Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.632/2001
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1P.632/2001/sch

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
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                     16. November 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Nay, Bundesrichter Féraud und Gerichtsschreiber
Störi.

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                         In Sachen

Klaus  S t a d l e r, Reckholderstrasse 18, Uesslingen,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jost
Gross, Haus Washington, Rosenbergstrasse 22, St. Gallen,

                           gegen

Politische Gemeinde  U e s s l i n g e n  -  B u c h,
vertreten durch den Gemeinderat,
Departement für Inneres und Volkswirtschaft des
Kantons  T h u r g a u,
Verwaltungsgericht des Kantons T h u r g a u,

                         betreffend
                     Art. 85 lit. a OG
             (Ansetzen der Gemeindeversammlung),

hat sich ergeben:

     A.- Am 22. Dezember 2000 lud die Politische Gemeinde
Uesslingen-Buch die Stimmberechtigten zur auf den 15. Januar
2001, 09.00 Uhr, angesetzten "Berchtelisgemeindeversammlung"
ein.

        Am 5. Januar 2001 rekurrierte der in Uesslingen-
Buch wohnhafte Klaus Stadler ans Departement für Inneres
und Volkswirtschaft des Kantons Thurgau. Er beantragte im
Wesentlichen, die an der Gemeindeversammlung vom 15. Januar
2001 ergehenden Beschlüsse aufzuheben und "den Gemeinderat
anzuweisen, in Zukunft die Gemeindeversammlungen nicht wäh-
rend der üblichen Arbeitszeiten durchzuführen". Zur Begrün-
dung führte er an, die vormittägliche Versammlungszeit an
einem Arbeitstag sei für die Erwerbstätigen, Lehrlinge,
Schüler und Studenten der Politischen Gemeinde Uesslingen-
Buch ein wiederkehrendes, unnötiges, unwürdiges und unge-
rechtes Hindernis auf dem Weg zur Teilnahme an der Gemein-
deversammlung. Die Ermittlung des demokratischen Willens
erfolge an dieser Versammlung mit nicht repräsentativer
Vertretung der Bevölkerung.

        Das Departement für Inneres und Volkswirtschaft
wies diesen Rekurs am 14. Mai 2001 ab und erklärte die Ge-
meindeversammlung, die in der Zwischenzeit wie vorgesehen
stattgefunden hatte, gültig.

        Klaus Stadler erhob gegen diesen Entscheid Be-
schwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
welches sie am 22. August 2001 abwies.

     B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 2. Oktober
2001 wegen Verletzung des Stimmrechts beantragt Klaus Stadler,
den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 22. August 2001 auf-
zuheben und festzustellen, dass die "Wahl- und Abstimmungs-
freiheit der Gemeindebürger von Uesslingen durch das Anset-
zen der Gemeindeversammlung während der Arbeitszeit, nämlich
am 15. Januar 2001 um 9.00 Uhr, verletzt" worden sei. Even-
tualiter seien die dabei gefassten Beschlüsse ungültig zu
erklären. Mit Eingabe vom 10. Oktober 2001 beantragt Klaus
Stadler zudem, den Gemeinderat von Uesslingen-Buch in einer
vorsorglichen Verfügung anzuweisen, den kommenden Januar-
Termin der Gemeindeversammlung auf einen Samstag oder den
Abend eines Werktags anzusetzen.

     C.- In der Vernehmlassung beantragen die Politische Ge-
meinde Uesslingen-Buch und das Departement für Inneres und
Volkswirtschaft, das Gesuch um aufschiebende Wirkung ebenso
wie die Beschwerde selber abzuweisen. Das Verwaltungsgericht
beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einge-
treten werden könne.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Auf Stimmrechtsbeschwerde im Sinn von Art. 85
lit. a OG hin beurteilt das Bundesgericht Beschwerden be-
treffend die politische Stimmberechtigung der Bürger in kan-
tonalen Wahlen und Abstimmungen. Als kantonal gelten auch
Wahlen und Abstimmungen in Gemeinden (BGE 119 Ia 167 E. 1a).
Der Beschwerdeführer ist in Uesslingen-Buch stimmberechtigt
und daher befugt, den angefochtenen, kantonal letztinstanz-
lichen (Art. 86 Abs. 1 OG) Beschwerdeentscheid des Verwal-
tungsgerichts wegen Verletzung seines Stimmrechts anzufech-

ten (BGE 121 I 357 E. 2a; 120 Ia 194 E. 1c). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen An-
lass, sodass auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehö-
rig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; 125 I 492
E. 1b; 122 I 70 E. 1c), grundsätzlich einzutreten ist.

        b) Nicht einzutreten ist allerdings auf die Be-
schwerde insoweit, als der Beschwerdeführer über die Auf-
hebung des angefochtenen Entscheids hinausgehende Anträge
stellt, da die Stimmrechtsbeschwerde, von hier nicht zu-
treffenden Ausnahmen abgesehen, kassatorischer Natur ist
(BGE 119 Ia 167 E. 1f S. 173).

        c) Bei Stimmrechtsbeschwerden prüft das Bundes-
gericht nicht nur die Auslegung von Bundesrecht und kan-
tonalem Verfassungsrecht frei, sondern auch diejenige
anderer kantonaler Vorschriften, welche den Inhalt des
Stimm- und Wahlrechts normieren oder mit diesem in engem
Zusammenhang stehen. Die Anwendung anderer kantonaler Vor-
schriften und die Feststellung des Sachverhalts wird ledig-
lich unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots geprüft
(BGE 123 I 175 E. 2d/aa; 119 Ia 154 E. 2c, je mit Hinwei-
sen).

        d) Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleis-
tete, bisher ungeschriebene, neu in Art. 34 Abs. 2 BV als
Grundrecht verankerte Stimmrecht gibt dem Bürger allgemein
den Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt
wird, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverläs-
sig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (BGE 125 I 441
E. 2a; 124 I 55 E. 2a; 121 I 138 E. 3).

     2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, viele Erwerbs-
tätige, Studenten und Schüler könnten während der Arbeits-
zeit nicht an einer Gemeindeversammlung teilnehmen. Durch

die Ansetzung einer solchen auf einen Arbeitstag würde daher
einer bestimmten (grossen) Gruppe von Stimmberechtigten die
Teilnahme an der Gemeindeversammlung erschwert oder verun-
möglicht, was mit dem in Art. 34 BV garantierten Stimmrecht
unvereinbar sei. Zudem habe die Gemeindeversammlung vom
23. Mai 1997 beschlossen, die Berchtelisgemeindeversammlung
auf einen Samstagmorgen oder den Morgen des 2. Januar zu
verschieben. Diese Abstimmung habe zwar nur konsultativen
Charakter gehabt, was indessen nichts daran ändere, dass
sie den Gemeinderat binde.

        a) Der Beschwerdeführer belegt seine Behauptung,
das Ergebnis der Konsultativabstimmung vom 23. März 1997 sei
für den Gemeinderat verbindlich, einzig mit einem Hinweis
auf Hangartner/Kley, Die demokratischen Rechte in Bund und
Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2000,
Rz. 2295, 2305, 2310. Dort wird jedoch nur - allgemein, ohne
Bezug auf die konkrete Rechtslage im Kanton Thurgau - ausge-
führt, Konsultativabstimmungen seien nicht einfach unbeacht-
lich, es komme ihnen "politischer Leitcharakter" bzw. "eine
bedingte rechtliche Verbindlichkeit" zu. Was sie genau unter
"politischer" bzw. "bedingter rechtlicher" - im Gegensatz zu
"rechtlicher" - Verbindlichkeit verstehen, legen die Autoren
allerdings nicht dar. Auch nach dieser Literaturmeinung war
der Gemeinderat Uesslingen-Buch jedoch jedenfalls rechtlich
nicht verpflichtet, die Berchtelisgemeindeversammlung von
1998 auf einen arbeitsfreien Termin - den Morgen des 2. Ja-
nuar oder einen Samstag - anzusetzen und hat dementsprechend
auch das Stimmrecht des Beschwerdeführers nicht verletzt,
indem er diese wie bis anhin am 3. Montag des Januar und
damit an einem nicht arbeitsfreien Tag um 09.00 Uhr durch-
führte.

        b) Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, die
Ansetzung der Gemeindeversammlung auf den 15. Januar 2001,
09.00 Uhr, habe gegen kantonales oder kommunales Recht ver-
stossen. Er rügt indessen, die auf diesen Termin einberufene

Gemeindeversammlung sei nicht repräsentativ zusammengesetzt,
weil viele Erwerbstätige nicht einfach frei nehmen könnten
oder wollten und daher die aktive Bevölkerung an der Berch-
telisgemeindeversammlung untervertreten gewesen sei.

        Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Ent-
scheid dazu ausgeführt, die Feierlichkeiten am 3. Montag
des Januar, dem "Berchtelistag", hätten in der engeren
Region Frauenfeld eine langjährige Tradition. Die umstrit-
tene Gemeindeversammlung werde immer an jenem Datum, und
nicht an einem beliebigen Werktag, abgehalten, sodass für
die Stimmberechtigten "ein erhöhtes Mass an Voraussehbarkeit
und Rechtssicherheit" bestehe. Die durchschnittliche Betei-
ligung an der Berchtelisversammlung sei höher als an der
zweiten, abends abgehaltenen Gemeindeversammlung; dies lasse
den Schluss zu, dass auch abends zahlreiche Stimmberechtigte
berufliche oder anderweitige Verpflichtungen hätten und
nicht an der Gemeindeversammlung teilnehmen könnten. Es sei
daher praktisch unmöglich zu ergründen, zu welcher Zeit am
meisten Stimmberechtigte in der Lage seien, an einer Ver-
sammlung teilzunehmen. Da in Uesslingen-Buch zwei Gemeinde-
versammlungen durchgeführt würden - eine am 3. Januarmontag
während der Arbeitszeit, eine vor Ende Juni abends -, sei
zudem gewährleistet, dass alle, erwerbstätige wie nicht-
erwerbstätige Stimmberechtigte, zumindest einmal jährlich
die Möglichkeit hätten, an einer Gemeindeversammlung Anträge
zur Verschiebung der Gemeindeversammlung auf einen günsti-
geren Termin zu stellen.

        c) Es liegt im Wesen der Versammlungsdemokratie,
dass es "den" idealen Termin für die Durchführung einer
Gemeindeversammlung, welcher allen Stimmberechtigten die
Teilnahme ermöglichen würde, nicht gibt. Dieser system-
bedingte Nachteil wird indessen durch verschiedene Vorteile
- etwa die direkte Einflussmöglichkeit jedes Versammlungs-
teilnehmers auf den Entscheidungsvorgang - aufgehoben. Unter

dem Gesichtspunkt des verfassungsmässigen Stimmrechts ist
es daher ohne weiteres zulässig, Gemeindeabstimmungen und
-wahlen an der Gemeindeversammlung oder der Urne durchzu-
führen (Grundlegend zu dieser Problematik der eine Lands-
gemeinde betreffende BGE 121 I 138).

        Hingegen ergibt sich aus dem Stimmrecht, dass die
Gemeindeversammlung auf einen geeigneten Termin angesetzt
werden muss, der möglichst vielen Stimmberechtigten eine
Teilnahme ermöglicht und möglichst wenige davon ausschliesst.
Die Ansetzung der Berchtelisgemeindeversammlung auf die Ar-
beitszeit eines für einen grossen Teil der Stimmberechtigten
regulären Arbeitstages ist daher, wie schon das Verwaltungs-
gericht feststellte, problematisch. Allerdings erfolgt diese
Ansetzung nicht willkürlich, sondern beruht auf einer loka-
len, zumindest seit dem Ende des 2. Weltkrieges bestehenden
Tradition. Sie wird auch offensichtlich noch gelebt, ist
doch die Berchtelisgemeinde nach den unbestrittenen Angaben
der Gemeinde jeweils besser besucht als die zweite, im Früh-
sommer (vor Ende Juni) abends stattfindende Gemeindeversamm-
lung. Es liegt daher keineswegs auf der Hand, und der Be-
schwerdeführer vermag dies auch nicht darzutun, dass die
aktive Bevölkerung an der Berchtelisgemeindeversammlung weit
weniger teilnähme als an der zweiten, abends stattfindenden
Gemeindeversammlung. Seine Behauptung, die Berchtelisver-
sammlung sei "nicht repräsentativ zusammengesetzt" und deren
Abstimmungsergebnisse entsprächen dementsprechend nicht dem
wahren Willen der Stimmberechtigten, bleibt damit blosse
Spekulation. Der Beschwerdeführer beantragt denn auch nur
in einem Eventualbegehren die Ungültigerklärung der an der
angefochtenen Versammlung gefassten Beschlüsse. Die Anset-
zung der Berchtelisgemeindeversammlung auf den Morgen des
Berchtelistages erweist sich unter diesen Umständen nicht
als verfassungswidrig, die Rüge ist unbegründet.

        Ob dieser Termin noch zeitgemäss und politisch
opportun ist, ist eine andere Frage, deren Beantwortung
allerdings zunächst und in erster Linie den Stimmberechtig-
ten der Gemeinde Uesslingen-Buch obliegt. Jeder von ihnen
kann an jeder Gemeindeversammlung einen Antrag auf eine
Verschiebung des umstrittenen Termins stellen und auf diese
Weise sicherstellen, dass die Gemeindeversammlungen so an-
gesetzt werden, wie es dem Willen der Mehrheit der teil-
nehmenden Stimmberechtigten entspricht.

     3.- Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf
einzutreten ist. Damit wird der Antrag auf Erlass einer vor-
sorglichen Massnahme hinfällig. Praxisgemäss sind bei Stimm-
rechtsbeschwerden keine Kosten zu erheben.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf ein-
getreten werden kann.

     2.- Es werden keine Kosten erhoben.

     3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der
Politischen Gemeinde Uesslingen-Buch, dem Departement für
Inneres und Volkswirtschaft und dem Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
                       ______________

Lausanne, 16. November 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
      Der Präsident:           Der Gerichtsschreiber: