Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.616/2001
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1P.616/2001/mks

Urteil vom 8. Februar 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Féraud, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Forster.

X.________, Beschwerdeführer, gesetzlich vertreten durch E.X.________,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Spisergasse 15, 9001 St. Gallen,
Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.

Art. 9 BV (Strafverfahren [SVG])

(Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St.
Gallen, Strafkammer, vom 28. Juni 2001)
Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 28. Januar 1999 fällte das Bezirksamt Wil gegen X.________
wegen Widerhandlung gegen das SVG (Verweigerung des signalisierten Vortritts)
eine Busse von Fr. 300.-- aus. Auf Einsprache des Gebüssten hin eröffnete das
Bezirksamt Wil eine Strafuntersuchung. Am 31. August 2000 erliess es gegen
X.________ einen Strafbescheid, in welchem die Busse bestätigt wurde. Auf
Verlangen des Gebüssten wurde die Strafsache vom Einzelrichter des
Bezirksgerichtes Wil beurteilt. Dieser sprach X.________ mit Strafurteil vom
8. November 2000 der einfachen Verkehrsregelverletzung schuldig und
verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 300.--.

B.
Die vom Verurteilten dagegen erhobene Rechtsverweigerungsbeschwerde wies das
Kantonsgericht (Strafkammer) des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 28.
Juni 2001 ab, soweit es darauf eintrat. Gegen den Entscheid des
Kantonsgerichtes gelangte X.________ mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 20.
September 2001 an das Bundesgericht. Er rügt insbesondere eine willkürliche
Beweiswürdigung und beantragt u.a. die Aufhebung des angefochtenen
Entscheides.

C.
Das Kantonsgericht St. Gallen hat am 11. Oktober 2001 auf eine Vernehmlassung
ausdrücklich verzichtet, während von der Staatsanwaltschaft des Kantons St.
Gallen keine Stellungnahme eingetroffen ist. Mit Präsidialverfügung vom 18.
Oktober 2001 wurde der Beschwerde (antragsgemäss) die aufschiebende Wirkung
zuerkannt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Beschwerdeschrift wurde sowohl durch den Beschwerdeführer als auch
durch dessen Vater unterzeichnet. Letzterer bezeichnet sich (auf Seite 1 der
Beschwerdeschrift) jedoch ausdrücklich nur als (gesetzlichen) Vertreter
seines Sohnes; an anderer Stelle ist von ihm allerdings (beiläufig und
sinngemäss) als Beschwerdeführender die Rede.

Der Vater wird vom angefochtenen Entscheid nicht persönlich und in seinen
eigenen Rechten betroffen. Soweit auch in seinem Namen dagegen Beschwerde
geführt wird, ist darauf mangels Beschwerdelegitimation nicht einzutreten
(Art. 88 OG).

1.2 Von hier nicht zutreffenden Ausnahmen abgesehen, ist die staatsrechtliche
Beschwerde rein kassatorischer Natur (BGE 125 I 104 E. 1b S. 107; 125 II 86
E. 5a S. 96, je mit Hinweisen). Soweit der Beschwerdeführer nicht nur die
Aufhebung des angefochtenen Entscheides (und die Rückweisung des Verfahrens
an die kantonalen Behörden) verlangt, sondern darüber hinaus beantragt, er
sei vom Bundesgericht von Schuld und Strafe freizusprechen, kann daher auf
die Beschwerde nicht eingetreten werden.

2.
2.1
Wie sich aus den Akten ergibt, fuhr der Beschwerdeführer am 16. November 1998
(um ca. 13.35 Uhr) mit seinem Personenwagen VW Golf auf der
Gebertschwilerstrasse Richtung Flawil. Bei der Einmündung nach rechts in die
vortrittsberechtigte St. Gallerstrasse (Fahrtrichtung Flawil) musste er den
signalisierten Vortritt gewähren. Auf der St. Gallerstrasse kam ihm ein
Sattelschlepper mit Anhänger (in Fahrtrichtung Gossau) entgegen. Dem
Sattelzug folgte A.________ in ihrem Personenwagen Opel Corsa. Sie
beabsichtigte, den Sattelschlepper (vor der Einmündung, beim Weiler
Oberglatt, etwa auf der Höhe des Signals "Aufhebung der
Geschwindigkeitsbegrenzung von 60 km/h") zu überholen.

Die kantonalen Instanzen erachteten als erwiesen, dass der Beschwerdeführer
beim Annähern an die St. Gallerstrasse zuerst nach rechts geschaut und den
herannahenden Sattelzug erblickt habe. Er habe sodann den
Fahrtrichtungsanzeiger nach rechts gestellt und nach links geschaut. Als er
von links keinen herannahenden Verkehr erkannte, sei er langsam in die St.
Gallerstrasse (Fahrtrichtung Flawil) eingebogen. Dabei habe er den von rechts
(auf seiner Fahrspur) herannahenden Opel Corsa von A.________ übersehen,
welche bereits mit dem Überholen des Sattelzuges begonnen hatte.

Trotz Bremsmanöver von A.________ sei es zur Kollision mit dem Fahrzeug des
Beschwerdeführers gekommen. In der Folge habe der Opel Corsa auch noch die
linke Vorderseite des Sattelschleppers touchiert. Der Opel sei dadurch ins
Schleudern geraten, habe sich um die eigene Achse gedreht und sei
schliesslich auf der rechten Strassenseite in Gegenfahrtrichtung mit
Totalschaden zum Stillstand gekommen.

2.2 Im angefochtenen Entscheid wird unter anderem erwogen, der Einzelrichter
habe sich bereits ausführlich mit den Einwendungen des Beschwerdeführers
befasst, wonach die Beweisunterlagen von der Polizei "gefälscht" (bzw. die
Mittelspurlinie der Gebertschwilerstrasse falsch skizziert und Bremsspuren
"verschoben") worden seien. Zum einen seien diese Vorbringen "für die
rechtliche Beurteilung" des Unfalles "nicht von Belang". Zum andern handle es
sich bei den fraglichen Skizzen im Polizeirapport nicht um exakte und
massstabsgetreue Darstellungen der Unfallsituation. Unbegründet sei auch der
Vorwurf, das Unfallgutachten des Sachverständigen des Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamtes St. Gallen sei unfachmännisch erstellt und gehe von
falschen tatsächlichen Voraussetzungen aus. Insbesondere habe das Gutachten
verschiedene Unfallablaufvarianten geprüft, darunter auch diejenige, die der
Sachdarstellung des Beschwerdeführers entspricht. Ein Unfallhergang, wie er
vom Beschwerdeführer dargelegt werde, könne gestützt auf die schlüssigen
Ausführungen des Sachverständigen ausgeschlossen werden.

2.3 Demgegenüber bringt der Beschwerdeführer vor, das Kantonsgericht habe die
"beanzeigten Sachverhalte nicht untersucht". Statt dessen sei "bloss eine
Stellungnahme der Vorinstanz eingeholt" worden. Das Verhalten der kantonalen
Behörden verletzte das rechtliche Gehör (Art. 29 Abs. 1 und 2 BV), das
Willkürverbot (Art. 9 BV) sowie die "bundesrechtlichen Vorschriften über die
Abgrenzung der sachlichen Zuständigkeit der Behörden" (im Sinne von Art. 84
Abs. 1 lit. d OG).

In der Beschwerde wird insbesondere geltend gemacht, die
Sachverhaltsdarstellung der rapportierenden Polizeibeamten sei falsch. Diese
hätten das Kollisionsfeld und die Bremsspuren am Unfallort "gefälscht".
Namentlich seien die "Mittellinie und Bremsspuren um ca. drei Meter zu
Ungunsten" des Beschwerdeführers "verschoben" worden. Gestützt darauf sei ein
fehlerhaftes Unfallgutachten erstellt worden. "Die groben Fälschungen"
müssten "als vorsätzlich" und ihre Akzeptanz durch die kantonalen Instanzen
"als möglicherweise strafbares Handeln beurteilt werden". Die kantonalen
Behörden hätten bei der Beweiswürdigung jegliche "Mitschuld oder eventuell
alleinige Schuld der zweiten Unfallbeteiligten" ausser Acht gelassen.

3.
3.1Im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde sucht das Bundesgericht
nicht von sich aus nach möglichen Fehlern des angefochtenen Entscheides. Als
Zulässigkeitsvoraussetzung der Beschwerde schreibt das Gesetz vielmehr vor,
dass in der Beschwerdeschrift darzulegen ist, welche verfassungsmässigen
Rechte und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt wurden
(Art. 90 Abs. 1 lit. b OG).

Der Beschwerdeführer macht zur Hauptsache geltend, die
Sachverhaltsfeststellungen der kantonalen Instanzen beruhten auf
wahrheitswidrigen Aussagen bzw. Fälschungen der rapportierenden
Polizeibeamten und damit auf einer unzutreffenden Beweiswürdigung. Bei der
Beurteilung von Fragen der Beweiswürdigung beschränkt sich das Bundesgericht
allerdings auf eine blosse Willkürprüfung (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41; 120 Ia
31 E. 2d S. 38, je mit Hinweisen)

Soweit der Beschwerdeführer beiläufig auch noch den Anspruch auf rechtliches
Gehör sowie "die im Strafrecht übliche Unschuldsvermutung" anruft, legt er
nicht dar, inwiefern im vorliegenden Fall Art. 29 Abs. 2 bzw. Art. 32 Abs. 1
BV verletzt worden seien. Ebenso wenig nennt er bundesrechtliche
Zuständigkeitsvorschriften (im Sinne von Art. 84 Abs. 1 lit. d OG), die
missachtet worden wären. Auf die entsprechenden Vorbringen kann mangels
ausreichender Substantiierung nicht eingetreten werden.

3.2 Wird mit staatsrechtlicher Beschwerde eine willkürliche Beweiswürdigung
gerügt, reicht es nicht aus, wenn der Beschwerdeführer zum Beweisergebnis
frei plädiert und darlegt, wie seiner Auffassung nach die vorhandenen Beweise
richtigerweise zu würdigen gewesen wären, wie er dies in einem
appellatorischen Verfahren mit freier Rechts- und Tatsachenüberprüfung tun
könnte. Er muss gemäss ständiger Rechtsprechung zu Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
vielmehr aufzeigen, inwiefern die angefochtene Beweiswürdigung die Verfassung
dadurch verletzen sollte, dass sie im Ergebnis offensichtlich unhaltbar wäre
(vgl. BGE 127 I 38 E. 3c S. 43; 125 I 71 E. 1c S. 76; 124 I 208 E. 4a in fine
S. 211, je mit Hinweisen). Willkür im Sinne von Art. 9 BV bzw. der bisherigen
Praxis zu Art. 4 aBV liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtes
vor, wenn der angefochtene kantonale Entscheid offensichtlich unhaltbar ist,
mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder
einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise
dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41; 125 II 10
E. 3a S. 15, 129 E. 5b S. 134; 124 I 208 E. 4a S. 211; 124 IV 86 E. 2a S. 88,
je mit Hinweisen).

4.
4.1Der Beschwerdeführer macht geltend, die rapportierenden Polizeibeamten
hätten das Kollisionsfeld und die Bremsspuren am Unfallort "gefälscht". Die
Bremsspuren seien "um ca. drei Meter" (in der Spurlängsrichtung) bzw. um "0,5
bis 0,6 m" (quer zur Spur) "verschoben" worden. Zur Begründung des
Fälschungsvorwurfes verweist der Beschwerdeführer auf vier Dokumente, nämlich
auf ein Polizeiphoto (aus dem Unfallrapport), auf eine Kopie des
Situationsplans (erstellt am 30. März 2000 vom rapportierenden
Polizeiwachtmeister) mit handschriftlichen Eintragungen, auf das
Unfallrapport-Skizzenblatt sowie auf eine Kopie der Splitterfeldskizze
(ebenfalls mit handschriftlichen Eintragungen).

Der Beschwerdeführer legt nicht dar, inwiefern sich aus den eingereichten
Unterlagen der Vorwurf einer Spurenfälschung bzw. einer willkürlichen
Beweiswürdigung ableiten liesse. Insbesondere erwähnt er nicht, worauf sich
seine Behauptung stützt, die Bremsspuren seien "verschoben" worden. Der
Hinweis, wonach der Situationsplan bei der Einmündung der
Gebertschwilerstrasse "eine gebogene Mittellinie" zeige, während das
Polizeiphoto "eine gerade Mittellinie" dokumentiere, begründet keinen
Fälschungsvorwurf. Der Beschwerdeführer erläutert namentlich nicht, inwiefern
sich aus dem beanstandeten Unterschied (gebogene oder gerade Mittellinie)
entscheiderhebliche Konsequenzen ergäben, namentlich für die Frage der
tatsächlichen Fahrzeugstandorte, der Bremswege oder der Kollisionsstellen.

Mit seinen handschriftlichen Eintragungen auf der Splitterfeldskizze versucht
er offenbar zu suggerieren, eine "gerade" Mittellinie führe zu einem um 2,8 m
"verschobenen" Standort seines Fahrzeuges beim Einmünden in die St.
Gallerstrasse. Dass die kantonalen Instanzen dieser Argumentation nicht
gefolgt sind, lässt sich mit guten Gründen vertreten und erscheint nicht
willkürlich. Der tatsächliche Standort des Beschwerdeführers beim Einmünden
von der Gebertschwilerstrasse in die vortrittsberechtigte St. Gallerstrasse
hing nicht (allein) vom Verlauf der Mittelspur ab. Er war vielmehr aufgrund
der Gesamtheit der objektiven Unfallspuren (insbesondere Splitterfeld und
Spurverläufe) zu rekonstruieren. Der vom Beschwerdeführer (auf dem
Situationsplan bei den Bremsspuren) handschriftlich angebrachte Vermerk
"gefälscht!" begründet ebenfalls keinen objektiven Fälschungsverdacht. Die
Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung erweist sich nach dem Gesagten als
unbegründet, soweit sie überhaupt ausreichend substantiiert erscheint.

4.2 Der Beschwerdeführer bestreitet sodann den Beweiswert des gerichtlichen
Unfallgutachtens vom 3. Mai 2000. Statt dessen beruft er sich auf eine von
ihm eingereichte Privatexpertise. Wie oben dargelegt, ist der vom
Beschwerdeführer erhobene Fälschungsvorwurf gegenüber den rapportierenden
Polizeibeamten in keiner Weise erstellt. Seine Vorbringen, wonach das
technische Unfallgutachten sich auf "grobe Fälschungen" bzw. Falschaussagen
der rapportierenden Polizeibeamten stütze, sind daher unbehelflich. Dass der
Sachverständige nicht ausschliesslich auf die Parteidarstellung des
Beschwerdeführers abstellte, sondern auf den polizeilichen Rapport (mit
Photodokumentation), die übrigen Ermittlungsakten (inklusive Zeugen- und
Parteiaussagen) sowie auf einen Augenschein am Unfallort, ist nicht zu
beanstanden.

Gemäss den vorliegenden Akten steht der vom Sachverständigen rekonstruierte
Ort der Kollision zwischen den beiden Personenwagen auch nicht im Widerspruch
zu den Aussagen von A.________ und des Lenkers des Sattelschleppers. Die von
den kantonalen Instanzen aus dem detaillierten Unfallgutachten gezogenen
tatsächlichen Folgerungen erscheinen sachlich vertretbar und willkürfrei.

4.3 Was der Beschwerdeführer darüber hinaus noch vorbringt, ist
appellatorischer Natur (vgl. oben, E. 3.2) und nicht geeignet, die
tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanzen als offensichtlich
unhaltbar erscheinen zu lassen.

5.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerde als unbegründet abzuweisen
ist, soweit darauf eingetreten werden kann.

Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend, sind die Gerichtskosten dem
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG).

Die Voraussetzungen für eine vom Beschwerdeführer beantragte "ergänzende
Eingabe" sind nicht erfüllt (vgl. Art. 93 Abs. 2 - 3 OG), zumal die
kantonalen Behörden keine Vernehmlassungen eingereicht haben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie eingetreten
werden kann.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Kantonsgericht, Strafkammer, des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. Februar 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: