Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.742/2001
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1P.742/2001/bie

Urteil vom 30. Januar 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident, Bundesrichter Nay,
Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Störi.

S. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic.iur. Adrian
Suter, Grüngasse 31, Postfach 1138, 8026 Zürich,

gegen

L.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwältin Peggy
Knellwolf, Obere Zäune 14, Postfach 408, 8024 Zürich,
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, Postfach, 8023 Zürich,
Kassationsgericht des Kantons Zürich, Postfach 4875,
8022 Zürich.

Art. 9 und 29 BV, Art. 6 EMRK (Strafverfahren)

(Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Kassationsgerichts des
Kantons Zürich vom 3. Oktober 2001)

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Uster sprach S.________ am 12. Dezember 1996 vom Vorwurf
frei, in der Nacht vom 1. auf den 2. Januar 1995 L.________ vergewaltigt zu
haben.

Auf Berufung von L.________ hin verurteilte das Obergericht des Kantons
Zürich S.________ am 10. Juni 1997 wegen Vergewaltigung im Sinne von Art. 190
Abs. 1 StGB zu 27 Monaten Zuchthaus. Ausserdem ordnete es den Widerruf zweier
Vorstrafen von 12 Monaten und 60 Tagen Gefängnis an.

Mit Urteil vom 7. September 1998 hob das Kassationsgericht des Kantons Zürich
das obergerichtliche Urteil wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs und
willkürlicher Beweiswürdigung auf.

B.
Das Obergericht befragte L.________ am 15. März 1999 als Zeugin und führte am
26. März 1999 die Hauptverhandlung durch. Beide Parteien verzichteten auf
öffentliche Urteilsberatung.

Am 30. März 1999 teilte der Obergerichtssekretär dem Verteidiger von
S.________ mit, infolge der per Ende März 1999 erfolgenden Pensionierung von
Oberrichter E. Brunner sei ein Richter- bzw. Vorsitzendenwechsel nötig und
fragte ihn an, ob er eine Wiederholung der Berufungsverhandlung wünsche; mit
der Antwort könne er sich ruhig zwei bis drei Wochen Zeit lassen. Die gleiche
Anfrage richtete Oberrichterin Katzenstein an die Verteidigerin von
L.________, wobei sie ihr offenbar eine Antwortfrist bis Ende April
einräumte. Auf erneute Anfrage des Obergerichts hin erklärten sich beide
Parteien am 12. Mai 1999 mit dem Wechsel des Vorsitzenden einverstanden und
verzichteten auf eine Wiederholung der Berufungsverhandlung.

Das Obergericht beriet und fällte das Urteil am 23. Februar 2000. Es
verurteilte S.________ wegen Vergewaltigung im Sinne von Art. 190 Abs. 1 StGB
zu 18 Monaten Zuchthaus bedingt und widerrief zwei Vorstrafen von 12 Monaten
bzw. 60 Tagen Gefängnis.

Das Kassationsgericht wies die Nichtigkeitsbeschwerde von S.________ am 3.
Oktober 2001 ab.

C.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 22. November 2001 wegen Willkür
beantragt der Beschwerdeführer, diesen Beschluss des Kassationsgerichts
aufzuheben. Ausserdem ersucht er, seiner Beschwerde aufschiebende Wirkung zu
erteilen.

Die Staatsanwaltschaft und das Kassationsgericht verzichten auf
Vernehmlassung. L.________ beantragt, sowohl die Beschwerde als auch das
Gesuch um aufschiebende Wirkung abzulehnen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim angefochtenen Entscheid des Kassationsgerichts handelt es sich um einen
letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der
Beschwerdeführer ist durch die strafrechtliche Verurteilung in seinen
rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), weshalb er befugt ist,
die Verletzung verfassungsmässiger Rechte zu rügen. Da diese und die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde  einzutreten.

2.
Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Anwendung von § 183 Abs. 1 der
Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO).

Willkürlich ist ein Entscheid, der mit der tatsächlichen Situation in klarem
Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass
verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft.
Dabei genügt es nicht, dass die Begründung unhaltbar ist, der Entscheid muss
sich vielmehr im Ergebnis als willkürlich erweisen (BGE 125 I 166 E. 2a; 125
II 10 E. 3a; 129 E. 5b; 122 I 61 E. 3a je mit Hinweisen).

3.
Nach § 183 Abs. 1 StPO muss die Verhandlung in der Sache vorbehältlich der
vom Vorsitzenden angeordneten Ruhepausen ohne Unterbrechung zu Ende geführt
werden.

3.1 Nach dem in ZR 99 (2000) Nr. 32 publizierten Entscheid des
Kassationsgerichts vom 1. März 1999 ist der in § 183 Abs. 1 StPO verankerte
Konzentrationsgrundsatz verletzt, wenn zwischen der Hauptverhandlung und der
Urteilsberatung bzw. -fällung über 10 Monate vergehen, ohne dass sachlich
zwingende Gründe für die lange Unterbrechung der Hauptverhandlung vorliegen
oder der Angeklagte die Unterbrechung zu vertreten hätte. Es hob daher ein
Urteil des Obergerichts auf, weil dieses nach der Hauptverhandlung die
Hauptverhandlung gegen einen Mitangeklagten abgewartet und anschliessend die
Urteilsberatung gegen beide durchgeführt hatte. Es anerkannte zwar, dass "die
Absicht der Vorinstanz, die beiden Mittäter zum gleichen Zeitpunkt von den
gleichen Richtern beurteilen zu lassen", grundsätzlich Zustimmung verdiene
und der kassationsgerichtlichen Rechtsprechung entspreche. Dies dürfe aber
nicht dazu führen, dass ein Angeklagter nach der Hauptverhandlung über 10
Monate auf sein Urteil warten müsse; entweder hätte das Obergericht die
Verhandlung gegen den Mitangeklagten wesentlich früher ansetzen oder die
Verfahren getrennt führen müssen. Hinzu komme, dass der Verteidiger bereits
rund vier Monate vor dem Ergehen des Urteils verlangt habe, das Verfahren zum
Ende zu bringen.

3.2 Das Kassationsgericht stellt im angefochtenen Entscheid seine oben
angeführte, publizierte Praxis zu § 183 StPO nicht grundsätzlich in Frage. Es
ist daher mit dem höchsten Zürcher Gericht davon auszugehen, dass § 183 StPO
keine reine Ordnungsvorschrift darstellt, sondern dass jedenfalls krasse,
nicht durch zwingende sachliche Gründe gerechtfertigte Verstösse dagegen zur
Aufhebung des Urteils führen müssen.
Im vorliegenden Fall geht das Kassationsgericht davon aus, dass solche Gründe
bestünden, die das obergerichtliche Vorgehen, nach der Hauptverhandlung gegen
den Beschwerdeführer über 10 Monate bis zur Urteilsberatung und -fällung
zuzuwarten, rechtfertigen würden.

3.2.1 Das Kassationsgericht hält dem Beschwerdeführer vor, er habe erst am
12. Mai 1999 auf sein Recht verzichtet, die Hauptverhandlung in neuer
Besetzung wiederholen zu lassen. In der Zwischenzeit habe das Obergericht
kein Urteil fällen dürfen, da der Vorsitzende per Ende März 1999 aus dem
Obergericht ausgeschieden sei und eine Urteilsfällung in veränderter
Besetzung nach § 184 StPO nur mit Zustimmung der Parteien zulässig sei.

Der Beschwerdeführer bringt in diesem Zusammenhang zu Recht vor, dass ein
rascherer Verzicht von seiner Seite das Verfahren nicht beschleunigt hätte,
weil auch die Geschädigte erst am 12. Mai 1999 auf die Wiederholung der
Berufungsverhandlung verzichtet habe. Überdies war es das Obergericht, das in
der von ihm bestimmten Besetzung auf einen von ihm bestimmten Termin zur
Hauptverhandlung vorgeladen hatte: wenn es dabei in Kenntnis der
Schwierigkeiten des Falles, mit dem es sich schon einmal in gleicher
Besetzung befasst hatte, die Verhandlung fünf Tage vor der Pensionierung des
Vorsitzenden durchführte, so hat es klarerweise die Verzögerung, die eintrat,
weil es die Urteilsberatung und -fällung aus unbekannten Gründen nicht vor
Ende März durchführte, selber zu vertreten. Es ist schlechterdings nicht
haltbar, die Verzögerung zwischen dem 26. März und dem 12. Mai 1999 dem
Beschwerdeführer anzulasten.

3.2.2 Für die restliche Verzögerung bis zur Urteilsfällung am 23. Februar
2000 trifft den Beschwerdeführer ohnehin, wie auch das Kassationsgericht
ausdrücklich anerkennt, kein Verschulden. Beweisergänzungen erfolgten keine
mehr, und der Beschwerdeführer unternahm nichts, was noch weitere prozessuale
Schritte notwendig gemacht hätte. Dass sich ein neuer Richter ins Verfahren
einarbeiten musste, hat, wie dargelegt, das Obergericht zu vertreten, und
dieser Umstand könnte ohnehin, ebenso wie die umfangreiche und anspruchsvolle
Aussageanalyse, höchstens eine Verzögerung von Wochen, nicht aber eine solche
von mehreren Monaten rechtfertigen.

3.2.3 Sachlich offensichtlich unhaltbar ist auch die Begründung des
Kassationsgerichts, mit seinem Verzicht auf die Wiederholung der Verhandlung
nach dem Ausscheiden des Vorsitzenden aus dem Obergericht habe der
Beschwerdeführer implizit dargetan, dass es ihm nicht darauf ankomme, bei den
urteilenden Richtern einen persönlichen Eindruck zu hinterlassen.

Auf die Durchführung der Berufungsverhandlung ohne Unterbrechung hat der
Beschwerdeführer nie verzichtet. Er verzichtete vielmehr in einer nicht von
ihm verschuldeten Zwangslage bloss auf sein Recht auf Wiederholung der
Berufungsverhandlung und machte damit den Weg frei für einen beförderlichen
Abschluss des Berufungsverfahrens. Unter diesen Umständen wäre eine rasche
Fortsetzung der Verhandlung durch das Obergericht umso gebotener gewesen, als
dann wenigstens zwei der drei beteiligten Oberrichter das Urteil gestützt auf
den an der Verhandlung gewonnenen, frischen, d.h. wenige Wochen alten,
persönlichen Eindruck hätten fällen können. Genau dies entspricht, wie das
Kassationsgericht in seinem vorerwähnten, publizierten Entscheid selber
anführt, Sinn und Zweck des Konzentrationsgrundsatzes und es ist daher
willkürlich, hier einen Verzicht auf dessen Anwendung zu bejahen.

3.3 Es sind danach nicht nur keine zwingenden, sondern gar keine sachlichen
Gründe ersichtlich, die das über 10 Monate dauernde Zuwarten des Obergerichts
zwischen der Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer und der
Urteilsberatung bzw. -fällung rechtfertigen könnten, und das Obergericht hat
es nicht für nötig gefunden, in der Vernehmlassung ans Kassationsgericht oder
ans Bundesgericht eine Erklärung dafür zu liefern. Damit hat das Obergericht
ohne sachliche Gründe den Konzentrationsgrundsatz von § 183 StPO derart krass
verletzt, dass dies nach der angeführten Rechtsprechung des
Kassationsgerichts zur Aufhebung seines Urteils führen muss. Das
Kassationsgericht ist in Willkür verfallen, indem es unter diesen Umständen
eine Verletzung des Konzentrationsgrundsatzes verneinte und das angefochtene
Urteil schützte.

3.4 Fehl geht das Kassationsgericht, wenn es ausführt, das Obergericht habe §
183 StPO "insofern Nachachtung verschafft, als es die lange Bearbeitung des
zweiten Berufungsurteils bzw. die daraus resultierende Verfahrensdauer als
Beeinträchtigung des Beschleunigungsgebotes wertete und im Rahmen der
Strafzumessung zugunsten des Beschwerdeführers veranschlagte" (angefochtenes
Urteil S. 10 ).

Im Urteil des Obergerichts lässt sich an keiner Stelle ein Hinweis darauf
finden, dass es der Verletzung des Konzentrationsgebotes bei der
Strafzumessung Rechnung tragen wollte. Dies zu Recht.

Aus dem Zweck des Konzentrationsgrundsatzes, der sicherstellen soll, dass der
Richter sein Urteil unter dem frischen Eindruck der Hauptverhandlung fällt,
folgt ohne weiteres, dass seine Verletzung nur durch die Wiederholung der
Verhandlung, nicht aber durch die Gewährung eines Strafrabattes heilbar ist.

4.
Das Kassationsgericht ist somit in Willkür verfallen, indem es das
obergerichtliche Urteil trotz einer offensichtlichen, krassen und durch keine
sachlichen Gründe gerechtfertigten Verletzung des Konzentrationsgebotes
schützte. Die Rüge ist begründet.

Mit dem Urteil in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung
gegenstandslos. Es rechtfertigt sich, ausnahmsweise   keine Kosten zu erheben
(Art. 156 OG). Hingegen hat die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer für
das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu
bezahlen (Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht :

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des
Kassationsgerichts vom 3. Oktober 2001 aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.

4.
Diese Urteil wird den Parteien sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Kassationsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. Januar 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: