Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.613/2001
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1P.613/2001/sta

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                      16. Oktober 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Nay, Bundesrichter Aeschlimann und Gerichtsschreiber
Härri.

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                         In Sachen

Y.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Werner Greiner, Badenerstrasse 129, Zürich,

                           gegen

Bezirksanwaltschaft  Z ü r i c h,
Bezirksgericht  Z ü r i c h, Haftrichter,

                         betreffend
                       Haftentlassung
(staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Haft-
richters des Bezirksgerichts Zürich vom 17. September 2001),

hat sich ergeben:

     A.- Y.________ wurde 1980 geboren und ist türkischer
Staatsangehöriger. Er steht unter dem dringenden Verdacht,
in der Nacht des 30. Juni 2001 zusammen mit M.________ und
C.________ im "Goa-Shop" in Zürich einen Raubüberfall began-
gen zu haben. Dabei habe einer der drei maskierten Täter ei-
nem Touristen, der berechtigterweise in den Räumen des "Goa-
Shop" genächtigt habe, mit einem messerähnlichen Gegenstand
Schnittwunden an der Hand zugefügt. Ein anderer habe mit ei-
nem Spaten auf den Touristen eingeschlagen, wobei sich die-
ser verschiedene Rissquetschwunden zugezogen habe. Die Täter
hätten Deliktsgut im Wert von mindestens Fr. 4'500.-- mit
sich genommen. Y.________ wird ausserdem vorgeworfen, zwi-
schen April 2001 und seiner Festnahme am 30. Juni 2001
Marihuana und Haschisch konsumiert zu haben.

     B.- Y.________ wurde am 2. Juli 2001 in Untersuchungs-
haft versetzt.

        Am 12. September 2001 ersuchte er um Haftentlas-
sung.

        Mit Verfügung vom 17. September 2001 wies der Haft-
richter des Bezirksgerichts Zürich das Gesuch ab.

     C.- Y.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit
dem Antrag, die Verfügung des Haftrichters aufzuheben; die
zürcherischen Strafverfolgungsbehörden seien anzuweisen, den
Beschwerdeführer unverzüglich aus der Haft zu entlassen.

     D.- Der Haftrichter hat auf eine Vernehmlassung ver-
zichtet.

        Die Bezirksanwaltschaft hat sich vernehmen lassen
mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.

     E.- Y.________ hat zur Vernehmlassung der Bezirks-
anwaltschaft Bemerkungen eingereicht.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde ist grundsätzlich
kassatorischer Natur, das heisst es kann mit ihr nur die
Aufhebung des angefochtenen Entscheids, nicht aber der Er-
lass positiver Anordnungen durch das Bundesgericht verlangt
werden. Eine Ausnahme gilt dann, wenn die von der Verfassung
geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des kantonalen
Entscheids hergestellt wird, sondern dafür eine positive An-
ordnung nötig ist. Das trifft hinsichtlich einer nicht oder
nicht mehr gerechtfertigten Untersuchungshaft zu (BGE 124
I 327 E. 4 mit Hinweisen). Auf die Beschwerde ist deshalb
einzutreten, soweit der Beschwerdeführer beantragt, die
zürcherischen Strafverfolgungsbehörden seien anzuweisen, ihn
aus der Haft zu entlassen.

     2.- a) Der Beschwerdeführer ist grundsätzlich gestän-
dig. Der dringende Tatverdacht ist unstreitig gegeben.

        Der Haftrichter verneint Kollusions- und Fluchtge-
fahr. Er bejaht dagegen den Haftgrund der Wiederholungsge-
fahr.

        Der Beschwerdeführer rügt, der Haftrichter habe da-
mit sein Recht auf persönliche Freiheit nach Art. 10 Abs. 2
BV verletzt.

        b) Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Frei-
heit, insbesondere auf Bewegungsfreiheit (Art. 10 Abs. 2
BV).

        Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf
das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen
der Ablehnung eines Haftentlassungsgesuches erhoben werden,
prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Ein-
griffs die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts
frei (BGE 123 I 268 E. 2d mit Hinweis).

        c) Gemäss § 58 der Strafprozessordnung des Kantons
Zürich (im Folgenden: StPO) darf Untersuchungshaft unter an-
derem angeordnet werden, wenn der Angeschuldigte eines Ver-
gehens oder Verbrechens dringend verdächtigt wird und auf-
grund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden
muss, er werde, nachdem er bereits zahlreiche Verbrechen
oder erhebliche Vergehen verübt hat, erneut solche Strafta-
ten begehen (Abs. 1 Ziff. 3).

        aa) Sinn und Zweck der Anordnung von Haft wegen
Wiederholungsgefahr nach § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO ist die
Verhütung von Verbrechen; die Haft ist somit überwiegend
Präventivhaft.

        Da Präventivhaft einen schwerwiegenden Eingriff in
das Recht der persönlichen Freiheit darstellt, muss sie auf
einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öf-
fentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein. Die
Anordnung von Untersuchungshaft wegen Fortsetzungsgefahr ist
verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr

ungünstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte von
schwerer Natur sind. Die rein hypothetische Möglichkeit der
Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass
nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen
nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen (BGE 125 I 60
E. 3a; 124 I 208 E. 5; 123 I 268 E. 2c, je mit Hinweisen).

        bb) Andreas Donatsch (Kommentar zur Strafprozess-
ordnung des Kantons Zürich, Zürich 2000) führt zu § 58
Abs. 1 Ziff. 3 StPO aus, bei den (vermutlich) begangenen
Straftaten müsse es sich um schwere Delikte handeln, nicht
um Bagatelldelikte oder Fahrlässigkeitsdelikte (N. 48). Vo-
rausgesetzt werde, dass der Angeschuldigte Verbrechen oder
erhebliche Vergehen verübt habe. Dazu gehörten strafbare
Handlungen, aufgrund welcher eine Verurteilung erfolgt sei.
Mit dem Wortlaut zu vereinbaren sei jedoch auch die Ausle-
gung, wonach Delikte als verübt gelten könnten, welche Ge-
genstand eines noch hängigen Strafverfahrens bilden (N. 49).
Die bereits begangenen Verbrechen oder erheblichen Vergehen
müssten zahlreich sein. Daraus ergebe sich, dass mindestens
mehr als zwei schwere Delikte begangen worden sein müssten.
Die Mindestzahl könne nicht in allgemeiner Weise festgelegt
werden. Sie hänge unter anderem von der Schwere der began-
genen Straftaten ab. Da auf die Zahl der begangenen Delikte
abgestellt werde, sei die Zahl der Vorstrafen nur beschränkt
aussagekräftig (N. 50). Die zahlreichen verübten bzw. mögli-
cherweise begangenen Straftaten und die Delikte, welche der
Angeschuldigte im Falle eines Verzichts auf Haft wahrschein-
lich begehen würde, müssten gleichartig sein. Dies könne aus
der in § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO verwendeten Formulierung
"erneut solche Straftaten" gefolgert werden. Daraus müsse
geschlossen werden, dass es sich bei den befürchteten Straf-
taten - wie bei den Vordelikten - um schwere Delikte handeln
müsse (N. 51).

        d) Der Beschwerdeführer hat im März und Juni 1997,
teilweise zusammen mit M.________ und C.________, insgesamt
5 Raubüberfälle begangen. Ausserdem trug er im Juni 1997 ei-
ne Schreckschusspistole mit 4 Patronen im Magazin auf sich.
Das Jugendgericht Zürich sprach ihn deshalb am 28. Mai 1998
schuldig des mehrfachen Raubes, teilweise begangen als Mit-
glied einer Bande, des mehrfachen unvollendeten Versuchs des
Raubes sowie der Übertretung der kantonalen Waffenverordnung
und wies ihn in ein Erziehungsheim für Jugendliche ein. Im
Februar 2000 handelte der Beschwerdeführer mit Marihuana.
Zwischen einem nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt und
April 2001 konsumierte er in unregelmässigen Abständen Mari-
huana. Am 1. Mai 2000 nahm der Beschwerdeführer überdies an
der unbewilligten Nachdemonstration zur offiziellen 1. Mai-
Demonstration in Zürich teil. Dabei warf er unter anderem
einen Backstein in Richtung von Polizeibeamten. Die Bezirks-
anwaltschaft Zürich verurteilte ihn deshalb am 24. April
2001 wegen mehrfachen Vergehens gegen das Betäubungsmittel-
gesetz, mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes
sowie Landfriedensbruchs zu 3 Monaten Gefängnis, bedingt bei
einer Probezeit von 2 Jahren.

        Raub stellt nach Art. 140 Ziff. 1 StGB ein Ver-
brechen dar. Bei der Widerhandlung gegen das Betäubungsmit-
telgesetz nach Art. 19 Ziff. 1 Satz 1 BetmG und bei Land-
friedensbruch nach Art. 260 StGB handelt es sich um Verge-
hen. Der Beschwerdeführer hat somit bereits zahlreiche Ver-
brechen oder erhebliche Vergehen im Sinne von § 58 Abs. 1
Ziff. 3 StPO verübt. Für die Prognose wirkt sich dabei ins-
besondere ungünstig aus, dass er die Raubtaten teilweise mit
den gleichen Tätern begangen hat, mit denen er auch den neu-
en, grundsätzlich eingestandenen Raubüberfall auf den "Goa-
Shop" ausgeführt hat.

        Der Beschwerdeführer hat gemäss dem heutigen Stand
der Untersuchung die neue Tat vom 30. Juni 2001 nur gut zwei
Monate nach der Verurteilung durch die Bezirksanwaltschaft
Zürich am 24. April 2001 begangen. Zudem hat er innerhalb
der von der Bezirksanwaltschaft angesetzten Probezeit von 2
Jahren wiederum delinquiert. Weder der vergleichsweise kurz
zuvor erfolgte Schuldspruch noch die Probezeit haben ihn al-
so von einem einschlägigen Rückfall abgehalten.

        Wie der Haftrichter zutreffend bemerkt, handelten
die Täter bei der nun in Frage stehenden Tat recht skrupel-
los, indem zwei von ihnen dem Opfer mit einem messerartigen
Gegenstand bzw. einem Spaten Verletzungen zugefügt, während
der Dritte die Eingangstüre gesichert haben soll. Welchen
Tatbeitrag dabei die verschiedenen Angeschuldigten im Ein-
zelnen geleistet haben sollen, wird der Sachrichter noch zu
klären haben.

        Der Beschwerdeführer lebt finanziell in wenig ge-
festigten Verhältnissen. Vor seiner Verhaftung arbeitete er
nach seinen Angaben zwar bei Verwandten, bezog dabei aber
keinen geregelten Lohn.

        Angesichts dieser Umstände ist es verfassungsrecht-
lich nicht zu beanstanden, wenn der Haftrichter die Wieder-
holungsgefahr nach § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO bejaht hat. Es
besteht nicht nur die rein hypothetische Möglichkeit der Be-
gehung neuer Straftaten. Vielmehr sind ernsthafte Anhalts-
punkte dafür gegeben, dass der Beschwerdeführer bei einer
Freilassung erneut Delikte, wie er sie bereits mehrfach be-
gangen hat, verüben könnte. Im Vordergrund steht dabei ins-
besondere die Gefahr weiterer Raubtaten, also schwerer De-
likte.

        Dass mildere Ersatzmassnahmen anstelle der Untersu-
chungshaft zur Behebung der Wiederholungsgefahr in Frage kä-
men, macht der Beschwerdeführer nicht geltend und ist nicht
ersichtlich.

     3.- Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen.

        Von der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers kann
ausgegangen werden. Da die Untersuchungshaft einen schweren
Eingriff in die persönliche Freiheit darstellt, konnte er
sich zur Beschwerde veranlasst sehen. Das Gesuch um unent-
geltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird deshalb gut-
geheissen. Es werden keine Kosten erhoben und dem Vertreter
des Beschwerdeführers wird eine Entschädigung ausgerichtet.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

     2.- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Ver-
beiständung wird gutgeheissen.

     3.- Es werden keine Kosten erhoben.

     4.- Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt
Werner Greiner, wird aus der Bundesgerichtskasse eine Ent-
schädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

     5.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der
Bezirksanwaltschaft und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrich-
ter, schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 16. Oktober 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: