Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.728/2001
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1P.728/2001 /sta

Urteil vom 5. April 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Leuthold.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur.
Hans-Ulrich Stooss, Weggisgasse 1, 6004 Luzern,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
Obergericht des Kantons Luzern, Kriminal- und Anklagekommission,
Hirschengraben 16, Postfach, 6002 Luzern.

Einstellung der Strafuntersuchung; Parteientschädigung

(Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Luzern, Kriminal- und Anklagekommission, vom 23. August 2001)
Sachverhalt:

A.
Die Kantonspolizei Luzern fällte gegen X.________ mit Bussenzettel vom 31.
August 2000 im Ordnungsbussenverfahren eine Busse von Fr. 60.-- aus, weil er
am 31. August 2000, um 23.00 Uhr, in Ebikon bei einem Stoppsignal nicht
vollständig angehalten habe. Nachdem sich der Angeschuldigte mit einer von
ihm selber verfassten Eingabe vom 3. Oktober 2000 gegen die Busse zur Wehr
gesetzt hatte, wurden die Akten dem Amtsstatthalter von Luzern-Land zur
Beurteilung überwiesen. Dieser bestrafte X.________ mit Strafverfügung vom
11. Dezember 2000 wegen nicht vollständigen Anhaltens bei einem Stoppsignal
mit einer Busse von Fr. 60.--. Gegen diese Verfügung liess der Angeschuldigte
durch seinen Anwalt am 3. Januar 2001 Einsprache erheben. Mit Entscheid vom
30. März 2001 stellte der Amtsstatthalter von Luzern-Land die
Strafuntersuchung gegen X.________ betreffend Widerhandlung gegen das
Strassenverkehrsgesetz ein (Ziff. 1 des Dispositivs) und auferlegte die
Verfahrenskosten dem Staat (Ziff. 2 des Dispositivs). Den Antrag des
Angeschuldigten auf Zusprechung einer Parteientschädigung zu Lasten des
Staates wies der Amtsstatthalter ab (Ziff. 3 des Dispositivs). Mit einem
dagegen erhobenen Rekurs beantragte X.________, Ziff. 3 des Dispositivs des
Entscheids des Amtsstatthalters sei aufzuheben und es sei ihm eine
angemessene Parteientschädigung für das Verfahren vor dem Amtsstatthalteramt
zuzusprechen. Das Obergericht des Kantons Luzern wies den Rekurs mit
Entscheid vom 23. August 2001 ab.

B.
Gegen diesen Entscheid reichte X.________ mit Eingabe vom 15. November 2001
beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde ein. Er beantragt, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die kantonale Instanz sei
anzuweisen, ihm für das Verfahren vor dem Obergericht sowie für das Verfahren
vor dem Amtsstatthalteramt eine angemessene Parteientschädigung zuzusprechen.

C.
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Luzern stellen in
ihren Vernehmlassungen den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit
darauf einzutreten sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Abgesehen von hier nicht zutreffenden Ausnahmen ist die staatsrechtliche
Beschwerde rein kassatorischer Natur, d.h. es kann mit ihr nur die Aufhebung
des angefochtenen Entscheids, nicht aber der Erlass positiver Anordnungen
durch das Bundesgericht verlangt werden (BGE 127 II 1 E. 2c S. 5; 125 I 104
E. 1b S. 107 mit Hinweisen). Auf die vorliegende Beschwerde ist demnach nicht
einzutreten, soweit der Beschwerdeführer beantragt, die kantonale Instanz sei
anzuweisen, ihm für das Verfahren vor dem Obergericht sowie für das Verfahren
vor dem Amtsstatthalteramt eine angemessene Parteientschädigung zuzusprechen.

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, es verletze den Grundsatz der
Unschuldsvermutung nach Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK sowie das
Willkürverbot nach Art. 9 BV, dass ihm im Entscheid des Amtsstatthalters
betreffend die Einstellung der Strafuntersuchung eine Entschädigung für seine
Anwaltskosten verweigert worden sei.

2.1 Zur Rüge der Verletzung der Unschuldsvermutung wird in der
staatsrechtlichen Beschwerde im Wesentlichen ausgeführt, der Amtsstatthalter
habe in seinem Entscheid festgehalten, eine Bestrafung sei lediglich wegen
des Grundsatzes "im Zweifel für den Angeklagten" nicht am Platz, im Übrigen
habe er aber keine Gelegenheit offen gelassen, um darzulegen, "weshalb der
Beschwerdeführer eigentlich zu verurteilen wäre". Alles in allem "strotze"
der Entscheid "gerade auch in Verbindung mit der verweigerten
Parteientschädigung vor strafrechtlicher Missbilligung gegenüber dem
Beschwerdeführer".

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verstösst eine Kostenauflage bei
Einstellung des Strafverfahrens gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung,
wenn dem Angeschuldigten in der Begründung des Kostenentscheids direkt oder
indirekt vorgeworfen wird, er habe sich strafbar gemacht bzw. es treffe ihn
ein strafrechtliches Verschulden (BGE 116 Ia 162 E. 2e S. 175). Weder in der
Begründung des Kostenentscheids des Amtsstatthalters noch in den Erwägungen
des Rekursentscheids des Obergerichts findet sich direkt oder indirekt ein
strafrechtlicher Schuldvorwurf. In beiden Entscheiden wird klar zum Ausdruck
gebracht, dass dem Beschwerdeführer deshalb keine Entschädigung für seine
Anwaltskosten zugesprochen werde, weil es sich nach Ansicht der kantonalen
Instanzen um einen Bagatellfall gehandelt habe, der weder in tatsächlicher
noch in rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bereitet habe, und dem
Beschwerdeführer ohne weiteres zuzumuten gewesen sei, seine Rechte selber
geltend zu machen. Die Rüge, die Verweigerung einer Parteientschädigung
verletze die Unschuldsvermutung, erweist sich als unbegründet.

2.2 Sodann beklagt sich der Beschwerdeführer über eine willkürliche Anwendung
der einschlägigen Vorschriften der Luzerner Strafprozessordnung (StPO).

2.2.1 Nach § 270 Abs. 1 StPO umfassen die Verfahrenskosten die amtlichen
Kosten und die Parteikosten. Wird der Angeschuldigte freigesprochen oder das
Verfahren eingestellt, so sind die Kosten dem Staat aufzuerlegen (§ 276 Abs.
1 StPO). Dem Angeschuldigten werden trotz Freispruch oder Einstellung des
Verfahrens die Kosten ganz oder teilweise überbunden, soweit er das Verfahren
durch eine schuldhafte und erhebliche Verletzung von Rechtspflichten
verursacht hat (§ 277 Abs. 1 StPO). Gemäss § 280 Abs. 1 StPO kann dem
Angeschuldigten, wenn er freigesprochen oder das Verfahren eingestellt wird,
auf Antrag eine angemessene Entschädigung und eine Genugtuungssumme zu Lasten
des Staates zugesprochen werden.

2.2.2 Der Beschwerdeführer bringt vor, im angefochtenen Entscheid werde nicht
gesagt, auf welche Bestimmung sich das Obergericht stütze, wenn es ausführe,
auf Antrag könne dem Angeschuldigten bei Einstellung des Strafverfahrens eine
angemessene Entschädigung und eine Genugtuung zu Lasten des Staates
zugesprochen werden. Offenbar berufe sich das Obergericht damit auf § 280
StPO. Diese Vorschrift sei hier jedoch nicht anwendbar, denn sie beziehe sich
nicht auf die Prozesskosten, sondern auf zivilrechtliche Folgen eines
Strafverfahrens, wie Schadenersatz und Genugtuung. Die Frage der Auferlegung
der Verfahrenskosten, zu denen auch die Parteikosten gehörten, werde durch
die §§ 275-279 StPO geregelt. Das Obergericht habe die Vorschrift von § 280
StPO "absolut willkürlich auf die Frage der Tragung von Prozesskosten zur
Anwendung gebracht".

Im angefochtenen Entscheid wird in Erwägung 3 Abs. 1 ausgeführt, wenn der
Angeschuldigte freigesprochen oder das Verfahren eingestellt werde, seien die
Kosten dem Staat zu überbinden, wobei auf § 276 Abs. 1 StPO verwiesen wird.
Anschliessend wird festgehalten, auf Antrag könne dem Angeschuldigten eine
angemessene Entschädigung und eine Genugtuungssumme zu Lasten des Staates
zugesprochen werden. Das Obergericht erklärt in seiner Vernehmlassung zur
staatsrechtlichen Beschwerde, es handle sich bei dieser Feststellung um eine
Standardformulierung betreffend die finanziellen Folgen bei Freispruch oder
Einstellung des Strafverfahrens. Sie bedeute nicht, dass sich das Obergericht
im angefochtenen Entscheid auf § 280 StPO und nicht auf § 276 StPO gestützt
habe. Da - wie erwähnt - in Erwägung 3 Abs. 1 des angefochtenen Entscheids
ausschliesslich die Vorschrift von § 276 Abs. 1 StPO genannt wird, geht die
Rüge fehl, das Obergericht habe sich in willkürlicher Weise auf § 280 StPO
anstatt auf § 276 StPO gestützt.

2.2.3 Im Weiteren macht der Beschwerdeführer geltend, weil ihm keine
schuldhafte und erhebliche Verletzung von Rechtspflichten vorgeworfen werden
könne, die das Strafverfahren in Gang gebracht hätte, sei ihm gemäss § 276
StPO in Verbindung mit § 277 StPO "zwingend eine Parteientschädigung
zuzusprechen". Er ist der Meinung, nach diesen Vorschriften habe der
Angeschuldigte, sofern er das Strafverfahren nicht durch eine schuldhafte und
erhebliche Verletzung von Rechtspflichten verursacht habe, bei Freispruch
oder Einstellung des Verfahrens in jedem Fall Anspruch auf Entschädigung für
seine Anwaltskosten.

Der Angeschuldigte hat in jedem Strafverfahren, mithin auch in
Bagatellstrafsachen, das Recht, sich durch einen Anwalt verbeiständen zu
lassen (BGE 109 Ia 239 ff.). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts
ergibt sich aber aus dem Recht auf Beizug eines Verteidigers in
Bagatellstrafsachen kein Anspruch auf Kostenersatz im Falle eines Freispruchs
oder einer Einstellung des Verfahrens. Dem obsiegenden Angeschuldigten sind
die Anwaltskosten nur dann zu ersetzen, wenn er nach der Schwere des
Tatvorwurfs und nach dem Grad der Komplexität des Sachverhalts sowie nach
seinen persönlichen Verhältnissen objektiv begründeten Anlass hatte, einen
Anwalt beizuziehen. Die Einschaltung eines Anwalts muss in diesem Sinne
sachlich geboten gewesen sein (BGE 110 Ia 156 E. 1b S. 160; Urteil des
Bundesgerichts 1P.482/1996 vom 11. November 1996, E. 2a, publ. in: ZBl
96/1997, Nr. 60, S. 155). Die kantonalen Instanzen haben daher § 276 StPO
nicht willkürlich angewendet, indem sie annahmen, der Beschwerdeführer habe
nur dann Anspruch auf Ersatz seiner Anwaltskosten, wenn der Beizug eines
Anwalts geboten gewesen sei.

2.2.4 Der Beschwerdeführer hält es für willkürlich, dass die kantonalen
Behörden diese Voraussetzung im vorliegenden Fall als nicht gegeben
erachteten.

Im Entscheid des Amtsstatthalters wurde zur Frage der Parteientschädigung
ausgeführt, der Beschwerdeführer habe sich nach Aushändigung des
Bussenzettels in einem von ihm selbst verfassten Schreiben vom 3. Oktober
2000 vernehmen lassen und der Kantonspolizei eine Vielzahl von tatsächlichen
und rechtlichen Hinweisen unterbreitet, gemäss welchen er sich nicht schuldig
gemacht haben solle. Anlässlich des Augenscheins habe er seinen Standpunkt
praktisch im Alleingang vertreten. Es könne daher keine Rede davon sein, dass
der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen sei, seine Argumente selbst
vorzutragen. Zudem habe es sich beim in Frage stehenden Sachverhalt um eine
Bagatelle gehandelt, die weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht
Schwierigkeiten bereitet habe. Der Vorwurf des Rollstopps sei nicht schwer
und die Folge einer Verurteilung (Busse von Fr. 60.--) sei gering.

Das Obergericht erachtete diese Überlegungen des Amtsstatthalters als
zutreffend. Auch es betonte, der Fall habe weder in tatsächlicher noch in
rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten geboten, und der Beschwerdeführer sei
als dipl. Ingenieur ETH ohne weiteres in der Lage gewesen, seine Rechte
selbständig wahrzunehmen. Der Beizug eines Anwalts sei nicht nötig gewesen,
weshalb keine Parteientschädigung zugesprochen werden könne.

In der staatsrechtlichen Beschwerde wird nichts vorgebracht, was geeignet
wäre, die angeführten Überlegungen der kantonalen Instanzen als
verfassungswidrig erscheinen zu lassen. Es lässt sich mit guten Gründen
erwägen, die hier in Frage stehende Übertretungsstrafsache habe weder in
tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten geboten, die
möglichen Konsequenzen eines Schuldspruchs seien gering und der
Beschwerdeführer sei ohne weiteres in der Lage gewesen, seine Rechte selber
geltend zu machen; er habe unter diesen Umständen keinen objektiv begründeten
Anlass gehabt, einen Anwalt beizuziehen. Das Obergericht verletzte das
Willkürverbot nicht, wenn es zum Schluss gelangte, der Amtsstatthalter habe
dem Beschwerdeführer mit Recht eine Entschädigung für die Anwaltskosten
verweigert.

Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde in allen Punkten als
unbegründet. Sie ist deshalb abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden
kann.

3.
Entsprechend dem Ausgang des bundesgerichtlichen Verfahrens sind die Kosten
dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Ein Anspruch auf eine
Parteientschädigung besteht nicht (Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten
werden kann.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Luzern, Kriminal- und Anklagekommission, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 5. April 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: