Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.738/2001
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1P.738/2001 /sta

Urteil vom 24. April 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Reeb,
Gerichtsschreiber Haag.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter Hübner,
Limmatquai 3, 8001 Zürich,

gegen

Regierungsrat des Kantons Zürich, Kaspar Escher-Haus,
8090 Zürich,

Art. 9 BV (Begnadigung)

(Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Regierungsrats des
Kantons Zürich vom 17. Oktober 2001)
Sachverhalt:

A.
Mit Urteil vom 26. Oktober 1999 verurteilte das Obergericht des Kantons
Zürich X.________ wegen mehrfachen Betrugs und Urkundenfälschung zu einer
Gefängnisstrafe von 12 Monaten. Am gleichen Tag ordnete es den Vollzug einer
vom Bezirksgericht Horgen am 15. September 1993 bedingt ausgesprochenen
Gefängnisstrafe von 7 Monaten an. Am 6. August 2001 ersuchte X.________ um
Begnadigung, was der Regierungsrat des Kantons Zürich mit Beschluss vom 17.
Oktober 2001 auf Antrag der kantonalen Direktion der Justiz und des Innern
ablehnte.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 21. November 2001 verlangt X.________
die Aufhebung des Beschlusses des Regierungsrats vom 17. Oktober 2001 wegen
Verletzung von Verfahrensrechten sowie des Anspruchs auf rechtliches Gehör.

Die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich beantragt mit
Eingabe vom 3. Dezember 2001, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten;
eventuell sei sie abzuweisen. Der Beschwerdeführer hat von der Gelegenheit,
sich zur Stellungnahme der Direktion der Justiz und des Innern zu äussern,
mit Beschwerdeergänzung vom 18. Februar 2002 Gebrauch gemacht, nachdem ihm
die Frist zur Stellungnahme zwei Mal erstreckt worden war. In einer weiteren
Eingabe vom 22. Februar 2002 teilt die Direktion der Justiz und des Innern
die Gründe für die Abweisung des Begnadigungsgesuchs mit. Das Bundesgericht
hat dem Beschwerdeführer Gelegenheit eingeräumt, sich zur Eingabe der
Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich vom 22. Februar 2002
bis zum 18. März 2002 zu äussern. Diese Frist wurde auf Antrag des
Beschwerdeführers letztmals bis zum 15. April 2002 erstreckt. Mit Schreiben
vom 15. April 2002 teilt der Anwalt des Beschwerdeführers mit, es sei ihm
noch nicht möglich gewesen, ein weiteres Instruktionsgespräch mit seinem
Mandanten zu führen, weshalb er innert Frist keine Stellungnahme zur Eingabe
der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich vom 22. Februar
2002 abgeben könne. Er sei somit auf die Gewährung einer angemessenen
Notfrist dringend angewiesen.

C.
Mit Verfügung vom 3. Januar 2002 hat der Präsident der I.
öffentlichrechtlichen Abteilung der staatsrechtlichen Beschwerde auf Antrag
des Beschwerdeführers hin aufschiebende Wirkung beigelegt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Zunächst ist zu prüfen, ob dem Beschwerdeführer eine weitere Frist für die
Stellungnahme zur Eingabe der Direktion der Justiz und des Innern vom 22.
Februar 2002 einzuräumen ist.

1.1 Der Beschwerdeführer verlangt die Erstreckung einer Frist, die
ursprünglich auf den 18. März 2002 festgesetzt und aufgrund eines Antrags des
Beschwerdeführers letztmals bis zum 15. April 2002 verlängert wurde.
Richterlich bestimmte Fristen können aus zureichenden und gehörig
bescheinigten Gründen erstreckt werden, wenn das Gesuch vor Ablauf der Frist
gestellt worden ist (Art. 33 Abs. 2 OG). Das Gesuch wurde im vorliegenden
Fall am letzten Tag der Frist gestellt, was nach der Praxis rechtzeitig ist
(Art. 32 Abs. 3 OG). Indessen stellt sich die Frage, ob sich der
Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter auf hinreichende Gründe berufen.

1.2 Das Bundesgericht hat in der Fristerstreckungs-Verfügung vom 20. März
2002 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um eine letztmalige
Fristerstreckung handelt. Es musste dem Beschwerdeführer bzw. seinem
Rechtsvertreter bewusst sein, dass die Frist nur unter ganz
aussergewöhnlichen Umständen, wie sie etwa nach Art. 35 Abs. 1 OG die
Wiederherstellung gegen die Folgen der Versäumnis einer Frist rechtfertigen,
nochmals erstreckt werden könnte. Eine weitere Fristerstreckung kann in
analoger Anwendung von Art. 35 Abs. 1 OG nur in Frage kommen, wenn der
Beschwerdeführer oder sein Vertreter durch ein unverschuldetes Hindernis
abgehalten worden sind, innert Frist zu handeln. Krankheit kann ein
unverschuldetes Hindernis zur Vornahme einer Prozesshandlung darstellen (BGE
119 II 86 E. 2 mit Hinweisen; Jean-François Poudret/Suzette Sandoz-Monod,
Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire du 16 décembre 1943,
Bern 1990, S. 246 f.). Die Rechtsprechung geht davon aus, dass es einer
Partei, die eine gewisse Zeit vor Fristablauf erkrankt, möglich und zumutbar
ist, ihre Interessen selbst zu wahren oder eine Drittperson damit zu
beauftragen (BGE 112 V 255 E. 2a S. 256).

1.3 Aus dem beigebrachten Arztzeugnis ergibt sich, dass der Beschwerdeführer
seit dem 8. März 2002 wegen Krankheit bis auf weiteres arbeitsunfähig ist. Im
Fristerstreckungsgesuch wird ausgeführt, dass der Beschwerdeführer am 26.
März und 11. April 2002 zwei Termine zur Besprechung der Angelegenheit mit
seinem Anwalt nicht wahrgenommen habe, weshalb schliesslich ein
Besprechungstermin auf den letzten Tag der Frist vereinbart worden sei,
welchen der Beschwerdeführer wegen einer akuten Dickdarmentzündung habe
absagen müssen. Der Beschwerdeführer legt jedoch nicht dar, dass es unmöglich
gewesen wäre, den Anwalt schriftlich oder telefonisch zu erreichen und die
erforderlichen Instruktionen zu erteilen. Auch ist nicht ersichtlich, warum
der Anwalt die Frist ausschliesslich nach einer Besprechung mit dem
Beschwerdeführer hätte wahrnehmen können. Jedenfalls wurde im
Fristerstreckungsgesuch nicht nachgewiesen, dass die Krankheit des
Beschwerdeführers die Einreichung einer rechtzeitigen Stellungnahme absolut
verunmöglichte. Vielmehr entsteht angesichts der insgesamt vier
Fristerstreckungsbegehren des Beschwerdeführers in dieser nicht besonders
komplizierten Angelegenheit der Eindruck, er beabsichtige, mit der
Verzögerung des bundesgerichtlichen Verfahrens den Strafantritt möglichst
weit hinauszuschieben. Solches Verhalten verdient keinen Schutz. Es ist somit
keine weitere Frist anzusetzen, um zur Eingabe der Direktion der Justiz und
des Innern vom 22. Februar 2002 Stellung zu nehmen. Der Schriftenwechsel ist
damit beendet.

2.
Mit dem angefochtenen Entscheid wird das Begnadigungsgesuch des
Beschwerdeführers abgewiesen. Eine Begründung enthält der Entscheid nicht.

2.1 Nach Art. 88 OG steht das Recht zur Erhebung einer staatsrechtlichen
Beschwerde Bürgern (Privaten) und Korporationen bezüglich solcher
Rechtsverletzungen zu, die sie durch allgemeinverbindliche oder sie
persönlich treffende Erlasse oder Verfügungen erlitten haben. Gemäss
ständiger Rechtsprechung kann mit staatsrechtlicher Beschwerde lediglich die
Verletzung in rechtlich geschützten Interessen gerügt werden; zur Verfolgung
bloss tatsächlicher Interessen wie auch zur Geltendmachung allgemeiner
öffentlicher Interessen steht dieses Rechtsmittel nicht zur Verfügung (BGE
126 I 81 E. 3a und b S. 85; 123 I 41 E. 5b; 122 I 373 E. 1, je mit
Hinweisen).

Weder das Bundesrecht (Art. 394 - 396 StGB) noch das zürcherische Recht (vgl.
§§ 487 - 494 des Gesetzes vom 4. Mai 1919 betreffend den Strafprozess,
Strafprozessordnung, StPO) enthalten Vorschriften über die Voraussetzungen,
unter denen der durch ein Strafgericht Verurteilte zu begnadigen ist. Dafür
sind ausserhalb der richterlichen Beweiswürdigung, Rechtsanwendung und
Strafzumessung liegende Gründe massgebend, die auch politischer Natur sein
können. Der zuständigen Behörde steht deshalb bei der Ausübung des
Begnadigungsrechts ein weites Ermessen zu. Der materielle Entscheid über ein
Begnadigungsgesuch ist der gerichtlichen Überprüfung weitgehend entzogen. Der
Gesuchsteller hat demnach keinen Rechtsanspruch darauf, dass seinem
Begnadigungsgesuch beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen entsprochen
wird. Gegen die Verweigerung der Begnadigung kann daher mangels eines
rechtlich geschützten Interesses gemäss konstanter Praxis keine
staatsrechtliche Beschwerde erhoben werden (BGE 118 Ia 104 E. 1b S. 106; 117
Ia 84 E. 1b S. 86; 106 Ia 131 E. 1a S. 132).

Trotz fehlender Legitimation in der Sache selbst kann der Rechtsuchende die
Verletzung von kantonalen Verfahrensvorschriften rügen, deren Missachtung
eine formelle Rechtsverweigerung darstellt. Das nach Art. 88 OG
erforderliche, rechtlich geschützte Interesse ergibt sich in diesem Fall
nicht aus einer Berechtigung in der Sache, sondern aus der Teilnahme am
kantonalen Verfahren. Eine solche besteht dann, wenn dem Beschwerdeführer im
kantonalen Verfahren Parteistellung zukam. Ist dies der Fall, kann er die
Verletzung jener Parteirechte als formelle Rechtsverweigerung rügen, die ihm
nach dem kantonalen Verfahrensrecht oder unmittelbar aufgrund der Verfassung
zustehen (BGE 114 Ia 307 E. 3c S. 312 ff.; 117 Ia 84 E.1b S. 86; 123 I 25 E.
1; 126 I 81 E. 7b S. 94 f.).
2.2 Der Beschwerdeführer kritisiert den angefochtenen Entscheid in der Sache
zu Recht nicht. Nach der angeführten Rechtsprechung würde ihm insoweit die
Legitimation zur Erhebung einer staatsrechtlichen Beschwerde fehlen. Er rügt
jedoch eine Verletzung der aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör
abgeleiteten Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV). Zudem kritisiert er das
Begnadigungsverfahren, weil der Kantonsrat seine Begnadigungskompetenz gemäss
Art. 56 Abs. 2 der Zürcher Kantonsverfassung nicht wahrnehmen könne und dem
Gesuchsteller keine Gelegenheit zur Äusserung zum Antrag der
Staatsanwaltschaft eingeräumt werde. Die vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen
betreffen allein seine Parteirechte im kantonalen Verfahren. Er ist
legitimiert, sie mit staatsrechtlicher Beschwerde vorzubringen.

2.3 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt. Auf die
staatsrechtliche Beschwerde ist daher einzutreten.

3.
Im Kanton Zürich kann eine Begnadigung nur durch den Kantonsrat erfolgen (§
487 StPO). Begnadigungsgesuche sind jedoch an den Regierungsrat zu richten (§
489 Abs. 1 StPO). Dieser ist, wenn das Urteil auf lebenslängliches Zuchthaus
lautet oder wenn der Richter durch die besonderen Bestimmungen des
Strafgesetzbuches an ein erhöhtes Mindestmass der Zuchthausstrafe gebunden
war sowie bei politischen Verbrechen und Vergehen, verpflichtet, das Gesuch
mit seinem Antrag dem Kantonsrat vorzulegen. In allen anderen Fällen
entscheidet er selbst über Vorlegung oder Abweisung (§ 491 StPO). Das
Bundesgericht hat bereits früher entschieden, dass die zürcherische Ordnung
des Begnadigungsrechts gemäss § 491 StPO nicht gegen kantonales
Verfassungsrecht oder gegen Bundesrecht verstosse (BGE 95 I 542 E. 3 S. 544
f.). Die Einwände, die der Beschwerdeführer gegen die zürcherische Regelung
des Begnadigungsverfahrens erhebt, vermögen an dieser Beurteilung nichts zu
ändern.

4.
Der Beschwerdeführer kritisiert, dass der angefochtene Begnadigungsentscheid
nicht begründet sei.

Nach ständiger Rechtsprechung hat der Einzelne keinen Anspruch auf Begründung
des Entscheids, mit dem sein Begnadigungsgesuch abgewiesen wird (BGE 117 Ia
84 E. 1b S. 86; 107 Ia 103 E. 3 S. 104 ff.; 95 I 542 E. 5 S. 546). Dies im
Unterschied zu einer Person, die den Widerruf eines Begnadigungsentscheids
beanstandet (BGE 118 Ia 104 E. 1b S. 106).

Allenfalls könnte die Ablehnung eines Begnadigungsgesuchs insoweit der
Begründungspflicht unterliegen, als der fragliche negative
Begnadigungsentscheid zugleich auch über die Nichtweiterleitung des Gesuchs
an den Kantonsrat befindet. Das Bundesgericht hat die Frage bisher offen
gelassen, und auch im vorliegenden Fall ist es nicht erforderlich, sie zu
entscheiden. Der Beschwerdeführer konnte der zweiten Stellungnahme der
Direktion der Justiz und des Innern im bundesgerichtlichen Verfahren vom 22.
Februar 2002 die Gründe für den angefochtenen Entscheid und damit die
Nichtweiterleitung seines Gesuchs an den Kantonsrat entnehmen, und es wurde
ihm die Gelegenheit eingeräumt, zu dieser Begründung Stellung zu nehmen. Dass
er von dieser Gelegenheit trotz Fristerstreckung keinen Gebrauch machte, hat
er - wie vorne (E. 1.3) erwähnt - selbst zu vertreten. Unter diesen Umständen
kann nicht von einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör des
Beschwerdeführers gesprochen werden (vgl. Urteil des Bundesgerichts
1P.85/1994 vom 17. Juni 1994 in ZBl 96/1995 S. 136 E. 4).

5.
Der Beschwerdeführer beanstandet weiter, dass ihm keine Einsicht in die
Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zu seinem Begnadigungsgesuch gewährt
wurde. Er behauptet indessen nicht, ein Gesuch um Einsicht in die genannte
Stellungnahme sei abgewiesen worden.

Aus dem kantonalen Strafprozessrecht ergibt sich kein ausdrücklicher Anspruch
des Gesuchstellers auf Einsicht in die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft
(§ 490 StPO). Dies schliesst indessen nicht aus, dass die verfahrensleitende
Behörde einem Gesuchsteller die im Rahmen eines Begnadigungsverfahrens
eingeholten Berichte auf Wunsch hin zustellt. Das Bundesgericht hat in einem
nicht publizierten Entscheid vom 14. Februar 1992 auf eine entsprechende
Praxis der Zürcher Justizdirektion hingewiesen (Urteil 1P.553/1991, E. 2d).
Nachdem der Beschwerdeführer nicht einmal geltend macht, er habe vergeblich
ein Gesuch um Akteneinsicht gestellt, kann seiner Kritik am
Begnadigungsverfahren auch in diesem Punkt nicht gefolgt werden.

6.
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich somit in allen Punkten als
unbegründet und ist daher abzuweisen. Die Kosten des bundesgerichtlichen
Verfahrens sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Regierungsrat des Kantons
Zürich schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 24. April 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: