Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.679/2001
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2001
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2001


1P.679/2001/sta

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                     14. November 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Nay, Bundesrichter Féraud und Gerichtsschreiber
Härri.

                         ---------

                         In Sachen

I.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Guido Hensch, Genferstrasse 23, Postfach 249, Zürich,

                           gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons  Z ü r i c h,
Anklagekammer des Obergerichts des Kantons  Z ü r i c h,

                         betreffend
                 Art. 8, 9, 10 und 31 BV,
                     (Sicherheitshaft)
    (staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss der
   Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom
                    14. September 2001),

hat sich ergeben:

     A.- I.________ wurde 1954 geboren und ist türkischer
Staatsangehöriger. Mit Anklageschrift vom 26. Juni 2001
wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, am Abend des 28. Juni
2000 mit einem Küchenmesser (Klingenlänge ca. 25 cm) mehr-
mals auf seine Ehefrau eingestochen und ihr dabei schwere
Verletzungen im Bauch und an der Hand zugefügt zu haben. Die
Staatsanwaltschaft beantragt die Bestrafung von I.________
wegen vollendeten Tötungsversuches im Sinne von Art. 111 in
Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 StGB.

        I.________ befindet sich seit dem 28. Juni 2000 in
Haft. Am 20. Oktober 2000 und 11. April 2001 wies das Bun-
desgericht von I.________ gegen die Untersuchungshaft erho-
bene staatsrechtliche Beschwerden ab, soweit es darauf ein-
trat.

        Am 10. Juli 2001 ordnete der Präsident der Anklage-
kammer des Obergerichts des Kantons Zürich die Sicherheits-
haft an. Am 8. August 2001 ersuchte I.________ um Aufhebung
der Haft. Am 17. August 2001 gab der Präsident der Anklage-
kammer dem Gesuch keine Folge und überwies die Akten der An-
klagekammer zum endgültigen Entscheid. Diese wies mit Be-
schluss vom 14. September 2001 das Haftentlassungsgesuch ab.

     B.- I.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit
dem Antrag, den Beschluss der Anklagekammer aufzuheben; er
sei auf freien Fuss zu setzen. I.________ rügt eine Verlet-
zung von Art. 8, 9, 10 und 31 BV.

     C.- Die Anklagekammer hat auf eine Vernehmlassung ver-
zichtet.

        Die Staatsanwaltschaft hat sich vernehmen lassen
mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.

     D.- I.________ hat Bemerkungen zur Vernehmlassung der
Staatsanwaltschaft eingereicht.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Die staatsrechtliche Beschwerde ist grundsätz-
lich kassatorischer Natur, das heisst es kann mit ihr nur
die Aufhebung des angefochtenen Entscheids, nicht aber der
Erlass positiver Anordnungen durch das Bundesgericht ver-
langt werden. Eine Ausnahme gilt dann, wenn die von der Ver-
fassung geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des
kantonalen Entscheids hergestellt wird, sondern dafür eine
positive Anordnung nötig ist. Das trifft hinsichtlich einer
nicht oder nicht mehr gerechtfertigten Untersuchungshaft zu
(BGE 124 I 327 E. 4 mit Hinweisen). Auf die Beschwerde ist
daher einzutreten, soweit der Beschwerdeführer beantragt, er
sei auf freien Fuss zu setzen.

        b) Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss die Beschwer-
deschrift die wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste
Darlegung darüber enthalten, welche verfassungsmässigen
Rechte bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie durch den
angefochtenen Erlass oder Entscheid verletzt worden sind. Im
staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren prüft das Bundesge-
richt nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich,
belegte Rügen (BGE 125 I 492 E. 1b mit Hinweisen).

        Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von
Art. 8 und 9 BV geltend macht, genügt die Beschwerde den Be-
gründungsanforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG nicht.
Darauf kann nicht eingetreten werden.

     2.- Der Beschwerdeführer rügt, der angefochtene Be-
schluss verletze sein Recht auf persönliche Freiheit.

        a) Gemäss Art. 10 Abs. 2 BV hat jeder Mensch das
Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf Bewegungs-
freiheit.

        Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf
das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen
der Ablehnung eines Haftentlassungsgesuchs erhoben werden,
prüft das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung des kan-
tonalen Rechts frei (BGE 123 I 268 E. 2d mit Hinweis).

        Gemäss § 67 Abs. 2 der Strafprozessordnung des Kan-
tons Zürich (im Folgenden: StPO) ist für den Entscheid über
die Anordnung der Sicherheitshaft § 58 StPO anwendbar. Nach
§ 58 Abs. 1 Ziff. 1 StPO darf Untersuchungshaft angeordnet
werden, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Ver-
gehens dringend verdächtigt wird und ausserdem aufgrund be-
stimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss, er
werde sich der Strafverfolgung oder der zu erwartenden Stra-
fe durch Flucht entziehen.

        b) Der Beschwerdeführer ist grundsätzlich gestän-
dig, den in der Anklageschrift geschilderten Sachverhalt
verwirklicht zu haben. Der dringende Tatverdacht ist un-
streitig gegeben.

        c) Die Anklagekammer bejaht Fluchtgefahr. Sie
stützt ihren Entscheid einzig auf diesen Haftgrund. Kollusi-
onsgefahr nimmt sie nicht an. Soweit der Beschwerdeführer
Kollusionsgefahr bestreitet, gehen seine Ausführungen des-
halb an der Sache vorbei.

        aa) Nach der Rechtsprechung genügt für die Annahme
von Fluchtgefahr die Höhe der dem Angeschuldigten drohenden
Freiheitsstrafe für sich allein nicht. Fluchtgefahr darf
nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der
Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete
Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als mög-
lich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Höhe
der drohenden Freiheitsstrafe kann nur neben anderen eine
Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE 125
I 60 E. 3a mit Hinweisen).

        bb) Der Beschwerdeführer lebt seit 1983 in der
Schweiz. Trotz dieses vergleichsweise langen Aufenthalts ist
er hier nur wenig integriert. Seine Bezugspersonen sind
hauptsächlich Türken. Nach den Ausführungen im psychiatri-
schen Gutachten vom 21. Dezember 2000 ist er weiterhin im
türkischen Kulturkreis verwurzelt. Für seine Einvernahmen
musste ein Türkisch-Dolmetscher beigezogen werden. Der Be-
schwerdeführer pflegt nach wie vor Beziehungen zur Türkei.
Das belegen hohe Telefonrechnungen, welche sich aufgrund von
Gesprächen mit Personen in der Türkei ergaben. Er hat dort
namentlich eine Schwester. In der Schweiz hatte der Be-
schwerdeführer - bereits vor der Verhaftung - erhebliche fi-
nanzielle Schwierigkeiten. Die Ehe mit seiner Schweizer Ehe-
frau wurde am 31. August 2001 geschieden. Dem Beschwerdefüh-
rer wird eine schwere Straftat zur Last gelegt; es droht ihm
eine mehrjährige Freiheitsstrafe. Wie die Staatsanwaltschaft
in der Vernehmlassung darlegt, wird sie eine Strafe von 5
bis 10 Jahren beantragen. Diese Umstände sprechen für die
Annahme von Fluchtgefahr.

        Der Beschwerdeführer hat mit seiner geschiedenen
Ehefrau drei Kinder (geb. 1984, 1985 und 1989). Diese wurden
im Scheidungsurteil unter die elterliche Sorge der Mutter
gestellt. Wie der Beschwerdeführer in den Bemerkungen zur
Vernehmlassung selber einräumt, befindet sich das 1985 ge-
borene Kind in England. Die 1984 und 1989 geborenen Kinder
leben nach seinen Angaben nach wie vor in der Schweiz. Das
älteste Kind war Zeugin der dem Beschwerdeführer vorgewor-
fenen Tat. Angesichts des Alters dieses nun bald mündigen
Kindes verzichteten die Parteien in der richterlich geneh-
migten Vereinbarung über die Scheidungsfolgen auf eine Rege-
lung des Besuchsrechts. Demgegenüber wurde dem Beschwerde-
führer für das jüngste Kind an 2 Tagen pro Monat ein Be-
suchsrecht eingeräumt, welches nach der Haftentlassung wirk-
sam wird. Dies spricht unter den vorliegenden Umständen je-
doch nicht vorbehaltlos gegen Fluchtgefahr. Denn wie der Be-
fragung durch die Scheidungsrichterin vom 31. August 2001
zu entnehmen ist, hat das jüngste Kind Angst vor dem Vater
und will ihn zurzeit nicht sehen.

        Ohne Einschränkung gegen Fluchtgefahr spricht ein-
zig, dass der frühere Arbeitgeber des Beschwerdeführers of-
fenbar bereit wäre, ihn bei einer Haftentlassung zumindest
temporär wieder anzustellen.

        In Anbetracht der angeführten für die Fluchtgefahr
sprechenden Umstände ist es verfassungsrechtlich jedoch
nicht zu beanstanden, wenn die Anklagekammer diesen Haft-
grund bejaht hat. Es besteht nicht nur die abstrakte Mög-
lichkeit, dass sich der Beschwerdeführer durch Flucht der
Strafverfolgung bzw. der zu erwartenden Strafe entziehen
könnte. Vielmehr sind dafür ernsthafte Anhaltspunkte gege-
ben.

        cc) Dass mit milderen Ersatzmassnahmen anstelle der
Untersuchungshaft die Fluchtgefahr gebannt werden könnte,
ist nicht ersichtlich. Was der Beschwerdeführer in der Be-
schwerde insoweit vorbringt, geht erneut an der Sache vor-
bei. Er macht geltend, das Fernhalten von der Baslerstrasse,
wo er mit seiner Familie gewohnt hat, reiche aus, um einer
möglichen Wiederholungsgefahr zu begegnen. Es geht hier, wie
gesagt, aber gar nicht um Wiederholungsgefahr, sondern um
Fluchtgefahr. Zur Verminderung der Fluchtgefahr kann die
Fernhaltung von der Baslerstrasse offensichtlich nichts bei-
tragen.

        d) Der Beschwerdeführer rügt, die Dauer der Haft
sei unverhältnismässig.

        aa) Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3
EMRK hat eine in strafprozessualer Haft gehaltene Person
Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist abgeur-
teilt oder während des Strafverfahrens aus der Haft entlas-
sen zu werden. Eine übermässige Haftdauer stellt eine unver-
hältnismässige Beschränkung dieses Grundrechts dar. Sie
liegt dann vor, wenn die Haftfrist die mutmassliche Dauer
der zu erwartenden freiheitsentziehenden Sanktion über-
steigt. Bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Haft-
dauer ist namentlich der Schwere der untersuchten Straftaten
Rechnung zu tragen. Der Haftrichter darf die Haft nur so
lange erstrecken, als sie nicht in grosse zeitliche Nähe der
konkret zu erwartenden Dauer der freiheitsentziehenden Sank-
tion rückt. Im Weiteren kann eine Haft die zulässige Dauer
auch dann überschreiten, wenn das Strafverfahren nicht genü-
gend vorangetrieben wird, wobei sowohl das Verhalten der
Justizbehörden als auch dasjenige des Inhaftierten in Be-
tracht gezogen werden muss. Nach der übereinstimmenden
Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Organe der Europä-
ischen Menschenrechtskonvention ist die Frage, ob eine Haft-

dauer als übermässig bezeichnet werden muss, aufgrund der
konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen
(BGE 126 I 172 E. 5a mit Hinweisen).

        bb) Der Beschwerdeführer befand sich im Zeitpunkt
des angefochtenen Beschlusses seit rund 14 1/2 Monaten in
Haft. Diese Dauer kann nicht als übermässig bezeichnet wer-
den. Es kommt hier, wie dargelegt, aufgrund der Schwere der
Straftat grundsätzlich eine mehrjährige Freiheitsstrafe in
Betracht. Dem strafrichterlichen Urteil darf allerdings
nicht vorgegriffen werden. Wie hoch die Strafe sein wird,
wird wesentlich davon abhängen, wieweit eine Verminderung
der Zurechnungsfähigkeit angenommen wird. Das psychiatrische
Gutachten kommt insoweit je nach Sachverhaltsannahme zu un-
terschiedlichen Schlüssen; eine völlige Unzurechnungsfähig-
keit schliesst der Gutachter aber aus. Der Beschwerdeführer
ist der Auffassung, eine Freiheitsstrafe von 18 Monaten be-
dingt sei noch möglich. Die Staatsanwaltschaft erachtet das
als unrealistisch. Wie es sich damit verhält, kann offen
bleiben. Selbst wenn man von einer Freiheitsstrafe von nur
18 Monaten bedingt ausginge, würde die Untersuchungshaft von
14 1/2 Monaten die Dauer der zu erwartenden Strafe noch
deutlich unterschreiten. Die Möglichkeit der Ausfällung ei-
ner lediglich bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe wird
nach der Rechtsprechung grundsätzlich nicht berücksichtigt
(BGE 124 I 208 E. 6 mit Hinweis).

     3.- Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen, soweit da-
rauf eingetreten werden kann.

        Von der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers ist
auszugehen. Da sich das Bundesgericht in den Urteilen vom
20. Oktober 2000 und 11. April 2001 zur Fluchtgefahr nicht
geäussert hat, konnte sich der Beschwerdeführer zur Be-

schwerde veranlasst sehen. Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung wird deshalb gutgeheissen.
Es sind keine Kosten zu erheben und dem Vertreter des Be-
schwerdeführers ist eine Entschädigung auszurichten.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen,
soweit darauf einzutreten ist.

     2.- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Ver-
beiständung wird gutgeheissen.

     3.- Es werden keine Kosten erhoben.

     4.- Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt
Dr. Guido Hensch, wird aus der Bundesgerichtskasse eine Ent-
schädigung von Fr. 1'000.-- ausgerichtet.

     5.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der
Staatsanwaltschaft und der Anklagekammer des Obergerichts
des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 14. November 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: