Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.792/2001
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1P.792/2001/sta

Urteil vom 22. März 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Ersatzrichterin Geigy-Werthemann,
Gerichtsschreiberin Tophinke.

Verein gegen Tierfabriken Schweiz VgT, 9546 Tuttwil,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Jean-Rodolphe Spahr,
Walchestrasse 27, Postfach 564, 8035 Zürich,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8500 Frauenfeld,
Anklagekammer des Kantons Thurgau, Marktgasse 9, Postfach 339, 9220
Bischofszell.

Art. 29 Abs. 2 BV (Aufsichtsbeschwerde)

(Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss der Anklagekammer des
Kantons Thurgau vom 11. September 2001)
Sachverhalt:

A.
Der Verein gegen Tierfabriken Schweiz VgT, vertreten durch seinen Präsidenten
K.________, reichte am 14. Februar 2001 bei der Staatsanwaltschaft des
Kantons Thurgau gegen Unbekannt Strafanzeige ein wegen Anstiftung zu
Tierquälerei im Internet. Die Staatsanwaltschaft leitete die Anzeige an das
Bundesamt für Polizei weiter. Mit Schreiben vom 28. März 2001 teilte dieses
dem Anzeiger mit, dass sich der Tatort in dieser Angelegenheit in den USA und
nicht in der Schweiz befinde. Es liege im Ermessen der Justizbehörden der
USA, die Echtheit der inkriminierten Internet-Site zu überprüfen und - falls
sie gegen das amerikanische Gesetz verstosse - entsprechende richterliche
Massnahmen zu verfügen.

Mit Schreiben vom 5. Juli 2001 beschwerte sich der Verein gegen Tierfabriken
beim Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau darüber, dass
die Staatsanwaltschaft in amtspflichtverletzender Weise kein Strafverfahren
eröffnet und die Anzeige auch nicht der zuständigen Thurgauer
Strafuntersuchungsbehörde weitergeleitet habe. Das Departement betrachtete
dieses Schreiben als Aufsichtsbeschwerde, übermittelte dieses der
Anklagekammer des Kantons Thurgau als der in dieser Sache zuständigen
Aufsichts- und Beschwerdeinstanz und orientierte den Verein gegen
Tierfabriken am 9. Juli 2001 über dieses Vorgehen.

Von der Anklagekammer zur Vernehmlassung eingeladen, nahm die
Staatsanwaltschaft mit Eingabe vom 16. Juli 2001 zur Aufsichtsbeschwerde
Stellung und beantragte, der Verein gegen Tierfabriken sei in geeigneter Form
zu rügen und auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, alles unter
Kostenfolge. Mit Beschluss vom 11. September 2001 trat die Anklagekammer auf
die Beschwerde nicht ein (Ziffer 1) und auferlegte dem Beschwerdeführer eine
Verfahrensgebühr von Fr. 500.-- (Ziffer 2).

B.
Gegen diesen Beschluss hat der Verein gegen Tierfabriken am 24. Dezember 2001
staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Er beantragt
Aufhebung der Ziffer 2, eventuell der Ziffern 1 und 2 des angefochtenen
Beschlusses. Er rügt eine Verletzung der Petitions- und
Meinungsäusserungsfreiheit gemäss der Bundesverfassung und der Europäischen
Menschenrechtskonvention. Ferner macht er eine Missachtung des Willkürverbots
sowie des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend.

Die Staatsanwaltschaft sowie die Anklagekammer des Kantons Thurgau beantragen
Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob auf
eine Beschwerde einzutreten ist (BGE 127 I 92 E. 1 S. 93).

1.2 Gemäss § 5 Abs. 1 des thurgauischen Gesetzes über die Strafrechtspflege
vom 30. Juni 1970 / 5. November 1991 (Strafprozessordnung) ist die
Anklagekammer oberste Aufsichts- und Beschwerdeinstanz im
Untersuchungsverfahren. Der angefochtene Beschluss ist somit ein
letztinstanzlicher kantonaler Endentscheid, gegen den kein anderes
eidgenössisches Rechtsmittel zur Verfügung steht.

1.3 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts kann der Entscheid einer
Behörde, auf eine Aufsichtsbeschwerde nicht einzutreten, sie abzuweisen oder
ihr keine Folge zu geben, nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten
werden. Dem Aufsichtsmassnahmen ablehnenden Beschluss fehlt der
Verfügungscharakter, da er keinen Akt darstellt, der ein Verhältnis zwischen
der Verwaltung und einem Bürger verbindlich regelt. Zugleich geht dem
Aufsichtsbeschwerdeführer das nach Art. 88 OG vorausgesetzte rechtlich
geschützte Interesse ab, da die Einreichung einer Aufsichtsbeschwerde keinen
Anspruch auf materielle Prüfung und Erledigung vermittelt (BGE 121 I 42 E. 2a
S. 45; 87 E. 1a S. 90).

Die Anklagekammer des Kantons Thurgau behandelte den Brief des
Beschwerdeführers vom 5. Juli 2001 als "Aufsichtsbeschwerde" im Sinne der §§
71 ff. des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 23. Februar 1981
(VRPG). Im Gegensatz zu der in §§ 74 f. VRPG geregelten Anzeige, die
jedermann offen steht und bei welcher dem Anzeiger im entsprechenden
Verfahren keine Parteistellung zukommt, stellt die "Aufsichtsbeschwerde"
gemäss § 71 VRPG keine Aufsichtsbeschwerde im üblichen Sinne des Wortes dar,
sondern ein (ausserordentliches) förmliches Rechtsmittel, zu welchem nur
legitimiert ist, wer ein direktes rechtliches Interesse nachweist. Im
entsprechenden Verfahren sind die allgemeinen Verfahrensgrundsätze zu
beachten (Urs Haubensak/Peter Litschgi/Philipp Stähelin, Kommentar zum Gesetz
über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Frauenfeld 1984, S.149
ff.). Da es sich bei der "Aufsichtsbeschwerde" im Sinne von § 71 VRPG um ein
förmliches Rechtsmittel handelt, ist davon auszugehen, dass dem
Beschwerdeführer im Verfahren Parteistellung zukommt und er über einen
Erledigungsanspruch verfügt. Auch wenn die Anklagekammer dem Beschwerdeführer
die Legitimation zur "Aufsichtsbeschwerde" im Sinne von § 71 VRPG absprach,
ändert das nichts daran, dass sie dessen Eingabe in einem entsprechenden
Verfahren behandelte und ihm dafür eine Verfahrensgebühr von Fr. 500.--
auferlegte. Der Beschluss  der Anklagekammer ist demzufolge mit
staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar.

2.
2.1Der Verein gegen Tierfabriken bringt vor, ihm sei das rechtliche Gehör
verweigert worden, da er nicht davon in Kenntnis gesetzt worden sei, dass die
Anklagekammer bei der Staatsanwaltschaft eine Vernehmlassung eingeholt habe.
Er habe keine Möglichkeit gehabt, sich dazu zu äussern.

2.2 Der in Art. 29 Abs. 2 BV gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör
umfasst das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine
Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern (BGE 127 I 54 E.
2b S. 56). Nach konstanter Praxis des Bundesgerichts muss eine Vernehmlassung
einer Behörde dem Beschwerdeführer nur dann zugestellt und ihm ein Recht
eingeräumt werden, sich dazu zu äussern, wenn in der Vernehmlassung neue und
erhebliche Gesichtspunkte geltend gemacht werden, zu denen der
Beschwerdeführer noch nicht Stellung nehmen konnte (BGE 111 Ia 2 E. 3 S. 3;
114 Ia 307 E. 4b S. 314; 119 V 317 E. 1 S. 323; 121 I 102, nicht publ. E.
3b). Nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte beinhaltet der in Art. 6 Ziff. 1 EMRK verankerte Anspruch auf
ein faires Verfahren das Recht der Parteien, von sämtlichen einem Gericht
eingereichten Eingaben und Vernehmlassungen Kenntnis zu erhalten und zu
diesen Stellung nehmen zu können. Dies gilt unabhängig davon, ob diese
Dokumente nach Auffassung des entscheidenden Gerichts in tatsächlicher oder
rechtlicher Hinsicht neue Vorbringen enthalten und ob die Stellungnahmen
effektiv Eingang in das Urteil gefunden haben (EGMR-Urteile Ziegler c.
Schweiz vom 21. Februar 2002, § 38; Nideröst-Huber c. Schweiz vom 18. Februar
1997, VPB 1997 Nr. 108 S. 955 ff., §§ 27 und 29; F.R. c. Schweiz vom 28. Juni
2001, VPB 2001 Nr. 129 S. 1347 ff., §§ 37 und 39).

Es ist fraglich, ob die vorliegende Angelegenheit trotz der Kostenauflage
überhaupt in den Anwendungsbereich der in Art. 6 Ziff. 1 EMRK verankerten
Verfahrensgarantien fällt, da der Beschwerdeführer mit seiner Eingabe in
erster Linie öffentliche Interessen an einer Strafverfolgung geltend machte.
Die Frage kann jedoch offen bleiben, da eine Verweigerung des rechtlichen
Gehörs gemäss Art. 29 Abs. 2 BV anzunehmen ist. Mit ihren Erläuterungen zur
fehlenden Beschwerdelegitimation und ihrem Antrag auf Nichteintreten unter
Kostenfolge regte die Staatsanwaltschaft an, die Eingabe des
Beschwerdeführers als förmliches Rechtsmittel zu behandeln. Ferner beantragte
sie, den Beschwerdeführer in geeigneter Form zu rügen. Die Anklagekammer nahm
in der Folge die vom Departement für Justiz und Sicherheit als
Aufsichtsbeschwerde betitelte Eingabe des Beschwerdeführers als
"Aufsichtsbeschwerde" im Sinne von § 71 VRPG an die Hand und setzte sich in
ihrem Entscheid ausdrücklich mit der Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft
auseinander. Auch wenn die Anklagekammer keine disziplinarischen Massnahmen
gegen den Beschwerdeführer verhängte, ist dieser zumindest durch die
Kostenauflage beschwert. Indem die Anklagekammer dem Beschwerdeführer keine
Gelegenheit gab, sich zur Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft, welche
wesentliche Gesichtspunkte enthielt, zu äussern, verletzte sie dessen
Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV.

Da eine Verletzung des Gehörsanspruchs vorliegt, brauchen die weiteren
Verfassungsrügen nicht mehr geprüft zu werden.

3.
Nach dem Gesagten erweist sich die staatsrechtliche Beschwerde als begründet.
Der Beschluss der Anklagekammer des Kantons Thurgau vom 11. September 2001
ist somit aufzuheben. Es werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 156 Abs. 2
OG). Der Kanton Thurgau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss der
Anklagekammer des Kantons Thurgau vom 11. September 2001 aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Thurgau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und der
Anklagekammer des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. März 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: