Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.653/2001
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1P.653/2001/sta

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                      8. November 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Féraud, Ersatzrichterin Pont Veuthey und Gerichts-
schreiber Forster.

                         ---------

                         In Sachen

L.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Guido Ranzi, Quaderstrasse 5, Postfach 519, Chur,

                           gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons  G r a u b ü n d e n,
Kantonsgericht von  G r a u b ü n d e n, Strafkammer,

                         betreffend
                Art. 10, Art. 29, Art. 31 BV
             (Haftprüfung, rechtliches Gehör),

hat sich ergeben:

     A.- Am 10. September 2001 verurteilte das Kantonsge-
richt von Graubünden (Strafkammer) L.________ wegen Sexual-
delikten zulasten eines Kindes zu sechs Jahren Zuchthaus.
Das Strafurteil ist noch nicht rechtskräftig. Im Urteilsdis-
positiv wurde gleichzeitig die Sicherheitshaft gegenüber dem
(vorher auf freiem Fuss befindlichen) Verurteilten angeord-
net.

     B.- Gegen den Haftanordnungsentscheid gelangte
L.________ mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 10. Oktober
2001 an das Bundesgericht. Er rügt eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) sowie der persönli-
chen Freiheit (Art. 10, Art. 31 BV), und er beantragt neben
der Aufhebung des angefochtenen Entscheides seine sofortige
Haftentlassung.

     C.- Das Kantonsgericht von Graubünden beantragt mit
Vernehmlassung vom 24. Oktober 2001 die Abweisung der Be-
schwerde, soweit darauf eingetreten werden kann. Die Staats-
anwaltschaft des Kantons Graubünden hat am 16. Oktober 2001
auf eine Stellungnahme ausdrücklich verzichtet.

        Der Beschwerdeführer hat am 5. November 2001 repli-
ziert.

     D.- Ein Gesuch des Beschwerdeführers um aufschiebende
Wirkung (bzw. vorsorgliche und superprovisorische Haftent-
lassung) wies der Präsident der I. öffentlichrechtlichen Ab-
teilung des Bundesgerichtes mit Verfügung vom 12. Oktober
2001 ab.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Der Beschwerdeführer beantragt neben der Aufhebung
des angefochtenen Entscheides seine Haftentlassung. Dieses
Begehren ist in Abweichung vom Grundsatz der kassatorischen
Natur der staatsrechtlichen Beschwerde zulässig, da im Falle
einer nicht gerechtfertigten strafprozessualen Haft die von
der Verfassung geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung
des angefochtenen Entscheids, sondern erst durch eine posi-
tive Anordnung hergestellt werden kann (BGE 124 I 327 E. 4a
S. 332; 115 Ia 296 f. E. 1a, je mit Hinweisen).

     2.- In verfahrensrechtlicher Hinsicht beanstandet der
Beschwerdeführer das Fehlen eines ausreichend begründeten
Haftanordnungsentscheides. Zwar sei er vom Vizepräsidenten
des Kantonsgerichtes von Graubünden mündlich "auf eine wegen
der hohen Strafe angebliche Fluchtgefahr" sowie "auf eine
angeblich nicht auszuschliessende Fortsetzungsgefahr" ver-
wiesen worden. "Die fehlende schriftliche Begründung des
Entscheides über die Sicherheitshaft" verstosse jedoch "ge-
gen den Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 29 BV".

     3.- Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes zum An-
spruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) soll der
Betroffene wissen, warum die Behörde zu seinen Ungunsten
entschieden hat. Zwar besteht grundsätzlich kein Anspruch
auf eine ausführliche schriftliche Urteilsbegründung. Diese
muss jedoch zumindest so abgefasst sein, dass der Rechtsu-
chende den Entscheid gegebenenfalls sachgerecht anfechten
kann. Dies ist nur dann möglich, wenn sowohl der Betroffene
wie auch die Rechtsmittelinstanz sich über die Tragweite des
Entscheides ein Bild machen können. Zwar muss sich der Rich-

ter nicht ausdrücklich mit jeder tatbeständlichen Behauptung
und jedem rechtlichen Einwand der Parteien befassen. Die Ur-
teilsbegründung soll sich jedoch mit den für den Entscheid
wesentlichen Gesichtspunkten auseinandersetzen. Die Begrün-
dung kann sich dabei auch auf die schriftlichen Erwägungen
einer unteren kantonalen Instanz stützen. Ein blosser Hin-
weis auf die "Akten" genügt allerdings nicht. Je stärker der
Entscheid in die schutzwürdigen Interessen des Betroffenen
eingreift, desto höhere Anforderungen sind an die Begründung
des Entscheides zu stellen (BGE 126 I 97 E. 2b S. 102 f.;
124 II 146 E. 2a S. 149; 123 I 31 E. 2c S. 34; 122 IV 8
E. 2c S. 14 f., je mit Hinweisen).

        Jede Person, der die Freiheit entzogen wird, hat im
Übrigen Anspruch darauf, unverzüglich über die Gründe des
Freiheitsentzuges und über ihre Rechte unterrichtet zu wer-
den. Sie muss die Möglichkeit haben, ihre Rechte geltend zu
machen (Art. 31 Abs. 2 BV).

     4.- Im angefochtenen Entscheid vom 10. September 2001
wird (unter Dispositiv Ziffer 7) Folgendes erkannt: "Über
den Verurteilten wird die Sicherheitshaft verfügt, welche
bis zu einer anderslautenden Verfügung aufrecht bleibt".

        a) Gestützt auf diesen Entscheid wurde der (vorher
auf freiem Fuss befindliche) Beschwerdeführer sogleich in-
haftiert. Er befindet sich seit ca. zwei Monaten in Sicher-
heitshaft. Angesichts der noch nicht rechtskräftigen straf-
rechtlichen Verurteilung handelt es sich um strafprozessua-
len Freiheitsentzug. Der Beschwerdeführer steht namentlich
unter dem Schutz der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV).

        b) Eine Begründung für die Anordnung der Sicher-
heitshaft lässt sich dem angefochtenen Entscheid nicht ent-
nehmen. Die kantonalen Behörden legen auch keine weiteren

Akten vor, etwa Protokollauszüge über die mündliche Verhand-
lung vom 10. September 2001, welche dem Beschwerdeführer un-
verzüglich zugestellt worden wären, und gestützt auf die er
seine Rechte hätte wahren bzw. den Haftanordnungsentscheid
hätte anfechten können. Dem als "Protokoll Hauptverhand-
lung - Beratung" bezeichneten zweiseitigen Aktenstück des
Kantonsgerichtes lassen sich keine Hinweise auf allfällige
Haftgründe oder entsprechende Erwägungen des Gerichts ent-
nehmen. In den Handnotizen der Protokollführerin findet sich
(auf Seite 15) folgende Anmerkung: "7. Fortsetzungsgefahr
- Sicherheitshaft, Strafe = gewisse Fluchtgefahr".

        c) Formlose mündliche Ausführungen des Haftrichters
ausserhalb des Protokolls können als Basis für eine straf-
prozessuale Haftanordnung grundsätzlich nicht standhalten.
Zum einen wird dem Betroffenen - mangels verbindlicher und
nachprüfbarer Entscheidgründe - das wirksame Beschreiten des
Rechtsweges erschwert oder gar verunmöglicht (vgl. Art. 31
Abs. 2 BV, Art. 5 Ziff. 4 EMRK). Zum anderen sind an die in-
haltliche und formale Begründung von schweren Eingriffen in
die persönliche Freiheit besonders hohe Massstäbe zu legen
(Art. 29 Abs. 2 i.V.m. Art. 10 Abs. 2 BV).

        Der angefochtene Haftanordnungsentscheid hält vor
dem verfassungsmässigen Begründungsgebot (Art. 29 Abs. 2
i.V.m. Art. 31 Abs. 2 BV) nicht stand. Die vom Kantonsge-
richt nur mündlich eröffneten Haftgründe der Flucht- und
Kollusionsgefahr sind aufgrund der vorliegenden kantonalen
Haftakten nicht ausreichend erstellt und begründet.

     5.- Nach dem Gesagten ist die Beschwerde im Sinne der
Erwägungen gutzuheissen. Ziffer 7 des Urteilsdispositives
vom 10. September 2001 ist aufzuheben, und die Streitsache

ist zur neuen Beurteilung bzw. ausreichenden schriftlichen
Begründung des Haftentscheides an das Kantonsgericht zurück-
zuweisen.

        Eine "Heilung" der mangelhaften Begründung im Rah-
men des bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahrens kommt im
vorliegenden Fall nicht in Betracht (vgl. BGE 124 V 180
E. 4a S. 183, 389 E. 5a S. 392; 122 II 274 E. 6 S. 285; 116
Ia 94 E. 2 S. 95 f.).

        Eine Haftentlassung rechtfertigt sich im heutigen
Zeitpunkt hingegen nicht, zumal der Beschwerdeführer ein-
räumt, er sei anlässlich der Haftanordnung jedenfalls münd-
lich auf mögliche Haftgründe der Flucht- oder Wiederholungs-
gefahr hingewiesen worden.

        Bei diesem Verfahrensausgang werden keine Kosten
erhoben (Art. 156 Abs. 2 OG). Hingegen ist dem anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschä-
digung zuzusprechen (Art. 159 OG).

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird im Sinne der
Erwägungen gutgeheissen, und Ziffer 7 des Urteilsdispositi-
ves vom 10. September 2001 des Kantonsgerichtes von
Graubünden wird aufgehoben.

     2.- Das Haftentlassungsgesuch wird abgewiesen.

     3.- Es werden keine Kosten erhoben.

     4.- Der Kanton Graubünden hat dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu entrichten.

     5.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der
Staatsanwaltschaft und dem Kantonsgericht von Graubünden,
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 8. November 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: