. Im Strafverfahren sei
sein Verschulden als relativ leicht erachtet worden; daran
sei die Verwaltungsbehörde gebunden. Auch der sieben Jahre
zurückliegende Vorfall, als er mit einer BAK von 0,98 %o ein
Fahrzeug gelenkt habe, sei von den Behörden als leicht ein-
gestuft worden. Er geniesse einen sehr guten allgemeinen
Leumund. Die Vorinstanz habe ihr Ermessen überschritten,
wenn sie dennoch von einem schweren Verschulden ausgehe.

        Die Vorinstanz anerkenne selber, dass ihm die
Berufsausübung durch einen Führerausweisentzug geradezu

verunmöglicht würde; er sei erhöht massnahmeempfindlich.
Seit dem Vorfall seien 3 1/2 Jahre vergangen, während derer
er sich korrekt verhalten habe. Dies verringere die Not-
wendigkeit einer Massnahme; in BGE 120 Ib 504 habe das
Bundesgericht nach fünfjähriger Verfahrensdauer sogar die
gesetzliche Mindestentzugsdauer unterschritten.

        b) Das ASTRA hält in seiner Vernehmlassung das
Vorgehen der Vorinstanz ebenfalls für zu schematisch. Das
erneute Fahren in angetrunkenem Zustand sechs Jahre und elf
Monate nach Verfügung einer Massnahme für dasselbe Vergehen
wirke schulderhöhend, doch dürfe dieser zeitliche Faktor im
Vergleich mit den anderen Kriterien nicht überbewertet
werden. Ausgangspunkt sei die gesetzliche Mindestentzugs-
dauer von zwei Monaten nach Art. 17 Abs. 1 lit. b SVG. Es
sei angesichts der Feststellungen der Vorinstanz nicht nach-
vollziehbar, weshalb diese auf eine nur mittelgradig erhöhte
Massnahmeempfindlichkeit schliesse. Die Entzugsdauer sei dem
Einzelfall nicht angemessen.

        c) Die Vorinstanz schützt die "Aargauer Praxis",
sofern sie nicht zu schematisch angewandt wird; der Richt-
wert stelle keine absolute Untergrenze für den günstigsten
Fall dar. Hingegen erlaube die Staffelung die Gleichbehand-
lung von Fahrzeugführern, die kurze Zeit nach Ablauf der
fünfjährigen Frist erneut in angetrunkenem Zustand ein Fahr-
zeug lenken. Der Massstab könne auf halbjährliche Stufen
(entsprechend einem Monat Entzugsdauer) verfeinert werden;
die Zeitdauer seit dem letzten Vergehen stelle ein, aber
neben Verschulden und übrigem automobilistischem Leumund
nicht das einzige, Kriterium dar. Im Sinne eines Richtmasses
könne von einer Entzugsdauer nach "Tarif" ausgegangen
werden, im Falle des Beschwerdeführers von acht Monaten,
entsprechend den sieben Jahren seit Ablauf der letzten Mass-
nahme wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand.

        Im Gegensatz zum Beschwerdeführer geht die Vor-
instanz von einem schweren Verschulden aus. Der Beschwerde-
führer habe mindestens eventualvorsätzlich gehandelt, da er
sein Fahrzeug trotz des kurzen Heimwegs von 1,5 km nicht
beim Restaurant habe stehen lassen wollen. Sein automobi-
listischer Leumund sei getrübt.

        Der Beschwerdeführer sei mittelgradig erhöht mass-
nahmeempfindlich. Zur Zeit des Vorfalls habe er temporär
gearbeitet, da er sich in Ausbildung befunden habe. 1998
habe er das eidgenössische Diplom erworben und arbeite seit-
her selbständig als Elektroinstallateur, mit zahlreichen
notwendigen Fahrten. Durch den Entzug des Führerausweises
werde ihm die Berufsausübung geradezu verunmöglicht. Damit
scheine eine Reduktion der Entzugsdauer von acht auf sieben
Monate angezeigt.

     2.- a) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vor-
instanz sei zu Unrecht von einer Einsatzdauer von acht
Monaten nach "Tarif" ausgegangen.

        Bei Regelverstössen im Strassenverkehr ohne Be-
teiligung von Dritten, wie das Fahren im angetrunkenen
Zustand oder mit überhöhter Geschwindigkeit, sehen sich die
Behörden mit einer grossen Anzahl gleichartiger Fälle kon-
frontiert. Richtlinien zur Bemessung von Massnahmen können
helfen, solche Fälle schneller zu bearbeiten, und sie können
einen Beitrag zur gleichmässigen Anwendung des Rechts
leisten (vgl. René Schaffhauser, Grundriss des schweize-
rischen Strassenverkehrsrechts Band III, Bern 1995,
N 2414ff.).

        Das Bundesgericht hat sich schon wiederholt zur
sogenannten "Aargauer Praxis" oder anderen Berechnungs-
schemen für strassenverkehrsrechtliche Massnahmen geäussert

und dabei festgehalten, dass solche standardisierten "Ta-
rife" Bundesrecht verletzen, wenn sie zu schematisch ange-
wendet und die Umstände des Einzelfalls nicht mehr genügend
berücksichtigt werden (unveröffentlichtes Urteil des Kassa-
tionshofes i.S. J., 6A.11/1992 E. 3b; BGE 123 II 63 E. 3c/aa
S. 66f.; 124 II 44 E. 1).

        Die Vorinstanz versucht, dieser Rechtsprechung
Rechnung zu tragen, indem sie die Entzugsdauer nach "Tarif"
als Einsatzmassnahme verwendet und nach den Umständen des
Einzelfalls anpasst. Dennoch führt die Einsatzdauer von acht
Monaten hier zu einer unverhältnismässig langen Entzugs-
dauer. Der Einsatzwert erweist sich als zu hoch und erlaubt
keine ausreichende Anpassung.

        Ausgangspunkt der Bemessung einer Massnahme muss
der vom Gesetz vorgegebene Wert sein. In Bezug auf die Dauer
des Entzuges hat der Gesetzgeber eine klare Abstufung vorge-
nommen: Bei einem Rückfall innert fünf Jahren ist der Füh-
rerausweis für mindestens ein Jahr zu entziehen (Art. 17
Abs. 1 lit. d SVG), danach für mindestens zwei Monate
(Art. 17 Abs. 1 lit. b SVG). Nach Ablauf der fünf Jahre darf
der Faktor Zeit nicht mehr so stark gewertet werden, ausser
in offensichtlichen, sehr knappen Fällen. Die Einsatzdauer
muss so gewählt werden, dass die Entzugsdauer unter Anwen-
dung der Kriterien von Art. 33 Abs. 2 VZV bis auf den ge-
setzlichen Mindestwert hinab angepasst werden kann, wenn die
Voraussetzungen dafür gegeben sind.

        b) Der Beschwerdeführer verlangt zudem eine Verkür-
zung des Warnungsentzugs aufgrund der langen Verfahrens-
dauer.

        Die Erziehung und Besserung eines Täters setzt
voraus, dass die Massnahme in einem angemessenen zeitlichen
Zusammenhang mit der sanktionierten Regelverletzung steht.

Ausserdem wird mit dem Zeitablauf die Erforderlichkeit einer
erzieherischen Sanktion relativiert, wenn sich der Täter in
dieser Zeit wohl verhalten hat (BGE 127 II ... E. 3d). Das
Bundesgericht hat eine Verkürzung der Entzugsdauer in Aus-
nahmefällen für möglich erklärt, wenn das Verfahren verhält-
nismässig lange gedauert hat, der Betroffene sich während
dieser Zeit wohl verhalten hat und ihn an der langen Verfah-
rensdauer keine Schuld trifft (BGE 120 Ib 504 E. 4e S. 510).
Welche Verfahrensdauer als überlang zu gelten hat, lässt
sich nicht abstrakt und in absoluten Zahlen ausdrücken. Für
die Beantwortung der Frage sind die konkreten Umstände des
Einzelfalls zu berücksichtigen. Die strafrechtlichen Verjäh-
rungsregeln sind sinngemäss beizuziehen (BGE 127 II ...
E. 3d). Das Bundesgericht hat im Falle einer groben Ver-
letzung der Verkehrsregeln eine Dauer des kantonalen Verfah-
rens von fünf Jahren als überlang erachtet (BGE 120 Ib 504
E. 3), im Falle einer blossen Übertretung schon eine solche
von viereinhalb Jahren (BGE 127 II ... E. 3d).

        Im vorliegenden Fall hat das kantonale Beschwerde-
verfahren unverhältnismässig viel Zeit beansprucht. Sowohl
das Departement des Innern wie das Verwaltungsgericht benö-
tigten je rund ein Jahr, um zu einem Entscheid zu gelangen,
obschon der Sachverhalt unbestritten und keine weiteren
Ermittlungen vorzunehmen waren. Dies erscheint als zu lang
für diese Verfahrensschritte.

        Gesamthaft betrachtet nahm das kantonale Verfahren
rund drei Jahre und vier Monate in Anspruch. Der Beschwerde-
führer ist im Strafverfahren wegen einer groben Verletzung
der Verkehrsregeln verurteilt worden (Art. 91 Abs. 1 SVG).
Damit liegt die Gesamtverfahrensdauer im Verhältnis zur
Rechtsverletzung noch unter der Schwelle, ab welcher nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichts die Entzugsdauer zu
kürzen ist, auch wenn einzelne Verfahrensschritte von über-
mässiger Dauer waren.

        c) Nach den verbindlichen Feststellungen der Vor-
instanz (Art. 105 Abs. 2 OG) lenkte der Beschwerdeführer
sein Fahrzeug mit einer BAK von 1,03 Gewichtspromillen. Sein
Verschulden wiegt damit nicht leicht. Ab einer BAK von 0,8%o
muss mit schwerwiegenden, auch von einem geübten Lenker
nicht mehr kompensierbaren Einbussen in der Fahrtauglichkeit
ausgegangen werden (René Schaffhauser, a.a.O. N 2352). Damit
spricht es auch nicht zu Gunsten des Beschwerdeführers, dass
er keine konkreten Fahrfehler begangen hat und glücklicher-
weise niemand zu Schaden gekommen ist. Der Verwaltungsbe-
hörde waren alle relevanten Angaben zugänglich, weshalb sie
nicht an die rechtliche Würdigung der Strafbehörde gebunden
ist (vgl. BGE 124 II 103 E. 1c/bb). Der automobilistische
Leumund des Beschwerdeführers war nach einem Warnungsentzug
wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand 1991 und einer Ver-
warnung wegen Unachtsamkeit 1994 nicht mehr ungetrübt.

        Hingegen hält die Vorinstanz fest, dass der Be-
schwerdeführer beruflich auf sein Fahrzeug angewiesen und
"eine Berufsausübung ohne Führerausweis nicht nur unzumutbar
erschwert, sondern geradezu verunmöglicht und mit einer
existentiellen Erwerbseinbusse verbunden" sei. Damit ist von
einer erhöhten Massnahmeempfindlichkeit des Beschwerdefüh-
rers auszugehen.

        d) Das Bundesgericht hat in BGE 124 II 44 in einem
ähnlich liegenden Fall mit noch schwererer Trunkenheit (BAK
von 1,28%o) und neuerlicher Fahrt in angetrunkenem Zustand
fünf Jahre und neun Monate nach einer ersten Massnahme einen
Warnungsentzug von vier Monaten verfügt. Geht man von einer
Mindestentzugsdauer von zwei Monaten gemäss Art. 17 Abs. 1
lit. b SVG aus, erscheint im vorliegenden Fall aus den dar-
gelegten Gründen eine Entzugsdauer von drei Monaten als an-
gemessen, wie sie der Beschwerdeführer selber beantragt
(Art. 114 Abs. 1 OG).

     3.- a) Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde
als begründet und ist gutzuheissen. Hebt das Bundesgericht
den angefochtenen Entscheid auf, so entscheidet es selbst in
der Sache oder weist diese zu neuer Beurteilung an die Vor-
instanz zurück (Art. 114 Abs. 2 OG). Die entscheidwesent-
lichen Elemente liegen vor. Damit kann umgehend entschieden
werden, dass dem Beschwerdeführer der Führerausweis für die
Dauer von drei Monaten entzogen wird. Einzig für die
Regelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen im kantonalen
Verfahren ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.

        b) Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden keine
Kosten erhoben (Art. 156 Abs. 1 und 2 OG). Dem Beschwerde-
führer steht eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 2
OG).

        c) Im Hinblick auf Erwägung 2b ist das Urteil auch
dem Regierungsrat und der Justizkommission des Grossen Rates
des Kantons Aargau zuzustellen.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen
und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau
vom 9. April 2001 aufgehoben.

     2.- Dem Beschwerdeführer wird der Führerausweis für die
Dauer von drei Monaten entzogen. Im Übrigen wird die Sache
zur Neuverlegung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des
kantonalen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons
Aargau zurückgewiesen.

     3.- Für das Verfahren vor Bundesgericht werden keine
Kosten erhoben.

     4.- Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädi-
gen.

     5.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Ver-
waltungsgericht, dem Strassenverkehrsamt sowie dem Regie-
rungsrat und der Justizkommission des Grossen Rates des
Kantons Aargau und dem Bundesamt für Strassen schriftlich
mitgeteilt.

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Lausanne, 30. Oktober 2001

                Im Namen des Kassationshofes
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: