Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.769/2001
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1P.769/2001/sch

Urteil vom 2. Mai 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Bundesrichter Fonjallaz und
Gerichtsschreiberin Tophinke.

X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Schilliger,
Kantonsstrasse 40, 6048 Horw,

gegen

Amtsstatthalteramt Luzern, Abteilung Luzern-Land,
Eichwilstrasse 2, Postfach, 6011 Kriens,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer,
Postfach, 6002 Luzern.

unentgeltliche Rechtspflege

(Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Luzern, II. Kammer, vom 26. Oktober 2001)
Sachverhalt:

A.
Am 20. April 2001 erhob X.________, vertreten durch Rechtsanwalt Peter
Schilliger, beim Amtsstatthalteramt Luzern-Land Strafklage gegen Y.________
wegen Ehrverletzung. Gleichzeitig ersuchte er um unentgeltliche Rechtspflege
(unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung). Y.________ wurde
beschuldigt, Ende Januar 2001 den Privatkläger auf dem Parkplatz vor dem
Eingang der Fussballanlage Kleinfeld in Kriens als "Lügner" und "Dubel"
beschimpft und mit anderen Fluchwörtern eingedeckt zu haben. Die Tat sei vor
laufender Kamera des Schweizer Fernsehens DRS geschehen und am 2. Februar
2001 in der Sendung "Quer" ausgestrahlt worden.

Das Amtsstatthalteramt forderte die Klägerschaft am 1. Mai 2001 auf, den
Weisungsschein des Friedensrichters nachzureichen. Bereits vor Durchführung
der anbegehrten Aussöhnungsverhandlung vor dem Friedensrichter einigten sich
die Parteien am 7./8. Mai 2001 aussergerichtlich. Der Beschuldigte
verpflichtete sich, eine Genugtuungssumme von Fr. 1'000.-- zu bezahlen, der
Privatkläger, den Strafantrag zurückzuziehen. Ferner vereinbarten die
Parteien, die friedensrichterlichen und amtsstatthalterischen
Verfahrenskosten hälftig zu teilen und die Partei- und Anwaltskosten
wettzuschlagen. Am 10. Mai 2001 orientierte der Anwalt des Privatklägers das
Amtsstatthalteramt über die getroffene Vereinbarung.

Das Amtsstatthalteramt stellte am 19. Juli 2001 das Verfahren ein und wies
das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ab. Entsprechend der
aussergerichtlichen Vereinbarung auferlegte es den Parteien je die Hälfte der
amtlichen Untersuchungskosten von insgesamt Fr. 150.--, also je Fr. 75.--,
und verpflichtete den Privatkläger, die Kosten seines Anwaltes selber zu
tragen. Die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege wurde damit
begründet, dass im vorliegenden Strafverfahren über das entsprechende Gesuch
nicht entschieden werden könne. § 285c Abs. 2 des Luzerner Gesetzes vom 3.
Juni 1957 über die Strafprozessordnung (StPO/LU) schreibe verbindlich vor,
dass bei Vergehen gegen die Ehre der Amtsstatthalter in jedem Fall erst nach
Durchführung des Aussöhnungsversuchs vor dem Friedensrichter über ein Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege entscheide. Hier habe ein Aussöhnungsversuch
gar nicht stattgefunden. Die Strafklage sei vielmehr bereits vorher
zurückgezogen worden. Das Obergericht des Kantons Luzern bestätigte am 26.
Oktober 2001 auf Rekurs des Privatklägers hin die angefochtene Verweigerung
der unentgeltlichen Rechtspflege für das Verfahren vor dem Amtsstatthalter.
Hingegen gewährte es diese für das Rekursverfahren.

B.
Mit Eingabe vom 7. Dezember 2001 hat X.________ gegen den obergerichtlichen
Entscheid staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht erhoben. Er stellt
folgende Anträge:
"1. Die Ziffern 1, 2 und 4 des Rechtsspruches des Entscheides des
Ober- gerichts des Kantons Luzern vom 26.10.2001 seien aufzuheben.

2.  Dem Beschwerdeführer sei für die amtlichen Kosten (inklusive
Friedens-  richterkosten) die unentgeltliche Rechtpflege zu gewähren.

3.  Eventuell sei die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zu- rückzuweisen.

4.  Dem Beschwerdeführer sei im bundesgerichtlichen Verfahren die
vollum- fängliche unentgeltliche Rechtspflege zu erteilen."

Der Beschwerdeführer erachtet die Verweigerung der unentgeltlichen
Prozessführung für das Verfahren vor dem Amtsstatthalter als Verletzung
seines Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege gemäss Art. 29 Abs. 3 BV
sowie als Verstoss gegen das Verbot des überspitzten Formalismus im Sinne von
Art. 29 Abs. 1 BV. Vor Bundesgericht nicht angefochten ist die Nichtgewährung
der unentgeltlichen Verbeiständung für das Verfahren vor dem Amtsstatthalter.

Das Obergericht des Kantons Luzern beantragt, die staatsrechtliche Beschwerde
abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Amtsstatthalteramt Luzern-Land
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob auf
eine Beschwerde einzutreten ist (BGE 127 I 92 E. 1 S. 93).

1.2 Die staatsrechtliche Beschwerde ist, abgesehen von hier nicht
zutreffenden Ausnahmen, rein kassatorischer Natur. Mit ihr kann grundsätzlich
nur die Aufhebung des angefochtenen Entscheides verlangt werden (BGE 124 I
327 E. 4a S. 332). Soweit der Beschwerdeführer dem Bundesgericht beantragt,
ihm sei für die im erstinstanzlichen Verfahren entstandenen amtlichen Kosten
(inklusive Friedensrichterkosten) die unentgeltliche Rechtspflege zu
gewähren, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden.

1.3 Der Beschwerdeführer bringt ferner erstmals vor Bundesgericht vor, er
habe am 16. Mai 2001 Friedensrichterkosten von Fr. 100.-- bezahlt. Da das
Verfahren vor dem Friedensrichter notwendig sei, um überhaupt einen
Ehrverletzungsprozess anhängig machen zu können, fielen auch die
entsprechenden Kosten unter die unentgeltliche Prozessführung.

Aus den Akten geht hervor, dass der Beschwerdeführer die Kosten des
Friedensrichters für die Abschreibung des Verfahrens bezahlt hat
(Protokollvermerk des Amtsstatthalteramtes vom 26. Juni 2001 bezüglich
telefonischer Nachfrage beim Friedensrichter von Kriens, Akten des
Amtsstatthalteramtes, act. 8). Nicht aktenmässig belegt ist jedoch die Höhe
der bezahlten Abschreibungsgebühr. Gemäss § 258b Abs. 4 StPO/LU werden bei
Vergehen gegen die Ehre die amtlichen Kosten des Aussöhnungsversuchs zu den
Untersuchungskosten gerechnet. Hingegen werden Vertretungskosten vor dem
Friedensrichter nicht vergütet. Die unentgeltliche Rechtspflege befreit nach
§ 285b StPO/LU den Privatkläger insbesondere von der Pflicht zur Bezahlung
der Untersuchungskosten. Somit umfasst der Anspruch auf unentgeltliche
Rechtspflege gemäss kantonalem Recht auch die Befreiung von der Pflicht zur
Bezahlung der Friedensrichterkosten. Der Beschwerdeführer hat im
Rekursverfahren vor Obergericht indessen nicht gerügt, das Amtsstatthalteramt
hätte ihm auch im Hinblick auf die bereits bezahlte friedensrichterliche
Abschreibungsgebühr die unentgeltliche Prozessführung gewähren müssen.
Anfechtungsobjekt im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren ist der
letztinstanzliche kantonale Entscheid. Vor Bundesgericht kann der
Prozessgegenstand nicht wieder ausgeweitet werden. Insoweit der
Beschwerdeführer sinngemäss vorbringt, die (bereits erfüllte) Verpflichtung
zur Bezahlung der friedensrichterlichen Abschreibungskosten verletze seinen
verfassungsmässigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im Sinne von
Art. 29 Abs. 3 BV, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden.

1.4Ansonsten sind die Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt. Auf die
staatsrechtliche Beschwerde ist unter den genannten Vorbehalten einzutreten.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt, die Anwendung von § 285c Abs. 2 StPO/LU durch
die kantonalen Instanzen verletze seinen verfassungsmässigen Anspruch auf
unentgeltliche Rechtspflege im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV und komme einem
überspitzten Formalismus gleich, welcher gemäss Art. 29 Abs. 1 BV nicht
geschützt werden könne. Er habe mit dem Rückzug des Aussöhnungsgesuchs
lediglich Kosten minimieren wollen, welche bei Gutheissung des Gesuchs um
unentgeltliche Rechtspflege vom Staat hätten getragen werden müssen.

2.2 Art. 285c StPO/LU regelt die Zuständigkeit für die Beurteilung von
Gesuchen um unentgeltliche Rechtspflege. Gemäss Abs. 1 lit. a dieser
Bestimmung ist während des Untersuchungsverfahrens der Amtsstatthalter für
die Beurteilung solcher Gesuche zuständig. Nach § 285c Abs. 2 StPO/LU
entscheidet bei Vergehen gegen die Ehre der Amtsstatthalter über ein Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege nach der Einreichung der Klage, in jedem Fall
aber erst nach der Durchführung des Aussöhnungsversuchs vor dem
Friedensrichter. Da vorliegend ein solcher nicht stattgefunden hatte, die
Strafklage vielmehr vor der geplanten Friedensrichterverhandlung
zurückgezogen worden war, schloss der Amtsstatthalter aus der genannten
Bestimmung, dass nicht über das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
entschieden werden könne. Gemäss der aussergerichtlichen Vereinbarung
auferlegte er die bisher entstandenen amtlichen Untersuchungskosten den
Parteien je zur Hälfte. Das Obergericht schützte diesen Entscheid mit der
Begründung, § 285 Abs. 2 StPO/LU befreie den Privatkläger trotz eines
Gesuches um unentgeltliche Rechtspflege nicht von der Bevorschussung der
Friedensrichterkosten. Über ein solches Gesuch werde erst nach Durchführung
des Aussöhnungsversuchs entschieden (§ 285c Abs. 2 StPO/LU). Die Untersuchung
habe hier gar nicht durchgeführt werden müssen und der Beschwerdeführer habe
vergleichsweise einen Teil der Untersuchungskosten übernommen. Das UR-Zeugnis
datiere zudem erst vom 14. August 2001 und habe demnach nicht vom
Amtsstatthalter geprüft werden können.

2.3 Auch wenn sich die Parteien im vorliegenden Fall aussergerichtlich
einigen konnten und deshalb die Durchführung der friedensrichterlichen
Aussöhnungsverhandlung und des Untersuchungsverfahrens nicht mehr notwendig
war, wurden mit der Einreichung der Strafklage beim Amtsstatthalteramt
Luzern-Land bzw. dem Aussöhnungsgesuch beim Friedensrichteramt Kriens
entsprechende Verfahren eröffnet, wegen Gegenstandslosigkeit dann jedoch
abgeschrieben bzw. eingestellt. Die entsprechenden Abschreibungs- bzw.
Untersuchungskosten wurden dem Beschwerdeführer anteilsmässig auferlegt.
Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen
Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Die gleichen Voraussetzungen für
die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sieht auch das kantonale Recht
vor (§ 285a StPO/LU). Die unentgeltliche Rechtspflege befreit nach § 285b
Abs. 1 StPO/LU den Privatkläger von der Bezahlung der Untersuchungskosten.
Vorliegend prüfte der Amtsstatthalter gar nicht, ob die Voraussetzungen für
die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gemäss kantonalem bzw.
Verfassungsrecht vorlagen. Aufgrund der Akten muss davon ausgegangen werden,
dass dies der Fall war. Wie auch das Obergericht zu Recht feststellte, ist
der Beschwerdeführer mittellos im Sinne von § 285a Abs. 1 StPO/LU. Das
Rechtsbegehren erschien auch nicht als aussichtslos. Der Amtsstatthalter
verweigerte die unentgeltliche Rechtspflege allein mit der formalen
Begründung, ein Aussöhnungsversuch vor dem Friedensrichter sei nicht
durchgeführt worden (§ 285c Abs. 2 StPO/LU), weshalb über das Gesuch nicht
entschieden werden könne. Der Umstand, dass sich die Parteien
aussergerichtlich zu einigen vermochten und deshalb eine
Aussöhnungsverhandlung nicht mehr nötig war, die Verfahren vor dem
Friedensrichter und dem Amtsstatthalter vielmehr in zeit- und geldsparender
Weise wegen Gegenstandslosigkeit abgeschrieben bzw. eingestellt werden
konnten, rechtfertigt nicht, dem Berechtigten die Durchsetzung seines
verfassungsmässigen Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege zu verweigern
und ihn die angefallenen Verfahrenskosten selber tragen zu lassen. Die rein
am Wortlaut orientierte, formalistische Anwendung von § 285c Abs. 2 StPO/LU
durch die kantonalen Behörden verletzt den Anspruch des Beschwerdeführers auf
unentgeltliche Rechtspflege im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV und verstösst
gegen das Verbot des überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV).

3.
Soweit auf die Beschwerde eingetreten werden kann, erweist sie sich als
begründet und ist demnach gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid des
Obergerichts des Kantons Luzern ist insoweit aufzuheben, als darin die
Verweigerung der unentgeltlichen Prozessführung für das Verfahren vor dem
Amtsstatthalteramt Luzern-Land bestätigt wird.
Der Beschwerdeführer erscheint damit im Verfahren vor dem Bundesgericht als
(überwiegend) obsiegende Partei. Das bedeutungsmässig untergeordnete
Nichteintreten auf die staatsrechtliche Beschwerde rechtfertigt weder die
Ausscheidung eines Verfahrens- noch eines Parteikostenanteils. Demnach sind
für das bundesgerichtliche Verfahren keine Kosten zu erheben (Art. 156 OG);
hingegen hat der Kanton Luzern den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 159 OG). Das
Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten
ist. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern vom 26. Oktober 2001
wird insoweit aufgehoben, als er die Verweigerung der unentgeltlichen
Prozessführung für das Verfahren vor dem Amtsstatthalteramt Luzern-Land
bestätigt.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Luzern hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Amtsstatthalteramt Luzern-Land
und dem Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 2. Mai 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: