Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.614/2001
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1P.614/2001/sta

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                      16. Oktober 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Nay, Bundesrichter Aeschlimann und Gerichtsschreiber
Härri.

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                         In Sachen

M.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Daniel Christe, Bahnstrasse 5, Postfach 403, Schwerzenbach,

                           gegen

Bezirksanwaltschaft  Z ü r i c h,
Bezirksgericht  Z ü r i c h, Haftrichter,

                         betreffend
             Art. 9 und 10 BV (Haftentlassung)
(staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Haft-
richters des Bezirksgerichts Zürich vom 17. September 2001),

hat sich ergeben:

     A.- M.________ wurde 1981 geboren und ist türkischer
Staatsangehöriger. Er steht unter dem dringenden Verdacht,
in der Nacht des 30. Juni 2001 zusammen mit Y.________ und
C.________ im "Goa-Shop" in Zürich einen Raubüberfall began-
gen zu haben. Dabei habe einer der drei maskierten Täter ei-
nem Touristen, der berechtigterweise in den Räumen des "Goa-
Shop" genächtigt habe, mit einem messerähnlichen Gegenstand
Schnittwunden an der Hand zugefügt. Ein anderer habe mit ei-
nem Spaten auf den Touristen eingeschlagen, wobei sich die-
ser verschiedene Rissquetschwunden zugezogen habe. Die Täter
hätten Deliktsgut im Wert von mindestens Fr. 4'500.-- mit
sich genommen. M.________ wird ausserdem vorgeworfen, zwi-
schen ca. 1997 oder 1998 bis zu seiner Festnahme am 26. Juli
2001 gelegentlich Marihuana konsumiert zu haben.

     B.- M.________ wurde am 27. Juli 2001 in Untersuchungs-
haft versetzt.

        Am 12. September 2001 ersuchte er um Haftentlas-
sung.

        Mit Verfügung vom 17. September 2001 wies der Haft-
richter des Bezirksgerichts Zürich das Gesuch ab.

     C.- M.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit
dem Antrag, die Verfügung des Haftrichters aufzuheben; die-
ser sei anzuweisen, die Entlassung des Beschwerdeführers aus
der Untersuchungshaft anzuordnen.

     D.- Der Haftrichter hat auf eine Vernehmlassung ver-
zichtet.

        Die Bezirksanwaltschaft hat sich vernehmen lassen
mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.

     E.- M.________ hat auf Bemerkungen zur Vernehmlassung
der Bezirksanwaltschaft verzichtet.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde ist grundsätzlich
kassatorischer Natur, das heisst es kann mit ihr nur die
Aufhebung des angefochtenen Entscheids, nicht aber der Er-
lass positiver Anordnungen durch das Bundesgericht verlangt
werden. Eine Ausnahme gilt dann, wenn die von der Verfassung
geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des kantonalen
Entscheids hergestellt wird, sondern dafür eine positive An-
ordnung nötig ist. Das trifft hinsichtlich einer nicht oder
nicht mehr gerechtfertigten Untersuchungshaft zu (BGE 124 I
327 E. 4 mit Hinweisen). Auf die Beschwerde ist deshalb ein-
zutreten.

     2.- a) Der Beschwerdeführer ist grundsätzlich gestän-
dig. Der dringende Tatverdacht ist unstreitig gegeben.

        Der Haftrichter verneint Kollusions- und Flucht-
gefahr. Er bejaht dagegen den Haftgrund der Wiederholungs-
gefahr.

        Der Beschwerdeführer rügt, der Haftrichter habe da-
mit sein Recht auf persönliche Freiheit nach Art. 10 Abs. 2
BV und das Willkürverbot nach Art. 9 BV verletzt.

        b) Nach Art. 10 Abs. 2 BV hat jeder Mensch das
Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf Bewegungs-
freiheit.

        Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf
das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen
der Ablehnung eines Haftentlassungsgesuches erhoben werden,
prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Ein-
griffs die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts
frei (BGE 123 I 268 E. 2d mit Hinweis). Die Willkürrüge ist
daher obsolet.

        c) Gemäss § 58 der Strafprozessordnung des Kantons
Zürich (im Folgenden: StPO) darf Untersuchungshaft unter an-
derem angeordnet werden, wenn der Angeschuldigte eines Ver-
gehens oder Verbrechens dringend verdächtigt wird und auf-
grund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden
muss, er werde, nachdem er bereits zahlreiche Verbrechen
oder erhebliche Vergehen verübt hat, erneut solche Strafta-
ten begehen (Abs. 1 Ziff. 3).

        aa) Sinn und Zweck der Anordnung von Haft wegen
Wiederholungsgefahr nach § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO ist die
Verhütung von Verbrechen; die Haft ist somit überwiegend
Präventivhaft.

        Da Präventivhaft einen schwerwiegenden Eingriff in
das Recht der persönlichen Freiheit darstellt, muss sie auf
einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öf-
fentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein. Die
Anordnung von Untersuchungshaft wegen Fortsetzungsgefahr ist

verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr
ungünstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte von
schwerer Natur sind. Die rein hypothetische Möglichkeit der
Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass
nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen
nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen (BGE 125 I 60
E. 3a; 124 I 208 E. 5; 123 I 268 E. 2c, je mit Hinweisen).

        bb) Andreas Donatsch (Kommentar zur Strafprozess-
ordnung des Kantons Zürich, Zürich 2000) führt zu § 58
Abs. 1 Ziff. 3 StPO aus, bei den (vermutlich) begangenen
Straftaten müsse es sich um schwere Delikte handeln, nicht
um Bagatelldelikte oder Fahrlässigkeitsdelikte (N. 48). Vo-
rausgesetzt werde, dass der Angeschuldigte Verbrechen oder
erhebliche Vergehen verübt habe. Dazu gehörten strafbare
Handlungen, aufgrund welcher eine Verurteilung erfolgt sei.
Mit dem Wortlaut zu vereinbaren sei jedoch auch die Ausle-
gung, wonach Delikte als verübt gelten könnten, welche Ge-
genstand eines noch hängigen Strafverfahrens bilden (N. 49).
Die bereits begangenen Verbrechen oder erheblichen Vergehen
müssten zahlreich sein. Daraus ergebe sich, dass mindestens
mehr als zwei schwere Delikte begangen worden sein müssten.
Die Mindestzahl könne nicht in allgemeiner Weise festgelegt
werden. Sie hänge unter anderem von der Schwere der begange-
nen Straftaten ab. Da auf die Zahl der begangenen Delikte
abgestellt werde, sei die Zahl der Vorstrafen nur beschränkt
aussagekräftig (N. 50). Die zahlreichen verübten bzw. mögli-
cherweise begangenen Straftaten und die Delikte, welche der
Angeschuldigte im Falle eines Verzichts auf Haft wahrschein-
lich begehen würde, müssten gleichartig sein. Dies könne aus
der in § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO verwendeten Formulierung
"erneut solche Straftaten" gefolgert werden. Daraus müsse
geschlossen werden, dass es sich bei den befürchteten Straf-
taten - wie bei den Vordelikten - um schwere Delikte handeln
müsse (N. 51).

        d) Der Beschwerdeführer beging zwischen März und
Juli 1997, teilweise zusammen mit Y.________ und C.________,
vier Raubüberfälle sowie zahlreiche Diebstähle, insbesondere
aus parkierten Fahrzeugen. Die Jugendanwaltschaft Zürich
verurteilte ihn deshalb am 20. Februar 1998 wegen mehrfachen
Raubes, mehrfachen Versuchs des Raubes, mehrfachen Dieb-
stahls, Versuchs des Diebstahls und mehrfacher Sachbeschädi-
gung zu 14 Tagen Einschliessung, bedingt bei einer Probezeit
von 2 Jahren. Im September 1999 schlug der Beschwerdeführer
zusammen mit C.________ auf einen Menschen ein. Dabei behän-
digte der Beschwerdeführer einen Metallstab und schlug damit
gegen den Hinterkopf des Opfers, welches sich eine Riss-
quetschwunde zuzog. Die Bezirksanwaltschaft Affoltern verur-
teilte den Beschwerdeführer deshalb am 24. Januar 2000 wegen
einfacher Körperverletzung zu 2 Monaten Gefängnis, bedingt
bei einer Probezeit von 3 Jahren.

        Raub nach Art. 140 Ziff. 1 StGB und Diebstahl nach
Art. 139 Ziff. 1 StGB stellen Verbrechen dar, Sachbeschädi-
gung nach Art. 144 Abs. 1 StGB und einfache Körperverletzung
nach Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 StGB Vergehen. Der Beschwerde-
führer hat somit bereits zahlreiche Verbrechen oder erhebli-
che Vergehen im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO verübt.
Für die Prognose wirkt sich dabei insbesondere ungünstig
aus, dass er die Vortaten teilweise mit den gleichen Tätern
begangen hat, mit denen er auch den neuen, grundsätzlich
eingestandenen Raubüberfall auf den "Goa-Shop" ausgeführt
hat.

        Der Beschwerdeführer hat gemäss dem heutigen Stand
der Untersuchung die neue Tat innerhalb der von der Bezirks-
anwaltschaft Affoltern angesetzten Probezeit von 3 Jahren
begangen. Der drohende Vollzug der Vorstrafe von 2 Monaten
Gefängnis hat ihn also nicht von einem einschlägigen Rück-
fall abgehalten.

        Wie der Haftrichter zutreffend bemerkt, handelten
die Täter bei der neu in Frage stehenden Tat recht skrupel-
los, indem zwei von ihnen dem Opfer mit einem messerartigen
Gegenstand bzw. einem Spaten Verletzungen zugefügt, während
der Dritte die Eingangstüre gesichert haben soll. Welchen
Tatbeitrag dabei die verschiedenen Angeschuldigten im Ein-
zelnen geleistet haben sollen, wird der Sachrichter noch zu
klären haben.

        Der Beschwerdeführer lebt in persönlich wenig ge-
festigten Verhältnissen. Vor seiner Verhaftung hatte er we-
der eine Arbeitsstelle noch eine eigene Wohnung; zudem hatte
er kein Geld mehr.

        Angesichts dieser Umstände ist es verfassungsrecht-
lich nicht zu beanstanden, wenn der Haftrichter die Wieder-
holungsgefahr nach § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO bejaht hat. Es
besteht nicht nur die rein hypothetische Möglichkeit der Be-
gehung neuer Straftaten. Vielmehr sind ernsthafte Anhalts-
punkte dafür gegeben, dass der Beschwerdeführer bei einer
Freilassung erneut Delikte, wie er sie bereits mehrfach be-
gangen hat, verüben könnte. Im Vordergrund steht dabei ins-
besondere die Gefahr neuer Raubtaten, also schwerer Delikte.

        Dass mildere Ersatzmassnahmen anstelle der Untersu-
chungshaft zur Behebung der Wiederholungsgefahr in Frage kä-
men, macht der Beschwerdeführer nicht geltend und ist nicht
ersichtlich.

     3.- Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen.

        Von der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers kann
ausgegangen werden. Da die Untersuchungshaft einen schweren
Eingriff in die persönliche Freiheit darstellt, konnte er

sich zur Beschwerde veranlasst sehen. Das Gesuch um unent-
geltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird deshalb gut-
geheissen. Es werden keine Kosten erhoben und dem Vertreter
des Beschwerdeführers wird eine Entschädigung ausgerichtet.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

     2.- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Ver-
beiständung wird gutgeheissen.

     3.- Es werden keine Kosten erhoben.

     4.- Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt
Daniel Christe, wird aus der Bundesgerichtskasse eine Ent-
schädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

     5.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der
Bezirksanwaltschaft und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrich-
ter, schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 16. Oktober 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: