Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.640/2001
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1P.640/2001/sta

Urteil vom 4. Februar 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Nay, Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Dreifuss.

X.________, Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, Obere Vorstadt 38, 5000
Aarau.

Art. 29 Abs. 2 BV (Strafverfahren)

(Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, 1. Strafkammer, vom 23. August 2001)
Sachverhalt:

A.
X. ________ wurde vom Bezirksgericht Bremgarten am 27. Januar 2000 der
einfachen Körperverletzung, der Gewalt und Drohung gegen Beamte und der
Hinderung einer Amtshandlung schuldig gesprochen und zu einer bedingt
vollziehbaren Strafe von 3 Monaten Gefängnis sowie einer Busse von Fr. 500.--
verurteilt. Gleichzeitig widerrief das Bezirksgericht den bedingten Vollzug
einer vom selben Gericht am 16. Dezember 1997 ausgesprochenen Strafe von 1
1/2 Monaten Gefängnis.

X. ________ erhob gegen das Urteil vom 27. Januar 2000 Berufung beim
Obergericht des Kantons Aargau und beantragte sinngemäss, er sei von Schuld
und Strafe freizusprechen. Das Obergericht (1. Strafkammer) trat am 25.
August 2000 auf die mit Datum vom 30. Mai 2000 versehene Berufung nicht ein,
weil X.________ diese erst am 2. Juni 2000 der schweizerischen Post übergeben
und damit die am 31. Mai 2000 abgelaufene Berufungsfrist nicht eingehalten
habe.

B.
Dagegen gelangte X.________ mit einer als "Berufung" bezeichneten Eingabe vom
9. Oktober 2000 an das Obergericht. Er machte im Wesentlichen geltend, er
habe die auf den 30. Mai 2000 datierte Berufung bereits am Tage vor Auffahrt,
dem 31. Mai 2000, nach Erkundigung bei einem SBB-Angestellten in einen
Briefkasten der schweizerischen Post am Bahnhof H. eingeworfen und nicht erst
am 2. Juni 2000. Er habe die Berufungsfrist nicht überschritten. Das Urteil
vom 25. August 2000 sei zu widerrufen.

Das Obergericht überwies die Eingabe am 17. Oktober 2000 dem Bundesgericht
zur Behandlung. Der Instruktionsrichter des Bundesgerichts sandte sie am 4.
Dezember 2000 zur allfälligen Behandlung als Begehren um Revision des
obergerichtlichen Urteils an das Obergericht zurück.

Dieses trat auf das Revisionsbegehren mit Beschluss vom 1. März 2001 nicht
ein, da eine Revision des Prozessurteils vom 25. August 2000 weder nach § 230
der Strafprozessordnung des Kantons Aargau (StPO/AG) noch nach Art. 397 StGB
zulässig sei. Gegen diesen Beschluss erhob X.________ mit Eingabe vom 9.
April 2001 staatsrechtliche Beschwerde (Verfahren 1P.266/2001).

Das Bundesgericht hiess diese Beschwerde am 12. Juni 2001 gut und hob den
Obergerichtsbeschluss vom 1. März 2001 auf (BGE 127 I 133). Es hielt fest,
dass es eine grundsätzlich in allen Prozessverfahren Geltung beanspruchende
Verfahrensgarantie darstelle, ein materiell und formell rechtskräftiges
Urteil, das mit der materiellen Wahrheit nicht übereinstimme, unter
bestimmten Voraussetzungen korrigieren zu können. Der
Nichteintretensentscheid des Obergerichts vom 25. August 2000 versperre dem
Beschwerdeführer den ordentlichen Rechtsmittelweg gegen die Verurteilung
endgültig. Er müsse daher aufgrund der Verfahrensgarantie gemäss Art. 29 Abs.
1 BV nötigenfalls nachträglich auf dem Weg der Revision korrigiert werden
können, ohne dass es eine Rolle spiele, ob es sich dabei um ein Sach- oder
Prozessurteil handle. Der Beschwerdeführer habe mit der Behauptung, die
Berufungseingabe am 31. Mai 2000 der Post übergeben zu haben, eine neue und
erhebliche Tatsache geltend gemacht. Das Obergericht wäre daher verpflichtet
gewesen, die Eingabe vom 9. Oktober 2000 als zulässiges Gesuch um
Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens im Sinne der analog als anwendbar zu
betrachtenden Bestimmung von § 230 StPO/AG entgegen zu nehmen und zu
behandeln (BGE 127 I 133 E. 6 und 7).

C.
Das Obergericht wies das Wiederaufnahmegesuch in der Folge mit Urteil vom 23.
August 2001 ab. Es befand, der Gesuchsteller habe die behauptete neue
Tatsache der Rechtzeitigkeit seiner Berufung nicht nachweisen können.

D.
X.________ erhob mit Eingabe vom 2./5. Oktober 2001 erneut staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Er beantragt
sinngemäss, das Urteil vom 23. August 2001 und der Obergerichtsentscheid vom
1. März 2001 seien aufzuheben und das Obergericht anzuweisen, das
Strafverfahren wieder aufzunehmen. Ferner ersucht er um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege sowie um Auskunft über Möglichkeiten gegen die
"unnötigen Rechtsverweigerungen" der kantonalen Instanzen vorzugehen.

E.
Das Obergericht hat auf eine Stellungnahme zur Beschwerde verzichtet. Die
Staatsanwaltschaft hat sich nicht vernehmen lassen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau vom 1. März 2001 wurde
vom Bundesgericht bereits mit Urteil vom 12. Juni 2001 aufgehoben. Der
entsprechende Antrag ist daher gegenstandslos.

1.2 Die staatsrechtliche Beschwerde ist, abgesehen von hier nicht
zutreffenden Ausnahmen, rein kassatorischer Natur. Soweit der
Beschwerdeführer mehr als die Aufhebung des angefochtenen Urteils vom 23.
August 2001 verlangt, kann auf seine Beschwerde nicht eingetreten werden (BGE
125 II 86 E. 5a S. 96 mit Hinweisen). Ferner kann das Bundesgericht auf das
gestellte Auskunftsersuchen nicht eingehen.

1.3 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen der staatsrechtlichen Beschwerde
sind vorliegend erfüllt. Auf die Beschwerde ist unter den vorstehend
angeführten Vorbehalten einzutreten.

2.
2.1Nach § 230 Ziff. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Aargau vom 11.
November 1958 (StPO/AG) kann gegen jedes rechtskräftige Strafurteil die
Wiederaufnahme des Verfahrens verlangt werden, wenn erhebliche Tatsachen oder
Beweismittel vorliegen, die dem Gericht zur Zeit des früheren Verfahrens
nicht bekannt waren und die allein oder zusammen mit den früher
festgestellten Tatsachen geeignet sind, die Freisprechung des Verurteilten
oder eine erheblich geringere Bestrafung herbeizuführen oder eine andere
Beurteilung des Zivilpunktes zu bewirken.

2.2 Das Obergericht führte aus, es sei in seinem Urteil vom 25. August 2000
gestützt auf den Poststempel davon ausgegangen, dass die auf den 30. Mai 2000
datierte Berufung erst am Freitag, den 2. Juni 2000 der Post übergeben worden
sei. In seiner Eingabe vom 9./11. Oktober 2000 mache der Beschwerdeführer als
neue Tatsache geltend, die Postaufgabe der Berufung sei rechtzeitig am 31.
Mai und nicht erst am 2. Juni 2000 erfolgt. Sollte diese Behauptung
zutreffen, stelle dies eine neue und somit im Wiederaufnahmeverfahren
beachtliche Tatsache dar. In der Folge wies das Obergericht das
Wiederaufnahmegesuch ab, weil der Beschwerdeführer den ihm obliegenden Beweis
nicht erbracht habe, dass er die Berufungseingabe am 31. Mai 2000 in einen
Briefkasten geworfen und damit der Post übergeben habe.

Der Beschwerdeführer rügt sinngemäss, das Obergericht sei damit in Willkür
verfallen. In der Abweisung des Revisionsgesuches liege daher eine formelle
Rechtsverweigerung.

2.3 Willkür liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht
schon dann vor, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder
gar vorzuziehen wäre. Im Bereich der Beweiswürdigung verfügt der Sachrichter
über einen weiten Ermessensspielraum. Das Bundesgericht greift auf
staatsrechtliche Beschwerde hin nur ein, wenn die Beweiswürdigung
offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem
Widerspruch steht, auf einem offenkundigen Versehen beruht oder in stossender
Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 127 I 38 E. 2a; 124 I 208
E. 4a; 124 IV 86 E. 2a S. 88; 120 Ia 31 E. 4b, je mit Hinweisen).

Das Obergericht erwog, der Beweis, dass eine schriftliche Eingabe an einem
früheren Tag als an demjenigen gemäss Poststempel bei der Post aufgegeben
worden sei, könne beispielsweise durch Zeugen erbracht werden, die den
Zeitpunkt des Einwurfs in einen Briefkasten bestätigten. Der Beschwerdeführer
vermöge weder solche Zeugen noch andere Beweismittel für den rechtzeitigen
Einwurf zu nennen. Insbesondere mache er nicht geltend, dass der
SBB-Angestellte Y.________, den er nach der Zeit der Leerung des Briefkastens
am Bahnhof sowie nach der Post in H. gefragt haben wolle, ihn beim Einwurf
beobachtet habe. Es sei nicht einzusehen, weshalb der Beschwerdeführer den
Brief nicht gleich bei der Post in H. eingeworfen habe, wo er zuvor beim
Automaten die Briefmarke kaufte. Dem Beschwerdeführer sei nach eigenen
Angaben bewusst gewesen, dass die Post am Tag vor Auffahrt, dem letzten Tag
der Frist, früher schliessen könnte. Es sei deshalb nicht nachvollziehbar,
weshalb er die Sendung nicht früher eingeschrieben zugestellt habe. Die
Eingabe des Beschwerdeführers sei von der Post am 2. Juni 2000 erst um 12.00
Uhr abgestempelt worden. Es erschiene unwahrscheinlich, das der Briefumschlag
erst um diese Zeit abgestempelt worden wäre, wenn der Beschwerdeführer die
Sendung tatsächlich noch am 31. Mai 2000 eingeworfen hätte. Seine Behauptung
allein, die Berufung an diesem Tag in den Briefkasten eingeworfen zu haben,
vermöge den Nachweis der Rechtzeitigkeit der Berufung nicht zu erbringen.

Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, er habe genügende Beweise
dafür erbracht, dass der Briefkasten am Bahnhof H. am 31. Mai 2000 entgegen
der angebrachten Aufschrift um 17.00 Uhr und nicht erst um 18.00 Uhr geleert
worden sei. Er habe die Berufungseingabe nachweislich in dieser Zeitspanne
zwischen der Leerung und der angegebenen falschen Leerungszeit um 18.00 Uhr
einwerfen können.

Der Beschwerdeführer übersieht, dass es das Obergericht auch bei einem
erbrachten Nachweis, dass der Briefkasten am 31. Mai 2000 entgegen der
Aufschrift bereits um 17.00 Uhr und nicht erst um 18.00 Uhr geleert wurde,
nicht ohne weitere Beweismittel als bewiesen betrachten musste, dass er die
Berufungseingabe auch tatsächlich an diesem Tag zwischen 17.00 und 18.00 Uhr
in diesen eingeworfen habe. Selbst wenn bewiesen wäre, dass der Briefkasten
am fraglichen Tag entgegen der Aufschrift bereits um 17.00 Uhr geleert wurde,
ist es nicht offensichtlich unhaltbar, wenn es das Obergericht aufgrund der
Behauptungen des Beschwerdeführers, er habe den Brief an diesem Tag zwischen
17.00 und 18.00 Uhr in den Briefkasten am Bahnhof H. eingeworfen, nicht als
rechtsgenügend nachgewiesen betrachtete, dass die Berufung rechtzeitig
aufgegeben wurde. Dies umso mehr als der Beschwerdeführer in seiner Eingabe
vom 9./11. Oktober 2000 geltend machte, nach seinen Abklärungen bei der Post
H. müsste der Briefumschlag, wenn er am Bahnhof H. eingeworfen wurde, einen
Luzerner und keinen H. Stempel aufweisen, da die Post Luzern für die Leerung
des dortigen Briefkastens zuständig sei. Der bei den Akten liegende
Briefumschlag wurde indessen in H. abgestempelt. Das spricht gegen die
Darstellung des Beschwerdeführers, weshalb das Obergericht an der Richtigkeit
seiner Behauptungen zweifeln durfte, ohne damit in Willkür zu verfallen.

Auch die erhobene Rüge, das Obergericht hätte, da es vorliegend um ein
Fristproblem gehe, bei der Post und nicht beim SBB-Angestellten am Bahnhof H.
Abklärungen vornehmen sollen, hilft dem Beschwerdeführer nicht weiter. Es ist
nicht ersichtlich, inwiefern Nachforschungen bei der Post vorliegend etwas
zur Beantwortung der Frage hätten beitragen können, ob der Beschwerdeführer
die Eingabe tatsächlich am 31. Mai 2000 in den Briefkasten am Bahnhof H.
eingeworfen hat.

Die Willkürrüge erweist sich damit als unbegründet. In der Abweisung des
Revisionsgesuchs und der damit erfolgten Bestätigung, dass die Berufung
verspätet erhoben wurde, kann daher keine formelle Rechtsverweigerung gesehen
werden.

3.
Nach dem Ausgeführten ist die staatsrechtliche Beschwerde als unbegründet
abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Da die Beschwerde von
vornherein aussichtslos war, sind die Voraussetzungen der unentgeltlichen
Rechtspflege nicht erfüllt und kann das entsprechende Gesuch nicht bewilligt
werden (Art. 152 Abs. 1 OG). Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die
bundesgerichtlichen Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 4. Februar 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: